EuGRZ 2015
10. November 2015
42. Jg. Heft 19-21

Informatorische Zusammenfassung

Patricia M. Schiess Rütimann, Zürich, untersucht die „Unparteilichkeit von Verfassungsrichtern und deren Ablehnung in großer Zahl wegen Besorgnis der Befangenheit„
Ausgangspunkt ist das EGMR-Urteil im Fall A.K. gegen Liechtenstein vom 9. Juli 2015, das die Autorin folgendermaßen einordnet: «Das Urteil A.K. ./. Liechtenstein gehört zu den wenigen Urteilen, in denen sich der EGMR mit einem Antrag auf Ablehnung von Verfassungsrichtern beschäftigt, der mit der Besorgnis ihrer Parteilichkeit begründet wird.
Der EGMR kommt zum Ergebnis, es habe bei den beteiligten Verfassungsrichtern keine subjektive Befangenheit vorgelegen (subjektiver Test, Ziff. 73). Bezüglich des vom liechtensteinischen Staatsgerichtshof (StGH) im Fall A.K. eingeschlagenen Verfahrens, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers wegen Befangenheit der Richter innerstaatlich abgelehnt wurde, stellt der EGMR jedoch eine Verletzung von Art. 6 EMRK fest (objektiver Test, Ziff. 77 ff.). Soweit der Gerichtshof auf die Herausforderungen für die Gerichtsorganisation in Kleinstaaten eingeht, bleiben Fragen offen, mit denen sich der nachstehende Beitrag in den Abschnitten IV. bis VII.befasst.»
Die vom EGMR in seiner Rechtsprechung gefestigten Grundsätze [die angegebenen Ziff. beziehen sich auf das oben genannte Urteil] lauten: «Der EGMR unterscheidet bezüglich der Unparteilichkeit des Gerichts zwischen dem subjektiven Test, der die Überzeugung und das Verhalten eines einzelnen Richters betrifft, und dem objektiven Test (Ziff. 65). Während die subjektive Unparteilichkeit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird (Ziff. 66), kommt es beim objektiven Test auch auf den Anschein an. Oder wie der EGMR auch in diesem Urteil wiederholt (Ziff. 67): „Justice must not only be done, it must also be seen to be done.„ Das Vertrauen in die Unparteilichkeit kann deshalb auch durch funktionelle Gründe zerstört werden. Der internen Organisation des Gerichts kommt dabei grosse Bedeutung zu. Sie muss so ausgestaltet sein, dass alle vernünftig erscheinenden Zweifel an der Unparteilichkeit ausgeschlossen sind. Von Bedeutung sind dabei insbesondere auch die Regelung des Ausschlusses von Richtern wegen Befangenheit und das Verfahren, in dem über Ausschlussbegehren entschieden wird. Der EGMR ruft dabei (Ziff. 68, wiederholt in Ziff. 78) seine ständige Rechtsprechung in Erinnerung. Wenn gegen mehrere Richter derselbe Vorwurf erhoben werde, gehe es nicht an, dass der eine Richter bezüglich desselben Vorwurfs über die Unbefangenheit der anderen Richter entscheide. Würden jedoch nur allgemeine und abstrakt formulierte Gründe für eine Befangenheit vorgebracht, drohe eine Lähmung des ganzen Systems, wenn keiner der als befangen bezeichneten Richter über den Vorwurf der Befangenheit entscheiden könnte. Der EGMR bezeichnet dann (Ziff. 78) das Vorbringen solcher allgemeinen Gründe ohne Hinweis auf spezifische und/oder wesentliche Fakten als missbräuchlich. In solchen Fällen wecke es keine Zweifel an der Unparteilichkeit, wenn auch die der Befangenheit bezichtigten Richter über ihre eigene Befangenheit mitentscheiden könnten.»
Die Autorin geht rechtsvergleichend auf die Situation in Luxemburg, Belgien, Deutschland und Österreich ein und weist auf mögliche gerichtsorganisatorische Schwierigkeiten in Kleinstaaten hin, die der EGMR in seinem Urteil im Fall A.K. ./. Liechtenstein nicht angesprochen hat. (Seite 549)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt die Abweisung einer Verzögerungsbeschwerde (§ 97b BVerfGG) wegen eines ungewöhnlich langen Verfahrens (4 J., 6 M.) durch das BVerfG / Peter gegen Deutschland
«Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Anbetracht der besonderen Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Bf. und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Bf. (…)
