EuGRZ 2008 |
29. Dezember 2008
|
35. Jg. Heft 22-23
|
Informatorische Zusammenfassung
Markus Kotzur, Leipzig, kommentiert Prüfungsmaßstäbe und institutionelles Zusammenwirken bei der Entwicklung eines «kooperativen Grundrechtsschutzes in der Völkergemeinschaft»
Zur Rechtsmittelentscheidung des EuGH (Große Kammer) in den verb. Rsn. Kadi u.a. schreibt der Autor:
«Es bleiben Rechtsschutzlücken, die es – am Ideal einer "international rule of law" orientiert – auszufüllen anstatt das Primat des Rechts einem permanenten Ausnahmezustand unterzuordnen gilt. Angesichts solcher Lücken wird die kooperative Mitverantwortung nationaler Verfassungsgerichte, regionaler Menschenrechtsgerichtshöfe und nicht zuletzt des EuGH evident. Gerade Europa steht dank seiner großen, aus Großbritannien stammenden "rule of law-Tradition" – von der Magna Charta bis hin zur britisch-amerikanischen Brücke in Th. Paines Schrift "Common Sense (1776) oder vor allem Diceys Verfassungsrecht (1885) – in Verantwortung zur Mitgestaltung und sollte seinen durchaus selbstbewussten Beitrag leisten. Das dualistische Kooperationsmodell, das das Bundesverfassungsgericht in seiner Solange-Rechtsprechung entwickelt und das der EGMR mit Blick auf den EuGH übernommen hat, taugt auch bezogen auf das Verhältnis von EuGH und internationaler Gemeinschaft, um Mitgestaltung möglich zu machen. Es mag Kompetenzfragen nicht mit letzter Eindeutigkeit beantworten können, für die vorrangige Verbindlichkeit beanspruchende Rechtsordnung eine Provokation bleiben, ermöglicht letztlich jedoch sinnvoll mehrebenendifferenzierten Grund- bzw. Menschenrechtsschutz. (…)
Zu Recht hat sich das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen jüngeren Entscheidungen einer hybriden Sicherheitsgesetzgebung gleichermaßen rechtsstaatsbewusst wie grundrechtssensibel entgegengestellt. Die Hilfestellung seitens des EuGH ist mehr als willkommen, zumal nationales Polizei- und Sicherheitsrecht unter zunehmenden Einfluss des Unionsrechts geraten. Der Datenaustausch, das Schengener Informationssystem (SIS), das im Aufbau begriffene Visa-Informationssystem (VIS), operative Polizeimaßnahmen oder der Europäische Haftbefehl mögen als Beispiele genügen.
Nationale Verfassungsgerichte und EuGH stehen in mitgestaltender Verantwortung für die Garantie und die Fortentwicklung der "rule of law". Sie sollten der Fehlvorstellung, dass der Kampf gegen den Terror durch pauschale Grundrechtssuspendierungen erleichtert werde, entschlossen entgegenwirken. Der Versuchung, die Rechtfertigungskategorie eines permanenten Ausnahmezustands anzuführen, ist der EuGH nicht erlegen. Für die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Union, die ihre Existenz zuvörderst der Integrationsleistung des Rechts verdanken, wäre eine solche Verfassungstheorie des Systemversagens Selbstaufgabe. Souveränes Entscheiden-Können, das die Gemeinschaft mit ihren Mitgliedstaaten teilt, misst sich nicht am Ausnahmezustand, sondern an der Aufrechterhaltung des Rechtszustandes – und zwar instrumental in den Dienst des Menschen gestellt.» (Seite 673)
Rüdiger Zuck, Stuttgart, plädiert für die «Verfassungsbeschwerdefähigkeit ausländischer juristischer Personen»
