EuGRZ 2014 |
30. Dezember 2014
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41. Jg. Heft 22-23
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Informatorische Zusammenfassung
Georg Herbert, Berlin, spricht sich gegen jedwede Lockerung des Folterverbots aus: „Folter und andere Würdeverletzungen / Absoluter oder relativer Schutz der Menschenwürde?“
«Das Verbot der Folter ist notstandsfest und als absolutes Verbot jeder Abwägung mit entgegenstehenden Rechtsgütern entzogen.
Angesichts der eindeutigen Rechtslage überraschend werden in der juristischen, philosophischen und politikwissenschaftlichen Literatur seit rund zwei Jahrzehnten immer ausgefeiltere Versuche zur Aufweichung des Folterverbots unternommen. Die Überlegungen sind international meist durch die Bekämpfung des Terrorismus motiviert, in Deutschland wurden sie primär durch den Fall der Folterandrohung des Frankfurter Polizei-Vizepräsidenten gegen einen Kindesentführer ausgelöst und in der Folge auf terroristische Bedrohungsszenarien erstreckt. Im Folgenden werde ich mich mit den Kritikern des absoluten Folterverbots zunächst auf verfassungsrechtlicher Grundlage auseinander setzen, anschließend die rechtsphilosophische Fundierung des Folterverbots darstellen und endlich anhand einiger praktischer Konsequenzen dessen Aktualität diskutieren. (…)
Die juristischen Kritiker der absoluten Geltung des Folterverbots argumentieren (…) mit mehr oder weniger abstrakten Szenarien einer massiven Bedrohung des Lebens Dritter, zu deren Abwendung äußerstenfalls auch das Mittel der Folter eingesetzt werden müsse. (…)
Die derzeit radikalste Position ist die Propagierung eines von rechtsstaatlichen Bindungen gelösten „Feindrechts“, das den Achtungsanspruch der Menschenwürde nicht nur relativiert, sondern für eine Gruppe von Menschen prinzipiell negiert und damit auch kein „Recht“ ist. (…)
In dieser Zone der Rechtlosigkeit ist die Folter von vornherein kein Problem.
Noch einen großen Schritt weiter geht der Kölner Professor für Staatsphilosophie und Rechtspolitik Otto Depenheuer, der – im Gefolge der explizit antiliberalen Rechtsstaatskritik Carl Schmitts – einen generellen Vorrang staatlicher Selbstbehauptung gegenüber rechtsstaatlichen Hindernissen postuliert.»
Zur rechtsphilosophischen Fundierung der Menschenwürde führt der Autor aus:
«Die Menschenwürde ist das Fundament des absoluten Folterverbots, weil sie durch Folter ganz und gar negiert wird. Durch Folter wird der Mensch zum willkürlich verfügbaren Objekt herabgewürdigt. Kants kategorischer Imperativ, den Menschen nicht als bloßes Mittel einzusetzen, verkehrt sich bei der Folter ins Gegenteil. Folter instrumentalisiert die physische und psychische Verletzlichkeit des Menschen, um seine Willensfreiheit zu brechen. Folter ist der brutalstmögliche Zugriff auf die Würde des Menschen. Damit verletzt Folter zugleich die auf die Achtung der Menschenwürde gegründete Rechtsordnung als Zustand objektiver Anerkennung. Ein Staat, der das Folterverbot generell oder im Einzelfall missachtet oder Verletzungen duldet, steht nicht mehr auf dem Boden von Recht, Freiheit und Achtung der Menschenwürde.
