EuGRZ 2015
14. Dezember 2015
42. Jg. Heft 22-23

Informatorische Zusammenfassung

Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), erläutert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht (einschließlich Auslieferungsrecht) in den Jahren 2013 und 2014
«Gegenüber dem letzten Bericht über den Zeitraum 2011 und 2012 hat sich in den hier zu betrachtenden Jahren 2013 und 2014 das Flüchtlingsrecht in der Bundesrepublik Deutschland im Tatsächlichen grundlegend geändert. Die zahlreichen Krisenherde im Nahen Osten, dort insbesondere die kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak und in Syrien, sowie in Afghanistan und in Afrika, dazu der Einsatz militärischer Gewalt auch wieder in Europa (Ukraine), dazu das immer größer werdende Armutsgefälle in der Welt, haben dazu geführt, dass Menschen in seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gekanntem Ausmaß ihre Herkunftsgebiete verlassen und sich auf den beschwerlichen, mitunter von tödlichen Gefahren begleiteten Weg nach Westeuropa gemacht haben, um hier Schutz und ein menschenwürdiges wirtschaftliches Auskommen zu erlangen. Eines der bevorzugten Ziele der Flüchtlinge ist dabei die Bundesrepublik Deutschland.
Diese Entwicklung lässt sich an den Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) anschaulich belegen. Zwar war dort bereits seit 2009 ein Anstieg bei den Neuanträgen auf Asyl zu verzeichnen; das Ausmaß der weiteren Zunahme im Berichtszeitraum lässt sich damit jedoch nicht annähernd vergleichen. Betrug die Zahl der Erstanträge in 2011 noch 45.741 und in 2012 sodann 64.539 (hinzu kamen noch 7.606 bzw. 13.112 Folgeanträge), so waren im Jahre 2013 bereits 109.580 Erstanträge (zuzüglich 17.443 Folgeanträge) zu verzeichnen, der höchste Stand seit 14 Jahren und eine Zunahme gegenüber dem Vorjahr um etwa 64 v.H. Die erneut deutliche Steigerung der Zahl der Asylsuchenden führte das Ministerium auf den vermehrten Zugang aus fast allen der zehn Hauptherkunftsländer zurück, darüber hinaus sei aber auch, so das Ministerium, ein genereller Trend steigender Asylzahlen zu beobachten. Der Trend des Jahres 2013 setzte sich auch in 2014 fort: Dort verzeichnete das Bundesamt 173.072 Erstanträge (zuzüglich 29.762 Folgeanträge) und damit einen erneuten Anstieg gegenüber dem Vorjahr um 59,7 v.H. Etwa 20 v.H. der Asylanträge stammten von Asylsuchenden aus Syrien, etwa 30 v.H. wurden von Flüchtlingen aus der Balkanregion (Serbien, Kosovo, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Albanien) gestellt.
Diese Entwicklung der Eingänge beim Bundesamt hat sich im Berichtszeitraum, wenn auch noch etwas verhalten, in den Zahlen des Bundesverfassungsgerichts (im Folgenden: BVerfG) über die Neueingänge von Verfassungsbeschwerden zum Asylrecht ebenfalls niedergeschlagen. (…)»
Der Beitrag ist gegliedert in Flüchtlingsrecht und Dublin-Verfahren sowie beim Ausländerrecht in Aufenthaltsrecht, Abschiebehaft und Auslieferungsrecht.