«Ausländische juristische Personen sind solche mit effektivem Sitz im Ausland. Damit wird aber nur eine formelle Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen juristischen Personen erreicht. Für die Beantwortung der Frage, ob ausländische juristische Personen im Verfassungsbeschwerdeverfahren vor dem BVerfG beschwerdefähig sind, muss auf eine allgemeine Schutztheorie zurückgegriffen werden. Wer in der Bundesrepublik für die Teilnahme am Wirtschaftsverkehr Pflichten hat, dem müssen grundsätzlich auch entsprechende Rechte zur Verfügung stehen. Gesichert ist insoweit bislang allerdings nur, dass sich ausländische juristische Personen auf die Verfahrensgrundrechte des Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG berufen können. Das muss man um den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ergänzen. Entgegen der Kammerrechtsprechung des BVerfG ist der ausländischen juristischen Person auch der Rückgriff auf ein prozessuales Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) zuzubilligen. Hat die ausländische juristische Person ihren Sitz im EU-Ausland, gilt, Art. 19 Abs. 3 GG überlagernd, das Diskriminierungsverbot des Art. 12 Abs. 1 EGV. Da das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) als Deutschen-Grundrecht unanwendbar ist, greifen auf jeden Fall zugunsten der ausländischen juristischen Person die Gewährleistungen des Art. 2 Abs. 1 GG. Insgesamt ist es geboten, die entstehungsgeschichtlich bedingte Auslegung und Anwendung des Art. 19 Abs. 3 GG zugunsten einer die moderne Wirtschaftsentwicklung berücksichtigenden Art und Weise zu modifizieren.» (Seite 680)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bestätigt, dass Staaten nicht generell zur Rückgabe von Eigentum verpflichtet sind, das vor Ratifizierung der EMRK an sie übergangen ist / Preußische Treuhand ./. Polen
Polen ist für den Verlust des Eigentums deutscher Staatsangehöriger bzw. polnischer Staatsangehöriger deutscher Volkszugehörigkeit während und am Ende des Zweiten Weltkriegs auf seinem heutigen Staatsgebiet unter der EMRK nicht verantwortlich. Die Bf. sind 23 Personen, die sich in der Gesellschaft "Preußische Treuhand GmbH & Co. KG a.A." zusammengeschlossen haben. Sie rügen den Entzug ihres Eigentums bzw. des Eigentums ihrer Eltern als Verletzung von Art. 1 des 1. ZP-EMRK und räumen ein, den innerstaatlichen Rechtsweg nicht beschritten zu haben, weil der polnische Staat für ihre Ansprüche auf Rehabilitierung und Restitution keinerlei rechtliche Grundlage biete.
In dem Urteil heißt es u.a.: «Der Gerichthof stellt als historische Tatsache fest, dass die nationalsozialistischen deutschen Behörden an mehreren Tagen im Januar und Februar 1945 in Zusammenhang mit der sowjetischen Offensive die Evakuierung deutscher Zivilisten befahlen, die ihre Wohnungen in Ostpommern, Ostbrandenburg, Schlesien, Großpolen und Ostpreußen – ebenso wie die betroffenen Bf. oder deren Angehörige – in den Monaten von Januar bis März und sogar noch im April 1945 verlassen und sich auf den Weg in die westlichen Landesteile des Deutschen Reichs machen mussten (…). Diese Bf. tragen auch selbst vor, dass sie oder ihre Familien wegen des drohenden Heranrückens der siegreichen Roten Armee und aus Furcht geflohen seien (…). Es kann also nicht gesagt werden, dass der polnische Staat, der seinerzeit weder de iure noch de facto die Kontrolle über die damals noch deutschen Gebiete hatte, die nach und nach von den sowjetischen Truppen eingenommen wurden, und dem die Verwaltung der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie erst nach dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 