EuGRZ 2013
29. November 2013
40. Jg. Heft 20-21

Informatorische Zusammenfassung

Markus Löffelmann, München, setzt sich kritisch mit dem Urteil des Afrikanischen Gerichtshofs für die Rechte des Menschen und der Völker zum Wahlrecht auseinander
In der Sache geht es darum, dass zu Präsidentschaftswahlen in Tansania gesetzlich nur Kandidaten zugelassen sind, die Mitglied einer registrierten Partei sind oder von einer registrierten Partei nominiert worden sind, unabhängige Kandidaten also von den Wahlen ausgeschlossen sind. Beschwerdeführer zu 1) sind zwei NGOs: die Tanganyika Law Society und The Legal and Human Rights Centre; Bf. zu 2) ist der ausgeschlossene Kandidat selbst: Reverend Christopher R. Mtikila. Das Urteil ist abgedruckt in Human Rights Law Journal (HRLJ) 2013, 18-34 (voller Wortlaut incl. Sondervoten).
Der Autor führt u. a. aus: «Mit dem Urteil vom 14. Juni 2013 hat der Gerichtshof erstmals in einer streitigen Entscheidung substanzielle Ausführungen zu Rechtsproblemen gemacht. (...)
Nach Art. 5 Abs. 3 i.V.m. Art. 34 Abs. 6 Eprot [Errichtungsprotokoll] darf der Gerichtshof nur dann über Beschwerden im Individualbeschwerdeverfahren entscheiden, wenn der betroffene Staat dieses durch eine besondere Erklärung anerkannt hat. Beschwerdeberechtigt sind in diesem Fall Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen, die über einen Beobachterstatus bei der Afrikanischen Menschenrechtskommission verfügen. (...) Bemerkenswert an der zitierten Regelung ist, dass sich in ihr nichts von dem im europäischen System fest verankerten Grundsatz der Selbstbetroffenheit (vgl. Art. 34 EMRK) findet. Man kann Art. 34 Abs. 6 EProt daher so verstehen, dass Beschwerden von jeder Einzelperson, gleichgültig ob sie von einer Rechtsverletzung selbst betroffen ist oder nicht, zulässig sind (actio popularis). Dass der Gerichtshof eine Selbstbetroffenheit der Beschwerdeführer zu 1) nicht prüft (Ziff. 86), könnte ein Hinweis darauf sein, dass er einer solchen liberalen Auslegung der Vorschrift aufgeschlossen gegenübersteht.»
Löffelmann gelangt zu folgendem Fazit: «Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Gerichtshof in der gegenständlichen Entscheidung bei der Behandlung der Zulässigkeitsfragen eine erfreulich liberale Haltung an den Tag legt und auch in der Begründetheit Akzente setzt, namentlich in der forschen Art und Weise, wie er die Rechtfertigung der Beschränkung durch soziale Erforderlichkeiten verwirft und zugleich eine Verletzung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und des Diskriminierungsverbots annimmt. Das alles vermittelt den Eindruck, der Gerichtshof habe die Gelegenheit nutzen wollen, die große Reichweite seiner Kompetenzen, seine Unabhängigkeit und seinen politischen Einfluss zu unterstreichen und ein Zeichen zu setzen, das künftige Beschwerdeführer einlädt, den Zugang zu diesem Rechtsschutzsystem zu suchen. Anerkennung verdient auch das Bemühen des Gerichtshofs, die Rechtsprechung der anderen Menschenrechtsgerichtshöfe in die eigene Judikatur einzubeziehen. Darin folgt er dem Vorbild der Kommission. Für das Ziel eines universellen Verständnisses der Menschenrechte, das auch die Banjul-Charta teilt, ist dieser systemübergreifende Ansatz wesentlich. Indem der Gerichtshof der Beschwerdegegnerin [Tansania] schließlich aufgibt, „alle verfassungsrechtlichen, legislativen und anderen notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um innerhalb einer angemessenen Frist die festgestellten Verletzungen zu beheben und den Gerichtshof darüber zu informieren“ (Ziff. 126, Nr. 3), nimmt er dezidiert Kompetenzen eines Verfassungsgerichts wahr, die den High Courts in den zugrunde liegenden Entscheidungen nach der – in diesem Punkt überzeugenden – Auffassung des Court of Appeal nicht zustanden. Diese Beschränkung gerichtlicher Kompetenzen auf nationaler Ebene unterstreicht exemplarisch die große Bedeutung eines übergeordneten Menschenrechtsschutzmechanismus, durch den sogar Entscheidungen des Verfassungsgebers überprüft werden können.
Entwicklungspotential offenbart die Entscheidung in methodischer Hinsicht. Die in weiten Teilen unsystematische Darstellung, Argumentationssprünge, die Verwendung unscharfer Begrifflichkeiten und der apodiktische Charakter mancher Feststellungen erschweren das Verständnis nicht unerheblich und dürften dazu beitragen, dass die Entscheidung nur eingeschränkt Rechtsstandards für die nationale und regionale Ebene zu setzen geeignet ist. Das ist vor allem vor dem Hintergrund bedauerlich, dass die in der Charta verankerten Rechte – anders als noch im M'Baye-Entwurf – nur sehr vage formuliert sind. Für die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes in Afrika ist ihre systematische Auslegung, die sich auf andere Sachverhalte übertragen lässt, elementar.»  (Seite 577)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt Fortdauer der gerichtlich angeordneten Unterbringung eines gefährlichen Gewaltverbrechers (Mord, Totschlag) in einem psychiatrischen Krankenhaus / Radu gegen Deutschland
«Der Gerichtshof nimmt die ausführliche Begründung, die die innerstaatlichen Gerichte für ihre Entscheidung gegeben haben, und den Kontext, in dem sie erfolgt ist, zur Kenntnis. Er stellt insbesondere fest, dass ihre Auslegung von § 67d Abs. 6 StGB auf den Schutz der Rechtskraft von Urteilen abzielte. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidung gegen die Freilassung des Bf. nicht allein auf die Rechtskraft des Urteils des erkennenden Gerichts stützten. Sie machten deutlich, dass der Bf. nach § 67d Abs. 2 StGB einen Anspruch auf Freilassung hatte, sobald davon ausgegangen werden konnte, dass er nach seiner Freilassung keine weiteren Straftaten begehen würde. Da der Bf. diese Voraussetzung noch nicht erfüllte, wurde die weitere Vollstreckung der Unterbringungsanordnung nicht zur Bewährung ausgesetzt. Eine Freilassung des Bf. wurde daher durch die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Anwendung des innerstaatlichen Rechts nicht unmöglich gemacht.
Angesichts der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dem Bf. unter den Umständen des vorliegenden Falles die Freiheit nicht willkürlich entzogen wurde. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die sich aus dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren ergebende Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Bf. in einem psychiatrischen Krankenhaus entsprechend den Erfordernissen des Art. 5 Abs. 1 „rechtmäßig“ war und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgte.» (Seite 584)