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Auslegung des Grundgesetzes durch das BVerfG verbindlich ist. Da seine Entscheidungen sich über den Einzelfall hinaus auswirken und teilweise sogar Gesetzeskraft haben, bedürfen diese in jedem einzelnen Fall, der nicht offensichtlich unzulässig ist, äußerster Sorgfalt. Der Gerichtshof teilt die Auffassung, dass Fällen, die hinsichtlich des öffentlichen Interesses von besonderer Bedeutung sind, Vorrang einzuräumen ist. (…)
Hinsichtlich der Bedeutung des Rechtsstreits für den Bf. erkennt der Gerichtshof die Einschätzung des BVerfG an, wonach die Rechtssache für den Lebensunterhalt des Bf. nicht von unmittelbarer Relevanz gewesen sei, da er zwischenzeitlich eine monatliche Hinterbliebenenrente bezog und die Beschwerde lediglich Nachzahlungsansprüche betroffen habe. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass der Bf. keine Beweise vorgebracht hat, die das Gegenteil belegen würden.
Bei der Würdigung der Komplexität des Falles stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei der Frage der Ungleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen Paaren in eingetragenen Lebenspartnerschaften im Hinblick auf Rentenansprüche um einen komplexen Sachverhalt handelte, der weiterer Prüfung bedurfte. Der Gerichtshof erkennt die Entscheidung des BVerfG an, den vorliegenden Fall in diesen allgemeinen Zusammenhang zu stellen, auch wenn es sich letztlich herausstellte, dass das entscheidungserhebliche Kriterium die Frage der Rückwirkung war.»
Abschließend gelangt der EGMR zu folgender Würdigung: «Unter den besonderen Umständen der vorliegenden Rechtssache erkennt der Gerichtshof deshalb die Einschätzung der Beschwerdekammer, dass das Verfahren ungewöhnlich lang, jedoch nicht unangemessen lang gewesen sei, an. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Gerichtshof unter besonderer Berücksichtigung der Tatsache, dass der Fall des Bf. mit einer begründeten Kammerentscheidung [1 BvR 170/06] beschieden wurde, in der die vom Gerichtshof entwickelten Kriterien zur Anwendung kamen und Erklärungen zu den vom Bf. erhobenen Fragen gegeben wurden.» (Seite 557)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, stellt in der causa Facebook fest, ein angemessenes Schutzniveau für die aus der EU in die USA übermittelten personenbezogenen Daten sei nicht gewährleistet, die unkritische Safe-Harbor-Entscheidung der EU-Kommission (2000/520) sei ungültig und die Prüfungsbefugnisse sowie Untersuchungs-, Einwirkungs-, und Klagebefugnisse nationaler Datenschutzbehörden sowie der Zugang für Einzelpersonen zu den nationalen Gerichten seien nicht zu beschränken / Rs. Schrems
Allerdings liege die Zuständigkeit, einen Rechtsakt der Union für ungültig zu erklären, allein beim EuGH. Wenn nationale Gerichte Zweifel an der Gültigkeit eines EU-Rechtsaktes hätten, stehe ihnen das Vorlageverfahren an den EuGH offen.
Auf das Vorabentscheidungsersuchen des irischen High Court, vor dem Herr Schrems gegen die untätige irische Datenschutzbehörde klagt [Irland ist Standort u.a. des Facebook-Servers, von dem aus die Daten in die USA übermittelt werden] führt der EuGH (Große Kammer) u.a. aus:
• «Im vorliegenden Fall sind die Grundsätze des „sicheren Hafens„ nach Abs. 2 von Anhang I der Entscheidung 2000/520 „ausschließlich für den Gebrauch durch US-Organisationen bestimmt, die personenbezogene Daten aus der Europäischen Union erhalten, um sich für den ‚sicheren Hafen' und die daraus erwachsende Vermutung der ‚Angemessenheit' des Datenschutzes zu qualifizieren„. Diese Grundsätze gelten somit nur für selbstzertifizierte US-Organisationen, die aus der Union personenbezogene Daten erhalten, ohne dass von den amerikanischen Behörden die Einhaltung der genannten Grundsätze verlangt wird.
