EuGRZ 2011 |
28. September 2011
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38. Jg. Heft 16-18
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Informatorische Zusammenfassung
Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), analysiert die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht (einschließlich Auslieferungsrecht) in den Jahren 2009 und 2010
Einer Tradition folgend (erstmals EuGRZ 1994, 85), erlaubt die Auswertung der einschlägigen Entscheidungen in dem Beitrag von Roeser einen Überblick über signifikante Entwicklungen. Senatsentscheidungen sind im Berichtszeitraum nicht ergangen.
Einleitend hält Roeser fest: »Wie in den Vorjahren hat es jedoch wiederum eine ganze Reihe von Entscheidungen durch die jeweils zuständige Kammer des Zweiten Senats gegeben.
Im Asylrecht ist erstmals seit vielen Jahren eine Zunahme bei der Zahl der neu eingegangenen Verfassungsbeschwerden zu registrieren. Waren im Jahre 2008 – gleichsam als vorläufiger Tiefpunkt – lediglich noch 47 Neuverfahren zu verzeichnen gewesen, so stieg die Zahl in 2009 auf 63 (davon 9 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) und nahm in 2010 mit 76 Neuverfahren (davon 7 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) noch weiter zu. Damit ist eine Entwicklung im BVerfG angekommen, die bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits im Jahre 2008 mit einem dort seit vielen Jahren erstmals wieder zu verzeichnenden Anstieg von Asylerstanträgen einsetzte. Dort gingen in 2009 insgesamt 27.649 neue Erstanträge ein, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 25,2 v.H. Im Jahre 2010 stieg die Zahl der Neuanträge beim Bundesamt wiederum, und zwar mit insgesamt 41.332 gegenüber dem Vorjahr um nahezu 50 v.H. Als Gründe gab das Bundesamt für 2009 ein gleichbleibend hohes Niveau von Asylanträgen irakischer Staatsangehöriger an, verbunden mit einem deutlichen Anstieg der Anträge von Asylbewerbern aus Afghanistan. Im Jahre 2010 war ein erneut vermehrter Zugang von Asylanträgen betr. die Hauptherkunftsländer Afghanistan, Serbien, Iran, Mazedonien und Somalia sowie eine weiterhin hohe Zahl von Asylbewerbern aus dem Irak zu verzeichnen. (…)
Entgegen dem Trend bei den Asylverfahren ist im Berichtszeitraum die Zahl der bei dem BVerfG neu eingegangenen Verfassungsbeschwerden zum Aufenthaltsrecht und zum Abschiebehaftrecht gegenüber den Vorjahren zurückgegangen.« (Seite 445)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt Videoüberwachung einer des Diebstahls konkret verdächtigen Arbeitnehmerin (Kassiererin) für zulässig / Köpke gegen Deutschland
Der EGMR stimmt mit der Interessenabwägung der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf die Achtung des Privatlebens der Arbeitnehmerin aus Art. 8 EMRK und auf Achtung der Eigentumsrechte des Arbeitgebers aus Art. 1 des 1. ZP-EMRK überein:
»Wie die deutschen Gerichte festgestellt haben, wurde die Videoüberwachung der Bf. jedoch erst durchgeführt, nachdem Inventurverluste festgestellt und in den Abrechnungen der Getränkeabteilung des Supermarkts, in dem sie tätig war, Auffälligkeiten entdeckt worden waren, die einen vertretbaren Verdacht des Diebstahls gegen die Bf. und eine andere Beschäftigte, die ausschließlich von den Überwachungsmaßnahmen betroffen waren, begründeten. (…)
Der Gerichtshof stimmt auch mit der Feststellung der Arbeitsgerichte überein, dass das Interesse des Arbeitgebers am Schutz seiner Eigentumsrechte nur wirksam gewahrt werden könne, wenn er Beweise gewinnen konnte, um das strafbare Verhalten der Bf. in dem Verfahren vor den nationalen Gerichten zu belegen, und er die erlangten Daten bis zum rechtskräftigen Abschluss des von der Bf. angestrengten Verfahrens speichern dürfe. Dies diente auch dem Allgemeininteresse an einer geordneten Rechtspflege durch die nationalen Gerichte, die zur weitestmöglichen Erforschung der Wahrheit bei gleichzeitiger Wahrung der Konventionsrechte aller betroffenen Personen in der Lage sein müssen. Außerdem war die verdeckte Videoüberwachung der Bf. geeignet, andere Beschäftigte, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen, zu entlasten.« (Seite 471)
Zur Interessenabwägung bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen cf. Wolfgang Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 ff.; insbesondere zu einer Korridor-Lösung Heiko Sauer, EuGRZ 2011, 195 (198 f.).
