EuGRZ 2014
28. November 2014
41. Jg. Heft 20-21

Informatorische Zusammenfassung

Markus Kotzur, Hamburg, kommentiert: „Wider den bloßen Verdacht – zur grundrechtssichernden Verantwortung des EuGH im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit“
«Maßstabsetzend wirkt dabei weniger ein immer feiner ziselierter dogmatischer Ausbau als vielmehr der unverstellte Blick auf effektiven Rechtsschutz. Er muss, das ist ein wichtiger Gradmesser seiner Effektivität, Macht sichtbar und auf diese Weise kontrollierbar machen. Wenn der Gerichtshof unüberprüfbarer Sanktion und Prävention einen Riegel vorschiebt, so nicht, weil er naiv die Notwendigkeit unterschätzt, im Kampf gegen globale terroristische Bedrohungen das rechtsstaatlich Mögliche auch umfassend zu ermöglichen. Es geht ihm allein darum, die Parameter des (Noch-)Möglichen zu konturieren. Dazu rechnen zuvörderst unabhängigen Gerichten zugängliche Kontrollmöglichkeiten. Die diesbezügliche Botschaft des Gerichtshofs ist von grundlegender Natur: die Selbstbehauptung des Rechtsstaats kann nur in „praktischer Konkordanz“ (K. Hesse) mit seiner Selbstbegrenzung gelingen. (...)
Es genügt nicht, eine grundrechtliche Überprüfung zwar zu ermöglichen, Prüfprogramm und Prüfungsdichte aber so auszugestalten, dass die Defizite der internationalen Ebene durch die unkontrollierte Hinnahme von Geheim(dienst)informationen auf der unionalen Ebene fortwirken. Gerade weil aufgrund der Kompetenzstrukturen im europäischen Verfassungsverbund (vgl. Art. 215 Abs. 2 AEUV) dem Gerichtshof der Union die maßgebliche richterliche Kontrollaufgabe überantwortet ist, muss er im „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ die leitentscheidende Rolle übernehmen und dabei wissen, dass seine Prüfungsmaßstäbe in vergleichbaren Verdachtskonstellationen eine wichtige Orientierungswirkung für mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte entfalten können respektive sollen. (...)
Entscheidend ist hier nicht nur, wie der Gerichtshof sich verselbständigenden mitgliedstaatlichen Sicherheitsapparaten bändigend gegenüber tritt, sondern auch, mit welcher Entschlossenheit er dem Geheimbereich exekutiver Geheimentscheidungen, dem „gubernativen Arcanum“, Grenzen zieht. Die Maßstabsbildung durch den EuGH beruht wiederum auf einer verfassungsrechtlichen Lesart des unionalen Primärrechts. Aus diesem folgt eine umfassende „konstitutionelle Bindung“ der Unionsexekutive bis hin zu ihrer politischen Spitze. (...)
Dem Gerichtshof ist es gelungen, klare, belastbare, vor allem aber berechenbare dogmatische Strukturen herauszuarbeiten, an denen sich unionale wie mitgliedstaatliche Exekutiven orientieren können. Sie sind gewarnt und haben die Möglichkeit, ihr Sanktionsregime komplementär zuden Luxemburger Vorgaben zur Überprüfbarkeit auszugestalten. Da der Gerichtshof seine Prüfungsstandards schrittweise ausgearbeitet hat, kommt die Warnung gewiss nicht überraschend, aber entschlossen. (...)
In welcher spezifischen Rolle auch immer der Gerichtshof handelt, so handelt er immer auch als Menschenrechtsgerichtshof und bleibt mit der Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten betraut, was auch eine verstärkende Hilfe gegenüber dem EGMR bedeutet. (...)
Wo er wider den bloßen Verdacht streitet und sich gegenüber der Exekutive durch einen differenzierten Kontrollanspruch behauptet, geht es also um mehr als lediglich effektiven Grundrechtsschutz. Es geht um Glaubwürdigkeit – um die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs selbst und um die Glaubwürdigkeit der Rechtsstaatlichkeit, als deren Hüter er sich begreift.» (Seite 589)