Zudem betrifft die Entscheidung 2000/520 nach ihrem Art. 2 „nur die Angemessenheit des Schutzes, der in den Vereinigten Staaten nach den entsprechend den FAQ [Frequent Asked Questions] umgesetzten Grundsätzen [des ‚sicheren Hafens'] gewährt wird, um die Anforderungen des Artikels 25 Absatz 1 der Richtlinie [95/46] zu erfüllen„; sie enthält dagegen keine hinreichenden Feststellungen zu den Maßnahmen, mit denen die Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internationaler Verpflichtungen im Sinne von Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie ein angemessenes Schutzniveau gewährleisten. (…)
Darüber hinaus verlangt der Schutz des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens auf Unionsebene vor allem, dass sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Notwendige beschränken (…).
Nicht auf das absolut Notwendige beschränkt ist eine Regelung, die generell die Speicherung aller personenbezogenen Daten sämtlicher Personen, deren Daten aus der Union in die Vereinigten Staaten übermittelt wurden, gestattet, ohne irgendeine Differenzierung, Einschränkung oder Ausnahme anhand des verfolgten Ziels vorzunehmen und ohne ein objektives Kriterium vorzusehen, das es ermöglicht, den Zugang der Behörden zu den Daten und deren spätere Nutzung auf ganz bestimmte, strikt begrenzte Zwecke zu beschränken, die den sowohl mit dem Zugang zu diesen Daten als auch mit deren Nutzung verbundenen Eingriff zu rechtfertigen vermögen (…).
Insbesondere verletzt eine Regelung, die es den Behörden gestattet, generell auf den Inhalt elektronischer Kommunikation zuzugreifen, den Wesensgehalt des durch Art. 7 der Charta garantierten Grundrechts auf Achtung des Privatlebens (…).
Desgleichen verletzt eine Regelung, die keine Möglichkeit für den Bürger vorsieht, mittels eines Rechtsbehelfs Zugang zu den ihn betreffenden personenbezogenen Daten zu erlangen oder ihre Berichtigung oder Löschung zu erwirken, den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat nämlich jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Insoweit ist schon das Vorhandensein einer wirksamen, zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dienenden gerichtlichen Kontrolle dem Wesen eines Rechtsstaats inhärent (…).
Nach den namentlich in den Rn. 71, 73 und 74 des vorliegenden Urteils getroffenen Feststellungen erfordert der Erlass einer Entscheidung der Kommission nach Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46 die gebührend begründete Feststellung dieses Organs, dass das betreffende Drittland aufgrund seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internationaler Verpflichtungen tatsächlich ein Schutzniveau der Grundrechte gewährleistet, das dem in der Rechtsordnung der Union garantierten Niveau, wie es sich insbesondere aus den vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils ergibt, der Sache nach gleichwertig ist.
Die Kommission hat jedoch in der Entscheidung 2000/520 nicht festgestellt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika aufgrund ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder internationaler Verpflichtungen tatsächlich ein angemessenes Schutzniveau „gewährleisten„.
Daher ist, ohne dass es einer Prüfung des Inhalts der Grundsätze des „sicheren Hafens„ bedarf, der Schluss zu ziehen, dass Art. 1 der Entscheidung 2000/520 gegen die in Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 95/46 im Licht der Charta festgelegten Anforderungen verstößt und aus diesem Grund ungültig ist.»
• Im Übrigen entziehe die Kommission mit ihrer Entscheidung 2000/520 in Art. 3 den nationalen Datenschutzbehörden Befugnisse, die ihnen nach Art. 28 RL 95/46/EG zustehen.
• Da die Art. 1 und 3 der Entscheidung 2000/520 untrennbar mit deren Art. 2 und 4 verbunden seien, berühre deren Ungültigkeit die Gültigkeit der gesamten Entscheidung, weshalb die Entscheidung insgesamt ungültig sei. (Seite 562)