Richter Villiger und Richterin Power-Forde vertreten in ihrem Sondervotum die Meinung, im vorliegenden Fall sei Art. 5 Abs. 1 EMRK verletzt worden. (Seite 595)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, bestätigt die digitale Abnahme und Speicherung biometrischer Daten (hier: Fingerabdrücke) für einen Reisepass als grundrechtskonform / Rs. Schwarz
Der Zweck des Schutzes vor betrügerischer Verwendung von Reisepässen rechtfertigt die in Art. 1 Abs. 2 VO 2252/ 2004 (i.d.F.d. VO 444/2009) normierte Abnahme und Speicherung der Fingerabdrücke, d.h. den Eingriff in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten und in das Recht auf Privatleben (Art. 7 und 8 GRCh).
Der EuGH stellt fest, dass ihm keine Maßnahmen zur Kenntnis gebracht worden sind, die hinreichend wirksam zum Ziel des Schutzes vor betrügerischer Verwendung von Reisepässen beitragen können und dabei weniger schwerwiegend in die durch Art. 7 und 8 GRCh anerkannten Rechte eingreifen. (Seite 597)

EuGH befürwortet den Schutz homosexueller Asylbewerber als diskriminierte soziale Gruppe und präzisiert die nachzuprüfende strafrechtliche Verfolgung im Herkunftsland (hier: Sierra Leone, Uganda und Senegal) als ausschlaggebendes Kriterium / Rs. X, Y und Z
«Allein der Umstand, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ausdrücklich bestimmt, dass der Begriff der Religion auch die Teilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich umfasst, erlaubt nicht den Schluss, dass der Begriff der sexuellen Ausrichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie nur Handlungen in der Privatsphäre der betreffenden Person verknüpft, und nicht auch Handlungen seines Lebens in der Öffentlichkeit erfasst. (...)
Daher kann nicht erwartet werden, dass ein Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält, um eine Verfolgung zu vermeiden. (...)
Daher muss dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 13 der Richtlinie zuerkannt werden, wenn nachgewiesen ist, dass nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland seine Homosexualität ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie aussetzt. Dass er die Gefahr dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person, ist insoweit unbeachtlich.» (Seite 601)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, betont die Notwendigkeit einer formellen Gesetzesgrundlage für ein Kopftuchverbot für Schülerinnen an einer Volksschule
Die Klägerinnen vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau sind mazedonischer Herkunft, tragen das islamische Kopftuch und besuchen eine Volksschule, deren Schulordnung das Tragen von „Caps, Kopftüchern und Sonnenbrillen“ während der Schulzeit untersagt. Das Verwaltungsgericht hiess ihren von den Behörden abgelehnten Dispenz-Antrag gut. Hiergegen erhob die Volksschulgemeinde Bürglen (Beschwerdeführerin) öffentlich-rechtliche Beschwerde. Das BGer weist die Autonomiebeschwerde ab.
In den Erwägungen heißt es: «Die Beschwerdeführerin verkennt überdies die Tragweite und den Adressaten des Neutralitätsgebots für öffentliche Schulen: Die öffentlichen Schulen und die für sie handelnden Lehrpersonen sind somit zu Neutralität und konfessioneller Gleichbehandlung verpflichtet, damit aber nicht (auch) die Benutzer: Im Gegensatz zur Schule sind Schülerinnen und Schüler – jedenfalls solange sie durch ihre Grundrechtsausübung die Grundrechte Dritter nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigen – keiner Neutralitätspflicht unterworfen (...).