Diese Auffassung wird zuweilen des „moralischen Absolutismus“ oder der Lebensfremdheit geziehen und scheinbar als „ein gefährlicher und irriger Standpunkt“ entlarvt. Der Einwand blendet den Achtungsanspruch der Menschenwürde als Fundament des modernen Rechtsstaats aus. Er negiert, dass schon die erste Ausnahme vom Folterverbot Sonderrecht schafft und die Grenzen zwischen Gültigkeit und Utilität verwischt. Er marginalisiert die Bedeutung der Legitimität staatlichen Handelns und seiner moralischen Glaubwürdigkeit für das politische Vertrauen der Bürger. Er irrt in der Vorstellung, eine punktuelle, aus Nützlichkeitsdenken motivierte Lockerung des Folterverbots bleibe folgenlos für die politische Kultur im Innern und in ihren Außenwirkungen. Die Missachtung existenzieller Grenzen staatlicher Herrschaftsausübung entfaltet eine Eigendynamik, reduziert Hemmschwellen und setzt neue Gewaltbereitschaft frei.» (Seite 661)
Ingo Kraft, Leipzig, untersucht den „Einfluss des Art. 6 EMRK auf die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit“
«In dem grund- und menschenrechtlichen Mehrebenensystem der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ergeben sich prozessuale Garantien mit Bedeutung für den Verwaltungsprozess auf verschiedenen Stufen. Für die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit stand dabei schon immer das Grundgesetz im Vordergrund. Denn es enthält zum einen mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eine spezifisch auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit zielende grundrechtliche Gewährleistung. Zum anderen gelten die allgemeinen Prozessgrundrechte wie die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und eines fairen Verfahrens auch für den Verwaltungsprozess. Schließlich hatte auf der einfachgesetzlichen Ebene bereits die Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 die Verwaltungsgerichte in § 1 VwGO als eigenständige, von der Verwaltung unabhängige Gerichte ausgebildet, die – anders als der französische Conseil d'État und andere Staatsräte – ausschließlich mit Rechtsprechungsaufgaben betraut sind (§ 39 VwGO). Darüber hinaus waren das Mündlichkeits- und Öffentlichkeitsprinzip auf einfachgesetzlicher Ebene geregelt worden. Die ausdifferenzierte Rechtsprechung zu den o.g. verfassungsrechtlichen Prozessgewährleistungen des Grundgesetzes, die mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht auch gegen letztinstanzliche gerichtliche Entscheidungen verteidigt werden können, hat in Deutschland von Beginn an weitestgehend konventionskonforme Standards gesetzt. Erst in neuerer Zeit sind hinsichtlich der überlangen Verfahrensdauer Reibungsflächen zwischen der Rechtsprechung des EGMR und der der deutschen Verwaltungsgerichte aufgetreten. Die Bewältigung dieser Probleme soll nach einer Vorstellung der prozessualen Grundrechte des Grundgesetzes beleuchtet werden. Ein kurzer Blick auf Art. 47 GRCh schließt die Betrachtungen ab.»
Zu den «Reibungsflächen» gehört in erster Linie das Problem der überlangen Verfahrensdauer, dem abzuhelfen der deutsche Gesetzgeber sich bemüht hat: «Die Haftung für überlange Gerichtsverfahren kann – insbesondere mit der vorgesehenen Entschädigung immaterieller Nachteile – den politischen Druck aufRegierung und Parlament in Richtung auf eine funktionsgerechte personelle Ausstattung der Justiz erhöhen. Denn mit der Geldentschädigung steht nunmehr eine haushaltswirksame Größe im Raum. Diese kann auf Dauer dazu beitragen, dass sich Finanzmittel, die den Gerichten unmittelbar zugutekommen, im Hinblick auf einen verminderten Aufwand für Verzögerungsentschädigungen in finanzieller Hinsicht rentieren. (…)
Die Lösung des deutschen Gesetzgebers erscheint ausgewogen und konventionskonform. Eine offene Flanke in der durch die Rechtswegaufspaltung auf fünf Gerichtsbarkeiten gekennzeichneten Gerichtsorganisation der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 95 Abs. 1 GG) könnte allenfalls darin bestehen, dass die Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Primär- und Sekundäransprüche in einem Prozess (im Wege von Haupt- und Hilfsbegehren) vor demselben Gericht ausgeschlossen ist. Denn über Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche u.a. aus Amtshaftung entscheiden nicht die Verwaltungsgerichte, sondern die ordentliche Gerichte (Art. 34 Satz 3 GG; § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Dadurch ist ein Betroffener darauf verwiesen, einen Amtshaftungsanspruch wegen dessen Subsidiarität (§ 839 Abs. 3 BGB) erst nach rechtskräftigem Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (z.B. auf Verpflichtung zur Erteilung einer Baugenehmigung) in einem zweiten Prozess vor den Zivilgerichten geltend machen zu können. Die prozessuale Durchsetzung des Primäranspruchs vor den Verwaltungsgerichten und die erst im Anschluss daran eröffnete Möglichkeit zur Geltendmachung eines ggf. bestehenden Sekundäranspruchs vor den Zivilgerichten legt die Annahme einer systemimmanenten überlangen Verfahrensdauer nahe.» (Seite 666)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert Kriterien für den Ausschluss nicht erwerbstätiger EU-Ausländer von besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen (Sozialleistungen) / VO 883/2004 und RL 2004/38/EG / Rs. Dano