Zu den künftigen Perspektiven führt Roeser aus: «Der Zustrom von Schutzsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland hält auch im Jahr 2015 mit weiter steigender Tendenz an. (…) Am 24. Oktober 2015 ist das Asylverfahrenbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 in Kraft getreten, mit dem umfangreiche Änderungen u.a. des Asylverfahrensgesetzes (jetzt Asylgesetz – AsylG –), des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) und des Aufenthaltsgesetzes verbunden sind. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG alsbald Gelegenheit bekommen wird, sich mit diesen Neuregelungen unter verfassungsrechtlichen Aspekten zu befassen. Dies wird nicht zuletzt für das Asylbewerberleistungsgesetz und die dort enthaltenen Einschränkungen von Leistungen gelten, die sich an den vom BVerfG in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 u.a. – aufgestellten Grundsätzen werden messen lassen müssen. In dieser Entscheidung hat das BVerfG nämlich ausdrücklich hervorgehoben, dass migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen könnten. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde sei migrationspolitisch nicht zu relativieren.» (Seite 637)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, verneint Anspruch auf Anfechtung der Vaterschaft eines (nach notariellem Anerkenntnis) rechtlichen Vaters durch mutmaßlichen biologischen Vater / Adebowale gegen Deutschland
«Art. 8 kann dahingehend ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zu prüfen, ob es dem Kindeswohl dient, dem biologischen Vater den Aufbau einer Beziehung zu seinem Kind zu ermöglichen, insbesondere durch die Gewährung eines Umgangsrechts (…). Dies bedeutet gegebenenfalls die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft in einem Umgangsverfahren, wenn unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgegangen wird, dass ein Umgang zwischen dem mutmaßlichen leiblichen Vater – angenommen, dass er tatsächlich der biologische Vater des Kindes ist – und dem Kind dem Kindeswohl dienen würde (…).
Allerdings hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass sich daraus keine konventionsrechtliche Pflicht ergibt, dem mutmaßlichen leiblichen Vater zu gestatten, die Stellung des rechtlichen Vaters anzufechten oder eine separate Klage im Hinblick auf die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft zuzulassen (…). Mit Blick insbesondere auf den fehlenden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten und auf den größeren Beurteilungsspielraum, der den Staaten in Angelegenheiten einzuräumen ist, die die rechtliche Stellung betreffen, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Entscheidung, ob dem feststehenden oder mutmaßlichen leiblichen Vater die Vaterschaftsanfechtung zu gestatten war, unter den Umständen der Rechtssachen Ahrens und Kautzor in den staatlichen Beurteilungsspielraum fiel (…).
Die innerstaatlichen Gerichte haben den Fall sorgfältig geprüft und festgestellt, dass O. tatsächlich Verantwortung für das Kind von dessen Geburt an übernommen und die Beziehung durch regelmäßige, längere Besuche aufrechterhalten hat. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist umfassend begründet und hat mit der Vernehmung mehrerer Zeugen und einem Bericht des Jugendamts, die sämtlich bestätigen, dass sich zwischen O. und dem Kind eine enge Beziehung entwickelt hat, eine Tatsachengrundlage (…). Der Bf. macht weder Mängel bei der Beweisaufnahme geltend, noch rügt er die getroffenen Feststellungen. Die innerstaatlichen Gerichte konnten somit vernünftigerweise annehmen, dass eine sozial-familiäre Beziehung bestand.» (Seite 644)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, gibt Hinweise zum Recht auf unentgeltliche Dometschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren / Rs. Covaci
Konkret geht es vor dem Amtsgericht Laufen um den Einspruch eines Rumänen gegen einen Strafbefehl wegen Fahrens ohne Haftpflichtversicherung. Außerdem war die vorgewiesene grüne Versicherungskarte gefälscht.
Der EuGH sieht die Zustellung eines Strafbefehls als eine Form der Unterrichtung über den Tatvorwurf i.S.v. Art. 6 RL 2012/13 an, so dass sie den Anforderungen dieses Artikels genügen muss.
In dem Urteil heißt es: «Aus der Vorlageentscheidung geht aber hervor, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschrift der Strafbefehl dem Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten zugestellt wird und dieser für einen Einspruch gegen den Strafbefehl über eine Frist von zwei Wochen verfügt, die ab der Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten läuft. Nach Ablauf dieser Frist wird der Strafbefehl rechtskräftig.
Auch wenn es für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts keiner Beurteilung der Angemessenheit einer solchen Ausschlussfrist von zwei Wochen bedarf, ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das Ziel, dem Beschuldigten die Vorbereitung seiner Verteidigung zu ermöglichen, als auch die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten – nur Letztere müssen für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Zustellungsbevollmächtigten benennen – es gebieten, dass der Beschuldigte über die volle Frist verfügt. (…)
Läuft diese Frist dagegen wie im vorliegenden Fall ab Zustellung des Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten, kann dieser seine Verteidigungsrechte nicht wirksam wahrnehmen, und ein faires Verfahren ist nur dann gegeben, wenn er über die volle Frist verfügt, d.h., wenn ihre Dauer nicht durch die Zeitspanne verkürzt wird, die der Zustellungsbevollmächtigte benötigt, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen.»
