EuGRZ 2013
30. Dezember 2013
40. Jg. Heft 22-23

Informatorische Zusammenfassung

Manfred Nowak und Stephanie Krisper, Wien, messen den österreichischen Maßnahmevollzug am Recht auf persönliche Freiheit und erarbeiten sieben rechtspolitische Empfehlungen
«“Maßnahmenvollzug“ ist der in der Justiz gebräuchliche Begriff für die im österreichischen Strafgesetzbuch (StGB) vorgesehene Unterbringung gefährlicher – insbesondere „geistig abnormer“ – Täter. Im StGB und Strafvollzugsgesetz (StVG) wird die Formulierung „freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahmen“ verwendet. (...) Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich ausschließlich mit dem Maßnahmenvollzug nach § 21 StGB, denn das Hauptinteresse gilt der menschenrechtlich problematischen Situation, in der sich psychisch belastete Straftäter zwischen Strafrechtsvollzug und Gesundheitssystem wiederfinden.
Grundsätzlich ist zwischen dem Maßnahmenvollzug gegen zurechnungsunfähige (§ 21 Abs. 1 StGB) und zurechnungsfähige (§ 21 Abs. 2 StGB) „geistig abnorme Rechtsbrecher“ zu unterscheiden. Eine vorbeugende Maßnahme wird vom Gericht wegen einer strafbaren Handlung bei besonderer Gefährlichkeit des Täters anstelle der Strafe oder zusätzlich zu dieser verhängt und ist nicht zeitlich begrenzt.
Der Maßnahmenvollzug wurde von dem damaligen Justizminister Christian Broda und dem bekannten Psychiater Willibald Sluga konzipiert und im Rahmen der großen Strafrechtsreform 1974 eingeführt. Ihr Konzept sah eine Unterbringung in einer Zentralanstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher mit einer Kapazität von bis zu 500 Behandlungsplätzen und einem Bedienstetenschlüssel von 1:1 zu den Untergebrachten vor, wobei ein Schlüssel von 1:15 bzgl. der Ärzte, Psychologen und anderem akademischen Personal gelten sollte. Ein Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs. 2 StGB in Strafanstalten war damals nur vorläufig und zeitlich begrenzt möglich.
Nachdem am 1.1.1985 die Justizanstalt Göllersdorf mit einer beschränkten Kapazität von nur 100 Behandlungsplätzen in Betrieb genommen worden war, wurde durch die StVG-Novelle 1987 die Verlegung von nach § 21 Abs. 2 StGB Untergebrachten von der Maßnahmenspezialanstalt weg in mit weniger Behandlungskapazitäten ausgestatteten Sonderabteilungen von Normalanstalten des Freiheitsstrafvollzuges ermöglicht.
Es zeigt sich ein langfristiger Trend der Zunahme an Maßnahmenunterbringungen, insbesondere bei den wegen Unzurechnungsfähigkeit Untergebrachten (§ 21 Abs. 1 StGB). Am 1. September 2013 befanden sich 405 Untergebrachte gemäß § 21 Abs. 1 StGB im Maßnahmenvollzug; am 1. Jänner 2000 waren es 218, was einen Zuwachs von 86 % bedeutet. Noch stärker (um 118 %) stieg die Zahl der gemäß § 21 Abs. 2 StGB untergebrachten Personen: Am 1. Jänner 2000 befanden sich 207 Personen in der Maßnahme, am 1. September 2013 waren es 452 Personen.