übertragen wurde (…), für die behaupteten Gewalthandlungen und Vertreibungen, wie sie von den obengenannten Bf. vorgetragen werden, verantwortlich gemacht werden kann. Auch die Umstände, unter denen im damaligen Königsberg in Ostpreußen, dem heutigen Kaliningrad in Russland, die Familie von Herrn Nikowski verschwand und ihr Eigentum verloren ging, können nicht dem polnischen Staat zugerechnet werden, denn dieses Gebiet befand sich weder zur maßgeblichen Zeit noch irgendwann danach unter polnischer Verwaltung, sondern wurde von der ehemaligen Sowjetunion erobert und dann annektiert und gehört heute zur Russischen Föderation. (…)
Der Gerichtshof möchte darauf hinweisen, dass Art. 1 des 1. ZP-EMRK nicht dahingehend ausgelegt werden kann, als verpflichte er die Vertragsstaaten generell zur Rückgabe von Eigentum, das an sie übergegangen ist, bevor sie die Konvention ratifiziert haben. Ebenso wenig beschränkt diese Bestimmung die Freiheit der Vertragsstaaten bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Rechtsvorschriften über die Rehabilitierung oder Restitution von Eigentum. Die Staaten können über die Bedingungen, unter denen sie zu einer Rückübertragung von Eigentumsrechten an frühere Eigentümer bereit sind, frei entscheiden, und die Konvention verpflichtet sie nicht ausdrücklich zur Wiedergutmachung von Unrecht oder Schäden, die entstanden sind, bevor sie die Konvention ratifiziert haben.» (Seite 685)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erachtet für die Gewährung von Unterhaltsstipendien an Studierende aus anderen EU-Staaten eine vorherige Mindestaufenthaltsdauer von fünf Jahren (hier: in den Niederlanden) für angemessen / Rs. Förster
«Da das Aufenthaltskriterium in der Verwaltungsvorschrift vom 9. Mai 2005 den Betroffenen ermöglicht, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen, kann es durch seine bloße Existenz ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz im Rahmen der Vergabe von Unterhaltsstipendien an Studierende gewährleisten.
Somit ist festzustellen, dass das Erfordernis eines fünfjährigen Aufenthalts, wie es in der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung vorgesehen ist, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Zwecks, nämlich sicherzustellen, dass Studierende aus anderen Mitgliedstaaten zu einem gewissen Grad im Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, erforderlich ist.» (Seite 695)
EuGH beanstandet, dass die EG-Kommission in einer umweltschutzrechtlichen Ablehnungsentscheidung gegenüber den Niederlanden ihre Sorgfalts- und Begründungspflicht verletzt hat / Rs. Niederlande gegen EG-Kommission
In der Sache geht es um die von der Niederländischen Regierung der Kommission notifizierte Absicht, zur Einhaltung der Feinstaub-Grenzwerte verschärfte Grenzwerte für Partikel-Emissionen bestimmter Neufahrzeuge mit Dieselmotor einzuführen. Die Regierung hatte spezifische Probleme im Zusammenhang mit der hohen Bevölkerungsdichte und der Infrastrukturkonzentration geltend gemacht. Um die Partikelkonzentration zu verringern umfasse die geplante Maßnahme konkret den Einbau eines Filters in Kraftfahrzeuge mit Dieselmotor, da PKW und Nutzfahrzeuge für 70 % der verkehrsbedingten Emissionen im Land verantwortlich seien. (Seite 699)
Hierzu bereits Kay Hailbronner, Der "Nationale Alleingang" im Gemeinschaftsrecht am Beispiel der Abgasstandards für PKW, EuGRZ 1989, 101-122.