EGMR verneint Entschädigungsanspruchaufgrund von Eigentumsrechten aus Art. 1 des 1. ZP-EMRK für Hinterbliebene der Opfer eines Massakers der Waffen-SS im Juni 1944 in Griechenland (Distomo) / Sfountouris u.a. gegen Deutschland
»Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass eine Verletzung des Art. 1 des 1. ZP-EMRK von einem Bf. nur gerügt werden kann, soweit die von ihm beanstandeten Entscheidungen sich auf sein „Eigentum“ im Sinne dieser Bestimmung beziehen. Der Begriff „Eigentum“ kann sowohl „aktuelle Eigentumspositionen“ als auch Vermögenswerte, einschließlich Forderungen, umfassen, in Bezug auf die der Bf. zumindest eine „berechtigte Erwartung“ behaupten kann, in den effektiven Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen (…). Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen der bloßen Erwartung – so verständlich sie auch sein mag – einer Rückübertragung oder Ausgleichsleistung und einer berechtigten Erwartung, die konkreter sein und sich auf eine Gesetzesbestimmung oder eine Rechtshandlung, beispielsweise eine gerichtliche Entscheidung, stützen müsste. Es kann nämlich nicht auf das Bestehen einer „berechtigten Erwartung“ geschlossen werden, wenn die Art und Weise umstritten ist, in der das innerstaatliche Recht auszulegen und anzuwenden ist, und wenn die von dem Bf. hierzu vorgebrachten Argumente letzten Endes von den nationalen Gerichten verworfen werden. (…)
Unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Informationen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass nicht behauptet werden kann, die Anwendung und die Auslegung des Völkerrechts und des nationalen Rechts durch die deutschen Gerichte seien nicht vernünftig oder willkürlich gewesen (…). Die Klage der Bf. auf Entschädigung stützte sich daher weder auf völkerrechtliche oder innerstaatliche Bestimmungen noch auf eine gerichtliche Entscheidung.
Der Gerichtshof zieht hieraus den Schluss, dass die Bf. nicht berechtigt sind zu behaupten, dass sie eine berechtigte Erwartung hatten, für den erlittenen Schaden eine Entschädigung erhalten zu können. Demnach haben die Entscheidungen, mit denen die nationalen Gerichte den Anspruch der Bf. verworfen haben, keinen Eingriff in die Ausübung ihres Eigentumsrechts darstellen können, womit der hiesige Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Art. 1 des 1. ZP-EMRK fällt.
Daraus folgt, dass diese Rüge ratione materiae mit den Konventionsbestimmungen i.S.v. Art. 35 Abs. 3 lit. a unvereinbar und gemäß Art. 35 Abs. 4 zurückzuweisen ist.«
Die Rüge einer Verletzung des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 weist der EGMR ebenfalls zurück. Er erinnert daran, »dass ein Staat, wenn er sich entscheidet, in der Vergangenheit verursachte Schäden vor der Ratifikation der Konvention durch den Staat wieder gutzumachen, für die er gemäß der Konvention nicht verantwortlich ist, über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügt, wenn es sich um die Festlegung der Modalitäten und die Bestimmung der Berechtigten der Wiedergutmachung handelt.«
Die Regierung hatte u.a. auch an Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik Deutschlands für das im Zweiten Weltkrieg begangene Unrecht erinnert: »Zu diesen Maßnahmen zählten insbesondere der Abschluss von Globalentschädigungsabkommen mit zwölf Staaten in den 1959er und 1960er Jahren, unter anderem mit Griechenland, und die Verabschiedung von Gesetzen mit dem Ziel, bestimmte Gruppen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung zu entschädigen. So habe Griechenland aufgrund des deutsch-griechischen Vertrags vom 18. März 1960 über Leistungen zu Gunsten griechischer Opfer nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen 115 Millionen DM erhalten, wobei die Verteilung des Betrags an die Opfer dem Ermessen Griechenlands überlassen wurde. Ebenso gewähre das Entschädigungsgesetz von 1953 Einzelpersonen Entschädigungsansprüche für aus nationalsozialistischer Verfolgung resultierende Individualschäden und die im Jahre 2000 eingerichtete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sehe Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiter vor (darunter ca. 2.000 griechische Staatsangehörige).« (Seite 477)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert Kriterien für den Zugang zu gesundheitsrelevanten Umweltinformationen der Behörden (hier: Mobilfunksender) bzw. für dessen Ablehnung / Rs. Office of Communications
Die Vorlage des Supreme Court des Vereinigten Königreichs enthält die Frage, ob die in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2003/4/EG vorgesehenen Verweigerungsgründe, wenn sie jeweils einzeln (öffentliche Sicherheit oder Schutz des geistigen Eigentums) »nicht annähernd stark genug« sind, um das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe der Informationen (hier: genaue Standorte von Mobilfunk-Basisstationen für epidemiologische Zwecke) zurücktreten zu lassen, kumuliert berücksichtigt werden können.