Ob das Recht auf unentgeltliche Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren aus Art. 1 bis 3 der RL 2010/64/EU verletzt ist, soll das innerstaatliche Gericht selbst entscheiden, und zwar anhand des Kriteriums, ob der Einspruch ein «wesentliches Dokument» darstellt. (Seite 646)

EuGH billigt Aberkennung des Wahlrechts zum EP nach Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens unter besonderen Voraussetzungen als mit GRCh vereinbar / Rs. Delvigne
Art. 39 (Wahlrecht zum EP) und 49 Abs. 1 Satz 3 GRCh (Rückwirkung eines nachträglich erlassenen milderen Strafgesetzes) sind nicht verletzt, wenn der Unionsbürger – wie im französischen Recht gegeben – die Möglichkeit hat, die Aufhebung der Aberkennung des Wahlrechts zu beantragen und zu erreichen.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war vor dem gesetzlichen Stichtag des 1. März 1994 wegen eines schweren Verbrechens letztinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt worden und profitierte deshalb nicht von der Abschaffung der automatischen gesetzlichen Nebenfolge des Verlusts der bürgerlichen Rechte. (Seite 651)

EuGH beanstandet die Übermittlung personenbezogener Daten durch eine Verwaltungsbehördean eine andere Verwaltungsbehörde und deren anschließende Verarbeitung ohne Unterrichtung des Betroffenen als Verstoß gegen die Richtlinie 95/46/EG / Rs. Bara u.a.
Im konkreten Fall hat die rumänische Steuerverwaltung die Steuerdaten der Kläger des Ausgangsverfahrens ohne deren Information an die Nationale Kasse der Krankenversicherungen weitergegeben, die auf der Grundlage dieser Daten von den als Selbständige tätigen Klägern des Ausgangsverfahrens die Nachzahlung rückständiger Krankenversicherungsbeiträge verlangte.
Der EuGH stellt in seinem Beschluss fest: «Erstens sieht Art. 10 der Richtlinie 95/46 vor, dass die Person, bei der die sie betreffenden Daten erhoben werden, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen oder seinem Vertreter zumindest die in den Buchst. a bis c dieses Artikels genannten Informationen erhält, sofern diese ihr noch nicht vorliegen. Diese Informationen betreffen die Identität des für die Verarbeitung der Daten Verantwortlichen, die Zweckbestimmungen der Verarbeitung sowie weitere Informationen, die notwendig sind, um eine Verarbeitung der Daten nach Treu und Glauben zu gewährleisten. Als weitere Informationen, die notwendig sind, um eine Verarbeitung der Daten nach Treu und Glauben zu gewährleisten, sind in Art. 10 Buchst. c der Richtlinie ausdrücklich „die Empfänger oder Kategorien der Empfänger der Daten“ sowie „das Bestehen von Auskunfts- und Berichtigungsrechten bezüglich betreffender Daten“ genannt.» (Seite 655)

EuGH betont Vorrang des Unionsrechts nach einer Vorabentscheidung trotz Befolgungspflicht eines nationalen (hier: österreichischen) Gerichts gegenüber einem anderen nationalen Gericht (hier: Verwaltungsgerichtshof) / Rs. Naderhirn
«Entspricht die Beurteilung eines nationalen Gerichts nicht dem Unionsrecht, ist ein anderes nationales Gericht, das nach dem innerstaatlichen Recht vorbehaltlos an die Auslegung des Unionsrechts durch das erstgenannte Gericht gebunden ist, nach dem Unionsrecht verpflichtet, aus eigener Entscheidungsbefugnis die innerstaatliche Rechtsvorschrift unangewandt zu lassen, die von ihm verlangt, sich an die vom erstgenannten Gericht herangezogene Auslegung des Unionsrechts zu halten.