Der gegenständliche Artikel untersucht die österreichische Rechtslage und Praxis des Maßnahmenvollzugs im Hinblick auf das Recht auf persönliche Freiheit in Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wobei wir uns insbesondere an jenen Standards orientieren, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Hinblick auf die deutsche Sicherungsverwahrung entwickelt wurden. Neben der einschlägigen Judikatur und Literatur stützen wir uns zum Teil auch auf persönliche Erfahrungen, die wir im Rahmen des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) gesammelt haben, der in Durchführung des Fakultativprotokolls zur UNO-Konvention gegen die Folter (OPCAT) mit 1. Juli 2012 bei der österreichischen Volksanwaltschaft (VA) eingerichtet wurde. Der Maßnahmenvollzug wurde von der VA zu einem ihrer Prüfschwerpunkte im Jahr 2013 erklärt.» (Seite 645)

Rüdiger Zuck, Stuttgart, unterzieht die Kammerrechtsprechung des BVerfG einer kritischen Würdigung
Der Autor nimmt zunächst die Allzuständigkeit der Kammern in den Blick, beschreibt den Weg über das Allgemeine Register, geht den Stufen der Begründungstechniken nach (Tenorbegründung, gesetzeswiederholende sowie inhaltliche Begründung), hinterfragt die Veröffentlichungspraxis (BVerfGK, Juris, bverfg.de), kritisiert beim Kammerverfahren dessen Intransparenz, bewertet die Binnenkompetenzen (Berichterstatter, Wissenschaftliche Mitarbeiter, Verfahrensdauer) und die Grenzen inhaltlicher Begründungen.
Im Hinblick auf die Bedeutung der Kammerrechtsprechung gelangt Zuck u.a. zu folgendem Ergebnis: «Ihr Stellenwert im Gericht selbst ist unverändert gering. Die Wissenschaft befasst sich kaum mit Nichtannahmebeschlüssen, allenfalls anlassbezogen. Das gilt im Großen und Ganzen auch für Entscheidungen nach § 93c BVerfGG. Das BVerfG misst sich selbst in erster Linie an seinen großen Senatsentscheidungen und daran orientiert sich – weitgehend – auch die Wissenschaft. Alle diese „großen“ Entscheidungen werden in Fachzeitschriften eingehend kommentiert. Kurzfristig findet auch eine Diskussion in der Tagespresse statt, in der Regel hervorgerufen durch die instruktiven Pressemitteilungen des BVerfG. Aber außerhalb der Sachverhaltsbetroffenen und des jeweiligen aktuellen parteipolitischen Interesses gehen die „großen“ Fälle an der breiten Öffentlichkeit vorbei. In der Rechtswirklichkeit ist es die Kammerrechtsprechung, die Eindruck macht und Einfluss ausübt (...).
„Das BVerfG“ ist die Summe der kleinen Entscheidungen, und das zutreffender Weise, weil die Kammerrechtsprechung insgesamt, und völlig unabhängig von inhaltlicher Detailkritik, die Aufgabe vom Ergebnis her glänzend bewältigt, das Verfassungsrecht lebendig zu halten und im Bewusstsein der Bürger zu verankern. Und auch wenn – eigentlich – die Kammerrechtsprechung nicht über die Senatsrechtsprechung hinaus kann: Der ständige Entscheidungsfluss sorgt zwingend dafür, dass sich die Verfassung – bei gleichbleibendem Text – fortentwickelt. Plakativ lässt sich sagen, und das ist hervorhebend und anerkennend gemeint: Die Kammern stellen eine verfassungsgerichtliche Amtsgerichtsbarkeit dar, eben eine Gerichtsbarkeit, die das Recht vom Papier in die Welt transferiert. Zu wünschen bleibt jedoch, dass die Kammerrechtsprechung ihrem Rang entsprechend der Öffentlichkeit effektiv und zugleich zeitnah zugänglich gemacht wird. Dazu gehört die möglichst vollständige Aufnahme von in der Sache begründeten Nichtannahmebeschlüssen in bverfg.de, wenigstens die Angabe des Gegenstands der Entscheidung (entsprechend den üblichen Eingangspassagen bei Entscheidungen nach § 93c BVerfGG) und ein der Schnelligkeit von Netzinformationen entsprechendes Vorgehen.» (Seite 662)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, verneint Anspruch eines lesbischen Paares (in eingetragener Lebenspartnerschaft) auf analoge Anwendung der Vaterschaftsvermutung (§ 1592 BGB), da die Abstammung des Kindes von der Partnerin der Mutter biologisch ausgeschlossen ist / Boeckel gegen Deutschland
Der EGMR erklärt die Rüge einer Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14) i.V.m. dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) für offensichtlich unbegründet und die Individualbeschwerde deshalb für unzulässig.