EuGH definiert Erreichbarkeit für schnelle Kontaktaufnahme und unmittelbare Kommunikation im elektronischen Geschäftsverkehr / Rs. Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. gegen deutsche internet versicherung AG
«Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt ("Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr") ist dahin auszulegen, dass der Diensteanbieter verpflichtet ist, den Nutzern des Dienstes vor Vertragsschluss mit ihnen neben seiner Adresse der elektronischen Post weitere Informationen zur Verfügung zu stellen, die eine schnelle Kontaktaufnahme und eine unmittelbare und effiziente Kommunikation ermöglichen. Diese Informationen müssen nicht zwingend eine Telefonnummer umfassen. Sie können eine elektronische Anfragemaske betreffen, über die sich die Nutzer des Dienstes im Internet an den Diensteanbieter wenden können, woraufhin dieser mit elektronischer Post antwortet; anders verhält es sich jedoch in Situationen, in denen ein Nutzer des Dienstes nach elektronischer Kontaktaufnahme mit dem Diensteanbieter keinen Zugang zum elektronischen Netz hat und diesen um Zugang zu einem anderen, nichtelektronischen Kommunikationsweg ersucht.» (Seite 705)
EuGH präzisiert abgestufte Relevanz der Immunität von Abgeordneten des Europäischen Parlaments bei innerstaatlichen Gerichtsverfahren / Rs. Marra
Im Ausgangsverfahren geht es um zivilrechtliche Verleumdungsklagen zweier italienischer Richter gegen den EP-Abgeordneten Marra wegen dessen Flugblatt-Aktionen mit denen nicht nur die italienische Justiz, sonder auch diese beiden Richter namentlich kritisiert wurden.
«Die Gemeinschaftsvorschriften über die Befreiungen der Mitglieder des Europäischen Parlaments sind dahin auszulegen, dass im Rahmen einer gegen einen Europaabgeordneten wegen dessen Äußerungen erhobenen Schadensersatzklage
– das nationale Gericht, das über diese Klage zu entscheiden hat, wenn es keine Informationen über einen Antrag des Abgeordneten beim Europäischen Parlament auf Schutz der Immunität nach Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften vom 8. April 1965 erhalten hat, nicht verpflichtet ist, das Europäische Parlament zu ersuchen, sich zum Vorliegen der Voraussetzungen für die Immunität zu äußern;
– das nationale Gericht, wenn es darüber unterrichtet wird, dass der Abgeordnete beim Europäischen Parlament einen Antrag auf Schutz dieser Immunität im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung gestellt hat, das Gerichtsverfahren aussetzen und das Europäische Parlament ersuchen muss, so rasch wie möglich Stellung zu nehmen;
– das nationale Gericht, wenn es die Auffassung vertritt, dass der Abgeordnete die Immunität nach Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften genießt, die Klage gegen den betreffenden Europaabgeordneten abweisen muss.» (Seite 709/716)
Die Schlussanträge von Generalanwalt Luis Miguel Poiares Maduro in dieser Rs. sind abgedruckt auf S. 709.
Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (EuG), Luxemburg, zur Beachtung der Immunität eines EP-Abgeordneten in einem innerstaatlichen Strafverfahren wegen erschlichener Beihilfen / Rs. Mote
Das EuG weist die Klage eines britischen EP-Abgeordneten gegen die Aufhebung seiner Immunität durch das EP ab. In dem Urteil heißt es:
«Art. 10 des Protokolls soll somit die Unabhängigkeit der Mitglieder des Parlaments dadurch sicherstellen, dass er verhindert, dass während der Dauer der Sitzungsperiode des Parlaments auf sie Druck in Form von Drohungen mit Festnahme oder gerichtlicher Verfolgung ausgeübt werden könnte (…).
Art. 8 des Protokolls soll die Mitglieder des Parlaments gegen andere als gerichtliche Beschränkungen ihrer Reisefreiheit schützen.