Der EuGH bejaht dies. Die Abwägung selbst bleibt danach allerdings Aufgabe des innerstaatlichen Gerichts. (Seite 483)
EuGH sieht in der zwangsweisen Versetzung von Beamten (hier: Staatsanwälte) in den Ruhestand mit Vollendung des 65. Lebensjahres keine Altersdiskriminierung / Rsn. Fuchs und Köhler gegen Land Hessen
Als legitime Ziele der gesetzlichen Regelung in Hessen i.S.v. Art. 6 Abs. 1 der RL 2000/78/EG werden anerkannt, »eine ausgewogene Altersstruktur zu schaffen, um die Einstellung und die Beförderung von jüngeren Berufsangehörigen zu begünstigen, die Personalplanung zu optimieren und damit Rechtsstreitigkeiten über die Fähigkeit des Beschäftigten, seine Tätigkeit über ein bestimmtes Alter hinaus auszuüben, vorzubeugen«.
Weiter heißt es im Tenor: »Die Angemessenheit und Erforderlichkeit der fraglichen Maßnahme ist nachgewiesen, wenn sie im Hinblick auf das verfolgte Ziel nicht unvernünftig erscheint und auf Beweismittel gestützt ist, deren Beweiskraft das nationale Gericht zu beurteilen hat.
Ein Gesetz (…), das den zwangsweisen Übertritt von Staatsanwälten in den Ruhestand mit Vollendung des 65. Lebensjahrs vorsieht, ist nicht allein deshalb inkohärent, weil es ihnen in bestimmten Fällen erlaubt, bis zum vollendeten 68. Lebensjahr weiterzuarbeiten, es außerdem Bestimmungen enthält, die den Übertritt in den Ruhestand vor Vollendung des 65. Lebensjahrs erschweren sollen, und andere Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats das Verbleiben im Dienst von bestimmten Beamten, insbesondere bestimmten Wahlbeamten, über dieses Alter hinaus vorsehen und das Ruhestandsalter schrittweise von 65 auf 67 Jahre anheben.« (Seite 486)
EuGH erweitert die Transparenz beim Zugang zu Dokumenten der EU-Kommission, die sich im konkreten Fall auf das Verbot der Fusion zweier Wirtschaftsunternehmen der Reisebranche in Großbritannien beziehen / Rs. MyTravel gegen Kommission
Der Hintergrund ist vielschichtig: (1) Der britische Reiseveranstalter Airtours (später umbenannt in: MyTravel) will 100 % der Anteile seines Wettbewerbers First Choice erwerben. (2) Das verbietet die EU-Kommission als Wettbewerbsbehörde. (3) Dagegen klagt Airtours mit Erfolg. Das Gericht Erster Instanz erklärt das Fusionsverbot der Kommission im Juni 2002 für nichtig (T-342/99). Die EU-Kommission wird zur Tragung der Kosten auch der Klägerin verurteilt. Gegen die Annullierung ihres Fusionsverbots legt sie kein Rechtsmittel ein. (4) Die Klägerin fordert Ersatz der Kosten für mehrere Rechtsbeistände in Höhe von 1,464 Mio. Pfund zzgl. MwSt. Die Kommission bietet 130.000 Pfund an. Das Gericht setzt die erstattungsfähigen Kosten im Juni 2004 (T-342/99DEP) auf insgesamt 489.615,03 Pfund netto fest. (5) Im Mai 2005 beantragt MyTravel, gestützt auf die Verordnung Nr. 1049/2001(EG) Zugang zu einer Reihe von internen Dokumenten der Kommission im Zusammenhang mit dem Wettbewerbsverfahren. Die Kommission lehnt das Begehren im Juli und August 2005 überwiegend ab. (6) Die Klage gegen diese ablehnenden Entscheidungen der Kommission ist vor dem Gericht Erster Instanz nur minimal