Das Verbot des Tragens des Kopftuches aus religiösen Gründen beruht demnach weder auf einer genügenden und ausreichend bestimmten Gesetzesgrundlage noch wird es von der Regelungskompetenz der Schule abgedeckt. Ebenso wenig kann es aus dem Neutralitätsgebot der öffentlichen Schule selbst (Art. 15 Abs. 4 BV) abgeleitet werden. Die verfassungsmässigen Voraussetzungen für die Einschränkungen der Glaubens- und Gewissensfreiheit der beiden Schülerinnen sind demnach, wie die Vorinstanz zurecht festhält, nicht gegeben.»  (Seite 607)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bindet die Beobachtung eines Abgeordneten durch Behörden des Verfassungsschutzes an strenge Verhältnismäßigkeitsanforderungen / Fall Ramelow
«Die langjährige Beobachtung des Beschwerdeführers einschließlich der Sammlung und Speicherung der gewonnenen Informationen genügt den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht. Bei einer Gesamtabwägung aller Umstände stehen die vom Bundesverwaltungsgericht angenommenen geringfügigen zusätzlichen Erkenntnisse für die Ermittlung eines umfassenden Bildes über die Partei (...) außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs in das freie Mandat des Beschwerdeführers.
Im fachgerichtlichen Verfahren wurden tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen lediglich in Bezug auf einzelne Untergliederungen – namentlich die Kommunistische Plattform, das Marxistische Forum und die anerkannte Jugendorganisation Linksjugend – festgestellt (...).
Zugleich wurde ausdrücklich festgestellt, dass der Beschwerdeführer individuell nicht verdächtig ist, verfassungsfeindliche Bestrebungen zu verfolgen. (...) Der Beschwerdeführer gehört jedoch weder zu den Angehörigen noch zu den Unterstützern der betreffenden Untergliederungen innerhalb der Partei.»
Die Anträge im Organstreitverfahren des Abgeordneten Ramelow und der Bundestagsfraktion DIE LINKE werden als unzulässig verworfen. (Seite 612)

BVerfG würdigt das Institut der Prozesskostenhilfe sowie die gesetzliche Stichtagsregelung für Restitutionsklagen nach einem stattgebenden EGMR-Urteil als verfassungskonform / Fall Storck
Die Versagung der Prozesskostenhilfe für eine Restitutionsklage durch das OLG Bremen ist nicht zu beanstanden. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. (Seite 630)

BVerfG sieht öffentliche Kritik an städtischem Rechtsamt unter namentlicher Nennung der Sachbearbeiterin („Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus“) durch Meinungsfreiheit gedeckt
Die strafrechtliche Verurteilung wegen übler Nachrede ist verfassungswidrig. (Seite 637)

Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, bestätigt Zuerkennung immateriellen Schadensersatzes wegen nachträglich verhängter Sicherungsverwahrung
Die vom LG Karlsruhe auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 5 EMRK zugebilligte und vom OLG Karlsruhe bestätigte immaterielle Entschädigung von 73.000 Euro (500 Euro pro Monat) hat damit Bestand. Die Passivlegitimation des Landes Baden-Württemberg und demzufolge seine Leistungspflicht ist nicht zweifelhaft, die Revision unbegründet. (Seite 639)

Antifolter-Komitee des Europarates, Straßburg, fordert dringend energische Ermittlungen bei Verdacht von Polizeigewalt und Misshandlung von Strafgefangenen durch Gefängnispersonal / 23. Jahresbericht (Seite 642)

EGMR prüft Anwendbarkeit der EMRK (Art. 6, faires Verfahren) auf internationale Sportgerichtsbarkeit
Die Beschwerde der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein gegen die Schweiz wurde der Regierung zugestellt. Die Bf. rügt das Verfahren vor dem Arbitragegericht des Sports in Lausanne, das sie auf Antrag der Internationalen Eislaufunion wegen – von ihr bestrittenen – Dopings zu einer zweijährigen Wettkampfsperre verurteilt hatte. Das Schweizerische Bundesgericht hatte als staatliche Letztinstanz die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK verneint. (Seite 643)