Theodor Schilling, Berlin, untersucht Rechtsschutzmöglichkeiten durch den EGMR gegen die Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht an den EuGH – „Art. 13 EMRK und der Rechtsschutz gegen den Richter“
Es sind dies Überlegungen aus Anlass des EGMR-Urteils im Fall Dhahbi gegen Italien, bei dem es darum ging, dass der italienische Kassationshof den Antrag auf Vorlage an den EuGH ohne jede Begründung übergangen und damit nach dem genannten Urteil Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hat.
Der Autor führt zunächst aus: «[Auch] der EGMR kontrolliert die unionsrechtliche Vorlagepflicht selbst unter dem Gesichtspunkt der Begründung der Verweigerung der Vorlage nicht voll. Vielmehr prüft er gründlich nur, ob die entsprechende Entscheidung mit Gründen versehen ist. Er prüft hingegen nicht, ob das innerstaatliche Gericht in der Auslegung oder Anwendung des einschlägigen (Unions-)Rechts geirrt hat.
Nach diesen Grundsätzen erklärte der EGMR die Individualbeschwerde in Ullens de Schooten für unbegründet. (...) In Vergauwen, und ganz ähnlich in Ferreira Santos Pardal, hielt der EGMR lediglich fest, dass der belgische Verfassungsgerichtshof bzw. der portugiesische Oberste Gerichtshof die Verweigerung der Vorlage ordnungsgemäß im Hinblick auf das Unionsrecht begründet habe. In Dhahbi hingegen hatte der Beschwerdeführer im innerstaatlichen Verfahren vor der Corte di Cassazione eine Vorlage an den EuGH verlangt. Im Urteil der Corte, das keinen Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH enthält, bleibt dieses Verlangen unerwähnt. Das, so der EGMR, lasse nicht erkennen, ob die Corte die Frage, deren Vorlage verlangt worden war, nicht für entscheidungserheblich, für klar oder für bereits entschieden erachtet oder das Verlangen schlicht ignoriert habe. Damit liegt hier ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der EGMR, wenn ein letztinstanzliches Gericht die Vorlage an den EuGH entgegen dem Verlangen des Beschwerdeführers verweigert hat, unter zwei Aspekten einen möglichen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK sieht: unter dem Aspekt des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter und unter dem der Begründungspflicht. Ein dritter Aspekt, die Gehörsrüge, die in Dhahbi relevant war, bleibt unerwähnt. Die Rolle, die der erste Aspekt im Prüfungsschema des EGMR spielt, ist dabei insofern weniger klar als die des zweiten, als der EGMR auf den gesetzlichen Richter nur abzustellen scheint, um den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 zu eröffnen, ohne die Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter als eigene rügefähige Verletzung des Art. 6 Abs. 1 anzusprechen. Das hat er freilich in anderem Zusammenhang getan: Eine nach nationalem Recht fehlerhafte Zusammensetzung der Richterbank hat er wiederholt als Verstoß gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter (a tribunal established by law / un tribunal établi par la loi) und somit als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 angesehen. Entsprechendes gilt für eine Besetzung der Richterbank, für die es kein hinreichendes nationales Gesetz gab, sowie selbst für Entscheidungen, mit denen ein Gericht klar seine Zuständigkeit nach nationalem Recht überschreitet. (...)
Dass Art. 13 [Recht auf wirksame Beschwerde] hier praktisch keine Rolle spielt, ist erstaunlich, denn die Bestimmung scheint eminent einschlägig zu sein. Das ergibt sich sowohl aus der Rechtsprechung des EGMR zur überlangen Verfahrensdauer als auch, rechtsvergleichend, aus derjenigen des Bundesverfassungsgerichts zur Gehörsrüge.»
Abschließend heißt es: «Die Erörterung von Dhahbi und den Vorgängerentscheidungen hat zwei systemwidrige Lücken in der Rechtsprechung des EGMR aufgezeigt. Zum einen hat der EGMR seine zutreffenden Erkenntnisse über das Verhältnis von Art. 13 zu Art. 6 Abs. 1 aus der Rechtsprechung über die überlange Verfahrensdauer nicht auf andere gerichtliche Verstöße gegen Konventionsverfahrensrechte übertragen. Zum anderen sieht der EGMR das Recht auf den gesetzlichen Richter zwar als wesentlichen Aspekt des Art. 6 Abs. 1, betrachtet es aber im vorliegenden Zusammenhang nicht als eigenständige Rüge, sondern weist ihm nur eine dienende Funktion gegenüber der Begründungsrüge zu. Beide Lücken scheinen nicht auf prinzipiellen Erwägungen zu beruhen. Zu vermuten ist vielmehr, dass die Beschwerdeführer dem EGMR die entsprechenden Erwägungen nicht oder doch nicht überzeugend genug vermittelt haben. Eine erneute Individualbeschwerde könnte dem EGMR Gelegenheit geben, seine Rechtsprechung zu überdenken.» (Seite 596)