erfolgreich. Bis auf ein bestimmtes Gesprächsprotokoll bleiben alle Dokumente unter Verschluss. MyTravel soll 9/10 der eigenen und 9/10 der Kosten der Kommission tragen (September 2008, T-403/05). (7) Jetzt greift die schwedische Regierung mit einem Rechtsmittel in der Sache ein, um den öffentlichen Zugang zu den Kommissionsdokumenten zu erweitern. Sie wird unterstützt von den Regierungen Dänemarks, Finnlands und der Niederlande, während die Kommission von Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich unterstützt wird. (8) Der EuGH erweitert den Zugang zu den Kommissionsdokumenten erheblich. Das Kriterium ist das öffentliche Interesse an der Transparenz der Tätigkeit der Unionsorgane i.S.v. Art. 4 der VO (EG) 1049/2001. Die ablehnende Entscheidung der Kommission wird für nichtig erklärt, das Urteil des Gerichts wird, soweit rechtsfehlerhaft, aufgehoben und die Rs. zurückverwiesen, damit das Gericht über jene Klagegründe entscheidet, zu denen es sich nicht geäußert hat.
Ein verallgemeinerungsfähiges Schlüsselargument des EuGH (hier: in Bezug auf ein Gutachten des Juristischen Dienstes) lautet: »Was zunächst die Befürchtung betrifft, dass die Verbreitung eines Gutachtens des Juristischen Dienstes der Kommission zu einem Entscheidungsvorschlag einen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der endgültigen Entscheidung hervorrufen könne, ist mit dem Königreich Schweden festzustellen, dass gerade Transparenz in dieser Hinsicht dazu beiträgt, den Organen in den Augen der Unionsbürger größere Legitimität zu verleihen und deren Vertrauen zu stärken, indem sie es ermöglicht, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern. Tatsächlich ist es eher das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen kann, und zwar nicht nur an der Rechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsakts, sondern auch an der Legitimität des Entscheidungsprozesses insgesamt (…).
Ferner würde die Gefahr, dass bei den Unionsbürgern Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines von einem Organ erlassenen Rechtsakts aufkommen, weil sein Juristischer Dienst eine ablehnende Stellungnahme zu diesem Rechtsakt abgegeben hat, meist nicht eintreten, wenn dessen Begründung so verbessert würde, dass deutlich würde, warum der ablehnenden Stellungnahme nicht gefolgt wurde.« (Seite 494)
EuGH verneint Anspruch auf Offenlegung der Konkurrentinnen-Qualifikation für einen Bewerber auf einen universitären Ausbildungsplatz (hier: am University College, Dublin) / Rs. Kelly
Der Kläger des Ausgangsverfahrens behauptet, er sei besser qualifiziert als die schlechteste der zugelassenen weiblichen Mitbewerber, ohne dies beweisen zu können. (Seite 505)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erkennt auf Beweisverwertungsverbot bei einer Reihe zufällig entdeckter Verkehrsstraftaten (überhöhte Geschwindigkeit, Rechtsüberholen, Drängeln)
Die Polizei hatte eine auf einem Volksfest verloren gegangene Kamera, mit der ein Beifahrer des betroffenen Verkehrsrowdys die etwa zehnminütige inkriminierte Fahrt gefilmt hatte, ausgewertet.