EuGH verlangt Offenlegung der an der Ausarbeitung des Leitfadens für die Zulassung von Pestiziden konkret beteiligten externen Gutachter / Rs. ClientEarth und PAN Europe gegen EFSA
Die Weigerung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), Zugang zu den entsprechenden Dokumenten zu gewähren, ist rechtswidrig. Das Transparenzgebot überwiege in diesem Fall Datenschutz und Privatsphäre. Bezüglich der betreffenden Gutachter müsse die Überprüfung bzw. Widerlegung der behaupteten Industrie- und Lobbynähe möglich sein. (Seite 575)

EuGH besteht auf Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsurteilen anderer EU-Staaten im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen (VO(EG) Nr. 44/2001) / Rs. Diageo Brands
Verstoß gegen ordre public des Vollstreckungsstaates nur ausnahmsweise ein Versagungsgrund der Anerkennung; Fundamentale Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens. Der Kläger des Ausgangsverfahrens im Vollstreckungsstaat(Niederlande) hatte es versäumt, die Möglichkeiten des Rechtswegs zum Kassationshof im Ursprungsmitgliedstaat (Bulgarien) auszuschöpfen und so ggf. eine Vorlage durch das letztinstanzliche Gericht an den EuGH zu erzwingen. (Seite 579)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Anspruch auf technische Erleichterungen (Verwendung eines Computers) als Schreibhilfe bei der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium aufgrund einer Behinderung
Dies sei ein in Auslegung des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV) ermittelter Nachteilsausgleich. Die Aufnahmeprüfung sei so rasch wie möglich unter Bedingungen zu wiederholen, welche die Behinderung berücksichtigen. (Seite 586)

Belgischer Verfassungsgerichtshof (Belg. VfGH), Brüssel, konkretisiert Kriterien bei der Ablehnung von Verfassungsrichtern wegen Besorgnis der Befangenheit
Entsprechende Anträge von „Vlaamse Concentratie„ und „Vrijheidsfonds„ werden abelehnt. (Seite 589)
Siehe in diesem Zusammenhang den Aufsatz von Patricia M. Schiess Rütimann „Unparteilichkeit von Verfassungsrichtern und deren Ablehnung in großer Zahl wegen Besorgnis der Befangenheit„ oben S. 549 (in diesem Heft).

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt Eilentscheidung der Bundesregierung zum Einsatz von Bundeswehrsoldaten zur Evakuierung deutscher Staatsangehöriger aus Libyen
Organstreit-Antrag der Bundestagsfraktion von Bündnis90/DIE GRÜNEN wird als unbegründet zurückgewiesen. Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten:
«1. Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt ist nicht auf Einsätze bewaffneter Streitkräfte innerhalb von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit beschränkt, sondern gilt allgemein für bewaffnete Einsätze deutscher Soldaten im Ausland und unabhängig davon, ob diese einen kriegerischen oder kriegsähnlichen Charakter haben.
2. Bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung ausnahmsweise berechtigt, den Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorläufig allein zu beschließen. In diesem Fall muss sie das Parlament umgehend mit dem fortdauernden Einsatz befassen und die Streitkräfte auf Verlangen des Bundestages zurückrufen.
3. Die Voraussetzungen dieser Eilentscheidungsbefugnis der Bundesregierung sind verfassungsgerichtlich voll überprüfbar.
4. Ist ein von der Bundesregierung bei Gefahr im Verzug beschlossener Einsatz zum frühestmöglichen Zeitpunkt einer nachträglichen Parlamentsbefassung bereits beendet und eine rechtserhebliche parlamentarische Einflussnahme auf die konkrete Verwendung der Streitkräfte deshalb nicht mehr möglich, verpflichtet der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt die Bundesregierung nicht, eine Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Einsatz herbeizuführen. Die Bundesregierung muss den Bundestag jedoch unverzüglich und qualifiziert über den Einsatz unterrichten.» (Seite 593)

BVerfG lehnt isolierte Angreifbarkeit von Urteilsgründen (hier: des Bundesarbeitsgerichts) durch Vb. der im Ausgangsverfahren erfolgreichen Partei ab
Es geht um den Ausschluss des Streikrechts in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen durch kirchenrechtliche Arbeitsrechtsregelungen (sog. „Dritter Weg„). (Seite 608)

BVerfG bekräftigt Pressefreiheit und Informantenschutz
Die Durchsuchung einer Redaktion (der Berliner Morgenpost) und einer Journalisten-Wohnung (§§ 102, 105 StPO) sowie Beschlagnahme von redaktionellem Datenmaterial im Rahmen von Ermittlungen gegen einen Polizeibeamten waren verfassungswidrig. (Seite 615)

BVerfG hält Verletzung der Menschenwürde bei Unterbringung in einer Einzelzelle von nur 5,25 qm wegen dreitägiger Überschreitung der vom Landesverfassungsgericht festgelegten Übergangsfrist für gegeben
Die Vb. betrifft eineAmtshaftungsklage gegen das Land Berlin . Das BVerfG betont die Pflicht der Behörden, nach erfolgter Klärung der Rechtslage (Beschluss des LVerfG Berlin vom 3. November 2009) zeitnah zu reagieren. (Seite 618)