Isabella Risini, Bochum, läßt in dem Urteil des EGMR zur gerechten Entschädigung in der Staatenbeschwerde Zypern gegen Türkei (IV) von 2014 „Eine Annäherung der primären und sekundären Pflichten aus der EMRK“ erkennbar werden
«Erstmals in der Geschichte der EMRK sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Mai 2014 im Fall Zypern ./. Türkei (IV) eine gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK im Rahmen einer Staatenbeschwerde zu.
Die Türkei wurde verurteilt, 90 Millionen Euro Ersatz für immateriellen Schaden (non-pecuniary damage) an Zypern zu leisten. Die Summe ist die nominell höchste seit Bestehen der EMRK für immateriellen Schaden.
Die Zahlung ist an den Staat Zypern zu leisten. Sie steht jedoch unter der Maßgabe, die Leistungen den einzelnen Betroffenen zukommen zu lassen. Ein Drittel der Summe ist für die Hinterbliebenen der 1.456 vermissten Personen vorgesehen, deren Schicksal und Verbleib in den zurückliegenden vier Jahrzehnten unklar geblieben waren. Zwei Drittel der Summe ist den Bewohnern der Karpas-Region zugedacht, eine griechisch-zypriotische Enklave im türkischen Nordteil der Insel. Die genaue Anzahl der Begünstigten stand zum Zeitpunkt des Urteils nicht fest. Unmittelbar nach dem Urteil erklärte der türkische Außenminister, dass die Türkei nicht bereit sei, die Summe zu entrichten.
Besonders interessant ist der Fall, weil die Rechtsfolgen bei Verletzung von Einzelpersonen im allgemeinen Völkerrecht die Schnittstelle zwischen Staatenverantwortlichkeit und diplomatischem Schutz betrifft. Die aufgeworfenen Fragen sind in diese tradierten Kategorien schwerlich einzuordnen, da eine Einzelperson auf der zwischenstaatlichen Ebene als potenziell Berechtigter eines Sekundäranspruchs auf gerechte Entschädigung einen dogmatischen Fremdkörper darstellt. Auf vertraglicher Ebene sind die angesprochenen Fragen, insbesondere in Art. 41 der Konvention, nur bruchstückhaft erfasst. (...)
Herausgestellt werden im Folgenden Besonderheiten der Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK im Vergleich und in Abgrenzung zum diplomatischen Schutz im allgemeinen Völkerrecht. Die sich ergebenden Fragen zur Identifizierung und zur Verteilung der zugesprochenen Geldsumme auf die Begünstigten (beneficiaries / bénéficiaires) werden beleuchtet. Das Verhältnis der primären und sekundären Pflichten der Türkei, also zum einen auf Beendigung der fortdauernden Verstöße gegen die Konvention auf Primärebene sowie die sekundäre Pflicht zur gerechten Entschädigung, wird herausgearbeitet. (...)
Das vorliegende Urteil nimmt die individuell Leidtragenden des vier Jahrzehnte langen Konflikts zwischen zwei Staaten in den Blick. Der Gerichtshof scheut nicht davor zurück, Art. 41 EMRK auch in Fällen anzuwenden, in denen eine große Zahl an Opfern zu beklagen ist. Die Annäherung der primären Verpflichtung aus der EMRK, die zugunsten der Einzelpersonen besteht, und der sekundären Verpflichtung zur gerechten Entschädigung, ist zu begrüßen.» (Seite 602)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, betont unter Bezug auf Art. 7 GRCh, dass die Erwähnung des Geburtsnamens im Reisepass zu keinem Missverständnis über den aus Vornamen und Familiennamen bestehenden eigentlichen Namen führen darf / Rs. U
Der Kläger des Ausgangsverfahrens wendet sich dagegen, dass die Stadt Karlsruhe es ablehnt, die Eintragung seines Namens (Dr. U) in seinem Reisepass eindeutig von der missverständlichen Hinzufügung des Geburtsnamens, der nach nationalem Personenstandsrecht nicht Teil seines Namens sei, zu trennen. Denn diese habe dazu geführt, dass er im internationalen Geschäftsverkehr und bei der Ausstellung von Visa als „Herr GEB [E]“, als „Herr [E U]“, als „Dr. U GEB [E]“ oder als [S E] Dr. [U] bezeichnet worden sei. (Seite 612