Die aus Rumänien stammende Klägerin des Ausgangsverfahrens hat keinen Schulabschluss, keinen erlernten Beruf, war weder in Rumänien noch in Deutschland erwerbstätig. Sie wohnt bei ihrer Schwester in Deutschland und bezieht für ihren Sohn Kindergeld in Höhe von 184 Euro monatlich und einen Unterhaltszuschuss, da der Vater unbekannt ist, in Höhe von 133 Euro monatlich. Verweigert wird ihr die Grundsicherung nach dem SGB II und dem Sohn Sozialgeld sowie anteilige Kosten für Unterkunft und Heizung. Dies beanstandet der EuGH nicht:
«Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem in ihrem zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern. (…)
Ein Mitgliedstaat muss daher gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen.» (Seite 675)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt die verdeckte Vorermittlung nach § 32e PolizeiG/ZH als rechtsstaatsgemäß, beanstandet jedoch die polizeiliche Überwachung geschlossener Internet-Foren nach § 32f PolG/ZH als unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre
«Zusammenfassend ergibt sich, dass § 32f PolG/ZH mit dem Schutz des Fernmeldeverkehrs im Sinne von Art. 13 Abs. 1 BV nicht vereinbar ist, soweit er die Überwachung der Kommunikation in geschlossenen Internetforen bzw. „Closed User Groups“, die der Privatsphäre zuzurechnen sind, ohne Genehmigung und nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit durch eine unabhängige richterliche Instanz zulässt. Die Beschwerde ist in diesem Sinn gutzuheissen und § 32f PolG/ZH aufzuheben.» (Seite 683)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in der Ablehnung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen der Unterbringung in Kinderheimen der ehemaligen DDR durch das OLG Naumburg einen Verstoß gegen das Willkürverbot
«Schlechterdings unhaltbar ist eine fachgerichtliche Entscheidung vielmehr erst dann, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird.» Das ist, wie ausführlich begründet wird, hier der Fall. (Seite 691)
BVerfG unterstreicht die Reichweite arbeitsvertraglicher Festlegung glaubensbezogener Loyalitätserwartungen durch kirchliche Arbeitgeber und zieht der Beurteilungskompetenz staatlicher Gerichte in Kündigungsschutzverfahren Grenzen
Es geht um die Kündigung eines katholischen Chefarztes nach dessen Scheidung und Wiederverheiratung durch ein kirchliches Krankenhaus. Das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde der Trägerin des Krankenhauses gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts statt, in dem die Fortführung des Arbeitsverhältnisses als zumutbar gewertet wurde.
In den Leitsätzen heißt es: «Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfasst alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen. Die Formulierung des kirchlichen Proprium obliegt allein den Kirchen und ist als elementarer Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich geschützt.
Die staatlichen Gerichte haben im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche zu überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. Sie haben sodann unter dem Gesichtspunkt der Schranken des „für alle geltenden Gesetzes“ eine Gesamtabwägung vorzunehmen, in der die – im Lichte des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen verstandenen – kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit mit den Grundrechten der betroffenen Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen auszugleichen sind. Die widerstreitenden Rechtspositionen sind dabei jeweils in möglichst hohem Maße zu verwirklichen.» (Seite 698)
BVerfG billigt Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Schiffsarzt des Segelschulschiffs „Gorch Fock“ wegen fahrlässiger Tötung nach dem Tod einer Offiziersanwärterin
«Die dem angegriffenen Beschluss [des OLG Schleswig-Holstein] vorausliegenden Entscheidungen der Staatsanwaltschaft, insbesondere der Bescheid des Generalstaatsanwalts vom 8. März 2012, belegen, dass die von den Strafverfolgungsbehörden durchgeführten Ermittlungen gewissenhaft erfolgt sind und dass sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für einen hinreichenden Tatverdacht ergeben haben. Die Annahme der Generalstaatsanwaltschaft, mögliche Beschwerden der Verstorbenen seien von dieser nicht gegenüber dem Schiffsarzt angezeigt worden, erscheint nicht willkürlich und ist aus verfassungsrechtlicher Sicht daher nicht zu beanstanden.» (Seite 719)
Ministerkomitee des Europarates, Straßburg, beschließt Aufwertung des Evaluierungsausschusses für die berufliche Geeignetheit der von den Regierungen benannten Richter-Kandidaten für den EGMR. (Seite 721)
Schlussanträge von EuGH-Generalanwältin Sharpston / Asylantrag eines US-amerikanischen Soldaten in Deutschland nach Desertion zur Vermeidung eines erneuten Irak-Einsatzes / Vorlage des VG München / Rs. Shepherd (Seite 722)