BVerfG gibt einer Verzögerungsbeschwerde wegen unangemessener Verfahrensdauer (2½ J. von insgesamt 5½ J.Verfahrensdauer) statt
Im Ausgangsverfahren geht es um arbeitsgerichtliche Entscheidungen wegen Diskriminierung einer Frau durch schlechtere Bezahlung im Vergleich zu einem gleichwertig beschäftigten männlichen Kollegen (Nachzahlung der Gehaltsdifferenz), Übergangenwerden bei einer Beförderung und Mobbing.
Der Grund für die unangemessene Verfahrensdauer liegt in der lang dauernden innergerichtlichen Uneinigkeit über die Senatszuständigkeit. Das Verfahren wurde durch Nichtannahmebeschluss unter Verweis auf den von der Bf. zwischenzeitlich angenommenen, vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg schriftlich unterbreiteten, Vergleichsvorschlag beendet.
Ein materieller Schaden wird vom BVerG verneint, allerdings wird wegen immateriellen Schadens eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro zugesprochen. (Seite 621)

BVerfG verhängt Missbrauchsgebühr in Höhe von 1.000 Euro wegen pauschaler Ablehnung von elf Bundesverfassungsrichtern
Zunächst macht das BVerfG deutlich, dass der Gefahr einer Beschlussunfähigkeit des Senats bzgl. der Frage der Befangenheit durch analoge Anwendung von § 19 BVerfGG (Unzulässigkeit der pauschalen Ablehnung von Richtern und Richterinnen) zu begegnen ist.
Zur Missbräuchlichkeit der Beschwerde führt das Gericht aus: «Jedem Einsichtigen wäre ohne Schwierigkeiten erkennbar gewesen, dass eine Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen über frühere Verfassungsbeschwerden offensichtlich unstatthaft und verfristet ist. Jeder Einsichtige hätte zudem erkannt, dass die vorliegende Verfassungsbeschwerde den Begründungsanforderungen nicht einmal ansatzweise genügt und damit offensichtlich unzulässig ist. Der pauschale Vorwurf der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen und bloße Unterstellungen genügen den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG offensichtlich nicht. Eine derart sinnentleerte Inanspruchnahme der Arbeitskapazität behindert das Bundesverfassungsgericht bei der Erfüllung seiner Aufgaben.» (Seite 627)

BVerfG nimmt Vb. gegen Abweisung einer presserechtlichen Auskunftsklage durch das Bundesverwaltungsgericht nicht zur Entscheidung an
Der Bf. beantragte eine detaillierte Auskunft über die N.S.-Vergangenheit von Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes (NSDAP, SS, Gestapo, Abteilung „fremde Heere Ost„), untergliedert nach hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern in den Jahren 1950, 1955, 1960, 1970, 1980.
Der bislang nur landesrechtlich geregelte Auskunftsanspruch der Presse verschafft jedoch nur Zugang zu solchen Informationen, die bei öffentlichen Stellen vorhanden sind. Die 3. Kammer des Ersten Senats stellt hierzu fest: «Demgegenüber richtete sich der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Auskunftsanspruch nach den verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen im fachgerichtlichen Verfahren auf eine Verschaffung von Informationen, über die der Bundesnachrichtendienst selbst noch nicht verfügte. Die angefragten Informationen sollten vielmehr zu einem wesentlichen Teil erst von einer eigens zur Aufklärung der in Rede stehenden Geschehnisse eingesetzten Unabhängigen Historikerkommission erarbeitet werden.» (Seite 629)
Siehe in diesem Zusammenhang auch die Anm. d. Red. zu dem getrennt zu sehenden Sachverhalt in Bezug auf die Verweigerung der Offenlegung der Namen von aus der DDR-Justiz übernommenen Richtern in Brandenburg trotz deren Verbindung zur Staatssicherheit (Stasi) der ehemaligen DDR. / Entscheidung des EGMR im Fall Saure gegen Deutschland. (Seite 631)

Guido Raimondi neuer Präsident des EGMR, Işıl Karakaş und András Sajó Vize-Präsidenten / Françoise Elens-Passos neue Vize-Kanzlerin des EGMR / Alena Polácková neue slowakische Richterin am EGMR / Hintergrund der Wahlverzögerung durch unzureichende Kandidaten-Listen. (Seite 631)

Koen Lenaerts neuer Präsident des EuGH in der Nachfolge des aus dem Gerichtshof ausgeschiedenen Vassilios Skouris. Antonio Tizzano Vize-Präsident. (Seite 633)

BVerfG lehnt Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen das Tarifeinheitsgesetz ab. Die drei Berufsgruppengewerkschaften werden auf das Hauptsacheverfahren verwiesen. (Seite 633)