In der Begründung heißt es: «Der Gerichtshof nimmt die Argumentation der innerstaatlichen Gerichte zur Kenntnis, wonach § 1592 Abs. 1 BGB die – widerlegbare – Vermutung enthalte, dass der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, tatsächlich der biologische Vater des Kindes sei. Dieser Grundsatz wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass diese gesetzliche Vermutung möglicherweise nicht immer der tatsächlichen Abstammung entspricht. Der Gerichtshof merkt außerdem an, dass es sich nicht um einen Fall handelt, der die Elternschaft einer Transgender-Person oder eine Leihmutterschaft betrifft. Folglich kann, wenn ein Partner einer gleichgeschlechtlichen Beziehung ein Kind zur Welt bringt, aus biologischen Gründen ausgeschlossen werden, dass das Kind von dem anderen Partner abstammt. Der Gerichtshof akzeptiert unter diesen Umständen, dass keine Tatsachengrundlage für die gesetzliche Vermutung besteht, dass das Kind von der zweiten Partnerin abstammt.
In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen befindet der Gerichtshof, dass nicht gesagt werden kann, dass die Bf. sich im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Geburt vorgenommenen Eintragungen in die Geburtsurkunde in einer vergleichbaren Situation befanden wie Ehepartner. Folglich ist nicht ersichtlich, dass Art. 14 i.V.m. Art. 8 der Konvention verletzt worden ist.» (Seite 668)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, sieht in überlanger Dauer eines Verfahrens vor dem Gericht (EuG) eine Verletzung von Art. 47 Abs. 2 GRCh (Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes), lehnt eine Herabsetzung der Kartell-Buße ab und verweist auf eine gesonderte Schadensersatzklage vor dem EuG / Rs. Gascogne Sack Deutschland
Vor dem EuG hatte Gascogne Sack Deutschland GmbH gegen die von der Kommission wegen eines Kartells bei Industriesäcken aus Kunststoff verhängte Geldbuße geklagt. Das EuG hatte, wenn auch in einem überlangen Verfahren (knapp fünf Jahre und neun Monate), die von der Kommission verhängten Kartell-Bußen bestätigt. In der Sache weist der EuGH das Rechtsmittel gegen das EuG-Urteil zurück.
Zu den Folgen der überlangen Verfahrensdauer führt der EuGH u.a. aus: «Soweit die Rechtsmittelführerin die Aufhebung des angefochtenen Urteils und hilfsweise eine Herabsetzung der gegen sie festgesetzten Geldbuße beantragt, ist festzustellen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist in Ermangelung jeglicher Anhaltspunkte dafür, dass die überlange Verfahrensdauer Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits gehabt hat, nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen kann (...).
Diese Rechtsprechung beruht insbesondere auf der Erwägung, dass die Aufhebung des angefochtenen Urteils, wenn die Nichteinhaltung einer angemessenen Entscheidungsfrist keine Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits hat, dem vom Gericht begangenen Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht abhelfen kann.»