Da nicht geltend gemacht worden ist, dass die Gefahr, dass der Kläger in der Ausübung seiner Aufgaben als Parlamentarier beeinträchtigt wird, durch Beschränkungen anderer Art als die Beschränkungen geschaffen wurde, die auf der von den Gerichten seines Herkunftsstaats eingeleiteten Strafverfolgung beruhen, ist festzustellen, dass das Parlament keinen Rechtsirrtum begangen hat, als es beschloss, die Immunität des Klägers aufzuheben, ohne sich zu dem Vorrecht zu äußern, das ihm in seiner Eigenschaft als Mitglied des Parlaments verliehen worden war, und ohne zu beschließen, dass Art. 8 im vorliegenden Fall verletzt worden war.» (Seite 719)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, betont Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen Gerichtsverhandlung auch in Staatshaftungsverfahren
«Von Art. 6 Ziff. 1 EMRK werden nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten im eigentlichen Sinne erfasst, sondern auch Verwaltungsakte hoheitlich handelnder Behörden, die massgeblich in private Rechtspositionen eingreifen. (…)
Zum einen erschöpft sich der Sinn einer öffentlichen Gerichtsverhandlung nicht darin, auf die Vorbringen der Gegenpartei mündlich antworten zu können, sondern die Verfahrensbeteiligten erhalten damit auch die Möglichkeit eines direkten Kontakts mit dem Richter. Des Weiteren hätte der Verfahrensleiter hier den mit der Replik gestellten Antrag, eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, zum Anlass nehmen können, auf einen zweiten Schriftenwechsel (allenfalls unter Zurückweisung der eingereichten Rechtsschrift) zu verzichten und die Parteien stattdessen für Replik und Duplik auf die mündliche öffentliche Verhandlung zu verweisen. Aus diesen Überlegungen erhellt, dass § 109 ZPO/SZ keineswegs zwingend voraussetzt, dass das durch Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistete Recht auf eine mündliche Verhandlung bereits mit der Klageschrift geltend gemacht wird.» (Seite 726)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, weist Anfechtung der Genehmigung des EU-Reformvertrags von Lissabon durch den Nationalrat und der Ratifikation mangels Zuständigkeit als unzulässig zurück
«Weder der Staatsvertrag noch der Genehmigungsbeschluss des Nationalrates oder die Ratifikation stellen taugliche Anfechtungsobjekte im Verfahren nach Art. 140a bzw. Art. 140 B-VG dar.» (Seite 728)
VfGH unterstreicht Recht auf ungehinderte und vertrauliche Kommunikation zwischen Mandant und Rechtsbeistand, der bei Kontakt bloß durch eine Glastrennwand nicht gewährleistet ist
«Der Verfassungsgerichtshof kann nicht finden, dass die Verständigung durch eine Glastrennwand den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine ungehinderte und vertrauliche akustische Kommunikation zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Rechtsbeistand genügt. Der (in sich widersprüchlichen) Annahme der belangten Behörde, dass die Kommunikation – selbst wenn diese durch eine Glastrennwand erfolgte und "im Tonfall etwas dumpfer" ausfiel – nicht beschränkt war, kann insoweit nicht gefolgt werden. Hinzu kommt, dass auch der Austausch von Dokumenten im vorliegenden Fall nicht ohne Zuhilfenahme eines Sicherheitsbeamten möglich war, weshalb eine vertrauliche Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant auch unter diesem Aspekt nicht gewährleistet war.» (Seite 730)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Streichung der Pendler-Pauschale für die ersten zwanzig Entfernungskilometer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für verfassungswidrig und stellt als Übergangsregelung die alte Rechtslage wieder her
«Die Neuregelung des § 9 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 EStG verstößt gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, denn sie wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine folgerichtige Umsetzung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen nicht gerecht. Die Norm weicht von dem nach dem Nettoprinzip maßgeblichen Veranlassungsprinzip ab (1.). Verfassungsrechtlich hinreichende sachliche Gründe für diese Abweichung ergeben sich weder aus dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck der Einnahmenvermehrung (2.) noch aus denkbaren, jedoch vom Gesetzgeber nicht erkennbar verfolgten Lenkungs- und Förderungszielen (3.), noch im Rahmen gesetzgeberischer Typisierungsbefugnisse unter dem Aspekt gemischt veranlasster Aufwendungen (4.). Es liegen auch kein verfassungskonformer Systemwechsel und keine neue Zuordnungsentscheidung vor, die den Gesetzgeber von der Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die folgerichtige Umsetzung einkommensteuerrechtlicher Belastungsentscheidungen befreien könnten (5.).» (Seite 732)
BVerfG bekräftigt effektiven Rechtsschutz gegen außerordentliche fristlose Kündigung auch bei Haftbefehl wegen des Verdachts von Betrugsdelikten
Der Bf. war Geschäftsführer und Betriebsleiter mehrerer landeseigener Betriebe in Rheinland-Pfalz.