Das BGer stellt fest: »Hier gelangte die Kamera auf gesetzmässigem Weg in den Herrschaftsbereich der Stadtpolizei Baden. Die Frage, ob anlehnend an eine verpönte Beweisausforschung von einem absoluten Verwertungsverbot auszugehen ist oder ob es zu berücksichtigen gilt, dass die Polizei nach den vorinstanzlichen Feststellungen mit der Absicht handelte, das Gerät seinem rechtmässigen Besitzer zuzuführen, kann offenbleiben. Selbst bei einem relativen Beweisverwertungsverbot überwiegt das private Interesse des Beschwerdeführers an der Unverwertbarkeit des Kamerainhaltes.« (Seite 510)
BVerfG beanstandet objektive Unmöglichkeit, den sog. großen Teilerlass eines Studenten-Darlehens (§ 18b Abs. 3 Satz 1 des 12. BAföGÄndG) zu erlangen als gleichheitswidrig
Ausschlaggebend sind inkohärente gesetzliche Vorgaben zu Mindeststudienzeit und Förderungshöchstdauer. (Seite 513)
BVerfG betont Gebot zureichender richterlicher Sachaufklärung bei Fortdauer der zwangsweisen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
Die Kammer vermisst u.a. eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob eine den Sexualtrieb dämpfende Medikation das Risiko weiterer Straftaten im notwendigen Maße absenken könnte. (Seite 521)
BVerfG billigt Griechenland-Hilfe und Euro-Rettungsschirm / Verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 1 Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz bedingt vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestages
Die Leitsätze des Urteils des Zweiten Senats lauten:
»1. Art. 38 GG schützt die wahlberechtigten Bürger vor einem Substanzverlust ihrer verfassungsstaatlich gefügten Herrschaftsgewalt durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages, vor allem auf supranationale Einrichtungen (…). Die abwehrrechtliche Dimension des Art. 38 Abs. 1 GG kommt in Konstellationen zum Tragen, in denen offensichtlich die Gefahr besteht, dass die Kompetenzen des gegenwärtigen oder künftigen Bundestages auf eine Art und Weise ausgehöhlt werden, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens, gerichtet auf die Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktisch unmöglich macht.
2. a) Die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand ist grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat (…). Der Deutsche Bundestag muss dem Volk gegenüber verantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entscheiden. Das Budgetrecht stellt insofern ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar (…).
b) Als Repräsentanten des Volkes müssen die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten.
3. a) Der Deutsche Bundestag darf seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die – sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen – zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können.
b) Es dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden.
c) Darüber hinaus muss gesichert sein, dass hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht.
4. Die Bestimmungen der europäischen Verträge stehen dem Verständnis der nationalen Haushaltsautonomie als einer wesentlichen, nicht entäußerbaren Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten nicht entgegen, sondern setzen sie voraus. Ihre strikte Beachtung gewährleistet, dass die Handlungen der Organe der Europäischen Union in und für Deutschland über eine hinreichende demokratische Legitimation verfügen (…). Die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft ist Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes (…).
5. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, für Gewährleistungen einstehenzu müssen, kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungsspielraum zu, der vom Bundesverfassungsgericht zu respektieren ist. Entsprechendes gilt auch für die Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland.« (Seite 525)
BVerfG hebt standesgerichtliche Geldbuße wegen Verwendung der Bezeichnung „Zahnärztehaus“ für eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis auf
Die Verurteilung stellt eine Verletzung der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) dar. (Seite 542)
EGMR-Richterwahlen / Neu gewählte Richter mit einer einmaligen Amtszeit von neun Jahren sind: Linos-Alexander Sicilianos (51), Grieche, Professor in Athen, Amtsantritt am 18. Mai 2011; Erik Møse (60), Norweger, Richter am Obersten Gerichtshof, Amtsantritt am 1. September 2011; Helen Keller (47), Schweizerin, Professorin in Zürich und Mitglied im UN-Ausschuss für Menschenrechte, Amtsantritt am 4. Oktober 2011; André Potocki (51), Franzose, Richter am Kassationshof, davor Richter am Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, Amtsantritt am 4. November 2011. (Seite 544)
EGMR-Verfahren zu Hoheitsgewalt und Schutzpflichten (Art. 1 EMRK) der Vertragsstaaten bei militärischen Auslandseinsätzen (hier: im Irak) / Pritchard gegen Vereinigtes Königreich
Der Vater eines in Basra getöteten Soldaten rügt das Unterlassen einer Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) angemessenen Untersuchung. Die Beschwerde ist, wie am 8. September 2011 in Straßburg mitgeteilt wurde, der Regierung des Vereinigten Königreichs von einer Kammer des Gerichtshofs zur Stellungnahme zugestellt worden. (Seite 544)