Über eine Schadensersatzklage wegen überlanger Verfahrensdauer hat das EuG in einer anderen Besetzung zu entscheiden als der, in der es mit dem gerügten Verfahren befasst war. (Seite 671)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, achtet strikt auf die Vermeidung auch nur des Anscheins der Befangenheit eines nebenamtlichen Richters (hier: Patentanwalt als Fachrichter (Referent)) beim Bundespatentgericht
«Ein Anschein der Befangenheit ergibt sich auch daraus, dass nicht der nebenamtliche Richter selbst, sondern ein anderer Anwalt seiner Kanzlei ein Mandat mit einer Prozesspartei unterhält bzw. kurz vorher unterhalten hat. Diesbezüglich unterscheidet das Bundesgericht nicht danach, ob der Auftrag vom richterlich tätigen Anwalt oder von einem seiner Kanzleikollegen ausgeführt wird (...). Der Mandant erwartet nicht nur von seinem Ansprechpartner innerhalb der Anwaltskanzlei, sondern von deren Gesamtheit Solidarität (...). Dies gilt nicht nur, wenn sich die beteiligten Anwälte dem Klienten gegenüber gemeinschaftlich zur sorgfältigen Vertragserfüllung verpflichtet haben, was bei Zusammenschlüssen von Anwälten zu einer einfachen Gesellschaft oder zu einer Kollektivgesellschaft in der Regel der Fall ist (...), sondern trifft erst recht zu für körperschaftlich organisierte Kanzleien, bei denen die juristische Person Vertragspartnerin des Klienten ist.» (Seite 679)

BGer bestätigt strenge Kriterien für die Zusicherung der Anonymität in einem Strafverfahren gegen Polizeibeamte einer Sondereinheit
Die Verweigerung der Anonymitätszusicherung durch den zur Strafuntersuchung wegen des Vorwurfs der Körperverletzung vom Regierungsrat des Kantons Aargau eingesetzten ausserordentlichen Staatsanwalt wurde damit begründet, dass die Frage des angeschossenen Privatklägers, wer von den zur Beendigung eines gewalttätigen Familienstreits von der örtlichen Polizei herbeigerufenen Beamten der Sondereinheit auf ihn geschossen hat, noch keinerlei Anhaltspunkte für Rachepläne bietet. (Seite 683)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, billigt gerichtliche Kontrolle der Angemessenheit vertraglich vereinbarter Vergütungen für Werknutzung im Urheberrecht (Übersetzungshonorare) als grundrechtskonform
Der Erste Senat weist die von einem betroffenen Verlag gegen die in zwei Fällen erfolgte gerichtliche Heraufsetzung der Übersetzer-Vergütungen eingelegte Verfassungsbeschwerde zurück. Die beiden Leitsätze lauten:
«Der Gesetzgeber darf die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit, das Entgelt für berufliche Leistungen einzelvertraglich zu vereinbaren, durch zwingendes Gesetzesrecht begrenzen, um sozialen oder wirtschaftlichen Ungleichgewichten entgegenzuwirken.
Eine Regelung im Urheberrecht, die einen Anspruch auf gerichtliche Kontrolle der Angemessenheit vertraglich vereinbarter Vergütungen für die Werknutzung gewährt, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.»
In der Begründung wird u.a. ausgeführt: «Wie auch bei sonstigen privatrechtlichen Regelungen, die der freien Vertragsgestaltung Grenzen setzen, geht es bei privatrechtlichen Preisregelungen um den Ausgleich widerstreitender Interessen (...). Insoweit handelt es sich nicht um einseitige Eingriffe des Staates in die Freiheitsausübung Privater, sondern um einen Ausgleich, bei dem die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen in Einklang zu bringen ist. Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und – unter Berücksichtigung des sozialstaatlichen Auftrags – nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.» (Seite 684)

Die rumänische Verfassungsrichterin Iulia Antoanella Motoc hat am 18. Dezember 2013 ihr neues Amt als Richterin des EGMR angetreten. (Seite 694)

EuGH-Generalanwalt Pedro Cruz Villalón spricht sich für Maßnahmen gegen eine massiv das Urheberrecht verletzende Website aus / Schlussanträge in der Rs. UPC Telekabel Wien
Im Ausgangsfall vor dem Obersten Gerichtshof (Wien) geht es um Klagen, die von einer österreichischen Filmproduktion und einem deutschen Filmverleih gegen den illegalen Zugriff auf Kinofilme angestrengt worden sind. (Seite 694)