Im Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats heißt es: «Im vorliegenden Fall hat das Oberlandesgericht § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise falsch angewendet und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt. (…)
Die Klärungsfähigkeit einer Rechtsfrage setzt dabei die Revisibilität des anzuwendenden Rechts nach § 545 Abs. 1 ZPO voraus. (…)
Die vom Oberlandesgericht aufgeworfene Rechtsfrage über eine allgemeine Ausnahme von der Anhörungspflicht des Dienstherrn bei Erlass eines Haftbefehls betrifft die Auslegung des § 626 Abs. 1 BGB. Da es sich hierbei um Bundesrecht, also um revisibles Recht im Sinne des § 545 Abs. 1 ZPO handelt, ist die Rechtsfrage klärungsfähig.» (Seite 743)
BVerfG bestätigt Begünstigung von Versicherten mit 45 Pflichtbeitragsjahren bei Bezug einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit als mit Art. 3 Abs. 3 GG vereinbar
«Die Pflichtversicherten, mit deren Beiträgen die Rentenversicherung dauerhaft und kalkulierbar rechnen kann, sind insofern die tragende Säule der Finanzierung des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber Pflichtversicherte, die 45 Jahre Pflichtversicherungsbeiträge geleistet haben, wegen ihres besonders nachhaltigen Beitrags zur Rentenfinanzierung begünstigt.»
Entsprechend sind auch Abschläge bei vorzeitiger Altersrente verfassungsgemäß. (Seite 747)
BVerfG sieht in der Aufbewahrung von bestrahlten Kernbrennstoffen aus Kernkraftwerken in kraftwerksnahen Standortzwischenlagern keine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG
«Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG herzuleitende Schutzpflicht des Gesetzgebers steht solchen Vorschriften grundsätzlich nicht entgegen, die insoweit ein Restrisiko in Kauf nehmen, als sie Genehmigungen auch dann zulassen, wenn sich nicht völlig ausschließen lässt, dass künftig durch das Gebrauchmachen von der Genehmigung ein Schaden auftreten wird.» (Seite 752)
BVerfG bestätigt sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden Richters zur Untersagung nicht anonymisierter Bildberichterstattung über den Angeklagten
Die ausschlaggebenden Erwägungen (hier: im Holzklotz-Fall) sind Persönlichkeitsschutz und Unschuldsvermutung des Angeklagten. (Seite 759)
BVerfG billigt Verbot der Benutzung von Laptops und Notebooks im Verhandlungssaal zur Berichterstattung über ein Strafverfahren (Holzklotz-Fall, Autobahn Oldenburg) wegen der offensichtlichen Missbrauchsmöglichkeiten. (Seite 762)
BVerfG hält Bevorzugung weiblicher Strafgefangener gegenüber männlichen Strafgefangenen in Bezug auf Möglichkeiten des Telefonierens und des Einkaufs von Kosmetika für gleichheitswidrig. (Seite 763)
BVerfG unterstreicht die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und das Gebot der Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsweges, hier: bei der Prüfung des landesgesetzlichen Verbots der Haltung gefährlicher Tiere (Klapperschlangen). (Seite 766)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, verurteilt die Angriffe auf Verteidiger der Menschenrechte in Russland und die rechtsstaatlichen Mängel des Verfahrens wegen der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja. (Seite 767)
BVerfG stellt aufschiebende Wirkung der Klage vor dem Verwaltungsgericht gegen Demonstrationsverbot von Rechtsextremisten am 8. November trotz der zeitlichen Nähe zum 70. Jahrestag der Reichsprogromnacht wieder her. (Seite 769)