EuGH widerspricht der Konstitutionalisierung der GRCh durch den österreichischen VfGH [EuGRZ 2012, 331] grundsätzlich nicht, sofern dies mit der Vorlagepflicht letztinstanzlicher bzw. mit der Vorlagefreiheit sämtlicher Gerichte an den EuGH kompatibel auszulegen und anzuwenden ist / Rs. A gegen B u.a.
Auf die Vorlage des Obersten Gerichtshofs (OGH), der offensichtlich Zweifel an der Unionsrechtskonformität des genannten VfGH-Erkenntisses hat, antwortet der EuGH zunächst durchaus konziliant:
«Allerdings ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, in denen sich die (...) angeführte Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs befindet, dass ein solcher Antrag auf allgemeine Aufhebung von Gesetzen die Befugnis der ordentlichen Gerichte unberührt lässt, dem Gerichtshof – gemäß der vom Verfassungsgerichtshof aus dem Urteil Melki und Abdeli (...) übernommenen Formulierung – in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, und selbst nach Abschluss eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, die sie für erforderlich halten, jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens eine mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen. Dabei erachtet es der Verfassungsgerichtshof, wie aus Rn. 42 seiner Entscheidung [EuGRZ 2012, 335] hervorgeht, für maßgeblich, dass dem Gerichtshof nicht die Möglichkeit genommen wird, die Kontrolle der Gültigkeit von Sekundärrecht der Union am Maßstab des Primärrechts und der Charta auszuüben.»
Sodann bekräftigt der EuGH seine gefestigte Rechtsprechung, wonach «die Vorrangigkeit eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines nationalen Gesetzes, dessen Inhalt sich auf die Umsetzung zwingender Bestimmungen einer Unionsrichtlinie beschränkt, nicht die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs beeinträchtigen darf, eine Handlung der Union und insbesondere eine Richtlinie für ungültig zu erklären, da diese Zuständigkeit Rechtssicherheit gewährleisten soll, indem sie die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherstellt.»
Abschließend heißt es, es sei Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nationalen Rechtsvorschriften im Einklang mit diesen Rechtsvorschriften auszulegen sind. (Seite 616)

EuGH akzeptiert das Fehlen von Medikamenten und grundlegendem medizinischen Material (in Rumänien) als Anspruchskriterium eines Sozialversicherten für die Kostenübernahme einer Operation (am offenen Herzen) im EU-Ausland / Rs. Petru
Allerdings ist die Unmöglichkeit, die betreffende Krankenhausbehandlung im Wohnsitzmitgliedstaat aus den genannten Gründen nicht rechtzeitig zu erhalten, auf der Ebene sämtlicher Krankenhauseinrichtungen dieses Mitgliedstaats zu beurteilen. (Seite 623)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die relevanten gesetzlichen Regelungen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für verfassungsgemäß
Die beiden Leitsätze des Ersten Senats lauten: «Zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) dürfen die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden und muss die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein.
Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich in Orientierung am Warenkorbmodell einzelne Positionen herauszunehmen. Der existenzsichernde Regelbedarf muss jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden können, oder ist durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern.»
In der Entscheidung selbst liest es sich folgendermaßen: «Die Bestimmung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf durch den Gesetzgeber im Rahmen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch genügt den Anforderungen an eine hinreichend transparente, jeweils aktuell auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigende Bemessung der Leistungshöhe. Der Gesetzgeber hat die relevanten Bedarfsarten berücksichtigt, die für einzelne Bedarfspositionen aufzuwendenden Kosten mit einer von ihm gewählten, im Grundsatz tauglichen und im Einzelfall mit hinreichender sachlicher Begründung angepassten Methode sachgerecht, also im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und auf dieser Grundlage die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt (...). Es ist nicht erkennbar, dass er für die Sicherung einer menschenwürdigen Existenz relevante Bedarfsarten übersehen und die zu ihrer Deckung erforderlichen Leistungen durch gesetzliche Ansprüche nicht gesichert hat.» (Seite 627)

BVerfG bekräftigt, dass eine „Negativmitteilung“ im Strafprozess, dass nämlich keine Vorgespräche über eine Verständigung, d.h. über Bedingungen für ein bestimmtes Strafmaß stattgefunden haben (§ 243 Abs. 4 Satz 1 StPO), zu Beginn der Hauptverhandlung erfolgen muss. (Seite 646)

BVerfG betont zur Verständigung im Strafverfahren über Bedingungen für ein bestimmtes Strafmaß, dass der Angeklagte vor seiner Zustimmung über die nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt werden muss
«Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare) sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung. (...)
Eine Verständigung ist regelmäßig nur dann mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu vereinbaren, wenn der Angeklagte vor ihrem Zustandekommen nach § 257c Abs. 5 StPO über deren nur eingeschränkte Bindungswirkung für das Gericht belehrt worden ist. (...)
Bei einem Verstoß gegen die Belehrungspflicht wird daher im Rahmen der revisionsgerichtlichen Prüfung regelmäßig davon auszugehen sein, dass das Geständnis und damit auch das Urteil auf dem Unterlassen der Belehrung beruht.» (Seite 650)

BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde gegen Entzug des Doktorgrades durch die Universität Konstanz nicht zur Entscheidung an
Es ging um manipulierte und falsch dargestellte Daten in angeblich bahnbrechenden Veröffentlichungen eines Physikers. (Seite 653)

BVerfG zur geschützten Reichweite der Meinungsfreiheit bei heftiger Kritik eines unterlegenen Zivilklägers an der entscheidenden Richterin
Die Verurteilung des Bf. wegen Beleidigung gem. § 185 StGB wertet das BVerfG als Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG). Entgegen dem Urteil des LG Duisburg, dem sich das OLG Düsseldorf angeschlossen hatte, liegt gerade keine Schmähkritik vor. Weiter heißt es:
«Auch im Übrigen genügt die Abwägung nicht den verfassungsrechtlichen Maßstäben (...). Das Landgericht stellt einseitig auf den Ehrschutz ab, ohne die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers ausreichend zu würdigen. Insbesondere wird nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer das Schreiben zwar auch an die Gegenseite gesandt hat, den Adressatenkreis des Schreibens aber überschaubar hielt und sich neben dem Dienstvorgesetzten der Amtsrichterin auf den beklagten Anwalt und den Justizminister beschränkte. Zudem ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass sich der Beschwerdeführer im „Kampf ums Recht“ befand und ihm hierbei zur plastischen Darstellung seiner Position grundsätzlich erlaubt ist, auch starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen, ohne jedes Wort auf die Waagschale legen zu müssen.» (Seite 654)

EuGH schlägt dem Unionsgesetzgeber eine stufenweise Verdoppelung der Zahl der Richter am EuG vor
Ausgelöst wurde der Vorschlag, der in einem Dokument vom 13. Oktober 2014 an den Rat ausführlich dargelegt und begründet wird, durch die rapide steigende Überlastung des EuG und die dadurch bedingten länger werdenden Verfahrensdauern. Das führt dazu, dass das EuG in einzelnen Fällen nicht mehr in angemessenen Zeiträumen entscheiden kann. Wegen überlanger Verfahrensdauer vor dem EuG sind bereits die ersten Schadensersatzklagen vor dem EuGH anhängig. Insgesamt geht es bei diesen Rechtssachen, einschließlich derjenigen, die sich noch in einem vorgerichtlichen Stadium befinden, um Schadensersatzforderungen in Höhe von fast 20 Mio. Euro.
In einer ersten Stufe würde die Zahl der Richter am EuG, wie bereits 2011 vom EuGH vorgeschlagen, um zwölf, d.h. von 28 auf 40 erhöht. Die zweite Stufe bestünde in der Erhöhung der Richterzahl um sieben, die durch die Eingliederung des Gerichts für den öffentlichen Dienst (GöD) bewirkt würde, das im Jahr 2016 teilweise neu besetzt werden müsste. In der dritten Stufe käme es zu einer Erhöhung der Zahl der Richter am EuG um neun, was mit der teilweisen Neubesetzung des EuG im Jahr 2019 zusammenfiele.
Während die Vollversammlung des GöD den dieses Gericht betreffenden Vorschlag gebilligt hat, geht aus dem Dokument des Gerichtshofs hervor, dass die Vollversammlung des EuG es vorziehen würde, wenn das im Rechtszug ihm untergeordnete GöD weiter bestehen bliebe und ein weiteres (kleineres) Fachgericht für Markensachen geschaffen würde.
In der Begründung hebt der EuGH u.a. hervor, dass die Errichtung von Fachgerichten zur Lösung der Probleme keine gangbare Alternative darstelle. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Regierungen sich im Rat als unfähig erwiesen haben, ein kleineres Gericht – bei dem nicht jede Regierung einen Richter benennen kann – rechtzeitig zu besetzen.
Schließlich würde ein vergrößertes EuG flexibler in der Verteilung der Arbeitslasten sein, der Gerichtsaufbau der EU würde strukturell vereinfacht und die Kohärenz der Rechtsprechung insgesamt gestärkt. (Seite 656)

EGMR prüft staatliche Schutzpflichten gegen ausufernde häusliche Gewalt / Fall Kılıç gegen Türkei
Konkret geht es um das Schicksal einer Frau, die von ihrem Ehemann fortgesetzt misshandelt und schließlich getötet wurde. Die Menschenrechtsbeschwerde der Mutter wurde der Regierung mit Fragen zu Art. 2, 13, 14 i.V.m. Art. 2 sowie Art. 35 Abs. 1 EMRK vom Gerichtshofs zugestellt. (Seite 660