Dies wäre u.a. dann der Fall, wenn ein nationales Gericht aufgrund einer solchen innerstaatlichen Rechtsvorschrift, an die es gebunden ist, daran gehindert wäre, in den bei ihm anhängigen Rechtssachen dem Umstand, dass eine nationale Vorschrift nach einem Urteil des Gerichtshofs als unionsrechtswidrig anzusehen ist, angemessen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass der Vorrang des Unionsrechts ordnungsgemäß gewährleistet wird, indem es, wie in Rn. 32 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, alle hierfür erforderlichen Maßnahmen ergreift.» (Seite 660)

Schweizerisches Bundesgericht, (BGer), Lausanne, zur abwägenden An- bzw. Aberkennung eines ausländisches (USA) Entscheids über den Zivilstand eines mittels Leihmutterschaft begründeten Kindesverhältnisses zu zwei homosexuellen Männern
«Damit die Beschwerdegegner als homosexuelle Männer zu einem Kind kommen können, haben sie die Dienste einer Leihmutter in Anspruch genommen. Nach dem vorinstanzlichen Entscheid besteht kein Zweifel und wird nicht in Frage gestellt, dass die beiden Beschwerdegegner – nicht anders als z.B. ein Ehepaar, bei welchem die Ehefrau keine Kinder haben kann – durch den Abschluss des Leihmutterschaftsvertrages in Kalifornien ihren Kinderwunsch mit Hilfe der ausländischen Rechtsordnung, welche gerade kein Leihmutterschaftsverbot kennt, erfüllt haben. Es steht ausser Frage, dass das Kindesverhältnis von D.B. zu den beiden Beschwerdegegnern mit Bezug auf den in Kalifornien abgeschlossenen Leihmutterschaftsvertrag und das darauf gestützt ergangene Vaterschaftsurteil eine Praktik zum Gegenstand hat, die Leihmutterschaft (gemäss Art. 2 lit. k FMedG) darstellt und hier [in der Schweiz] – wie alle Arten von Leihmutterschaft – verboten ist.
Am Ordre public-Verstoss zufolge Rechtsumgehung im dargelegten Sinn vermag nichts zu ändern, dass das Kind am Vorgehen seiner Wunscheltern kein Vorwurf trifft. Wohl ist möglich, dass die Anerkennung eines ausländischen Leihmutterschaftsurteils im Interesse des Kindes ist. Ebenso gut ist denkbar, dass sich ein Leihmutterschaftskind später als Objekt des – durch das Recht verbotenen – Vorgehens sieht. In diesem Fall würde ihm die Gültigerklärung der Verbotsüberschreitung jedes Recht absprechen, sich als Opfer zu fühlen (…). Sicher ist jedenfalls, dass der Schutz des Kindes davor, zur Ware degradiert zu werden, die man bei Dritten bestellen kann, aber auch der Schutz der Leihmutter vor der Kommerzialisierung ihres Körpers, bedeutungslos wären, wenn die Rechtsumgehung der Wunscheltern nachträglich gültig erklärt würde. Die Verneinung der Ordre public-Widrigkeit würde die rechtsanwendenden Behörden zwingen, ein durch Rechtsumgehung erreichtes Kindesverhältnis als fait accompli zu akzeptieren, womit der Fortpflanzungstourismus gefördert würde und das inländische Leihmutterschaftsverbot weitgehend wirkungslos wäre. (…)
Aus der Rechtsprechung des EGMR ist zu schliessen, dass es unter dem Blickwinkel von Art. 8 EMRK nicht zulässig ist, ein Kindesverhältnis mit genetischem Bezug zwischen Kind und Elternteil aus Ordre public-Gründen nicht anzuerkennen. Zu Recht ist demnach unstrittig, dass die Anerkennung der vom kalifornischen Gericht ausgesprochenen Feststellung der Vaterschaft des Beschwerdegegners 1, bzw. des genetischen Vaters zu D.B. mit dem schweizerischen Ordre public vereinbar ist. Der Eintragung dieses Kindesverhältnisses im schweizerischen Personenstandsregister steht zu Recht nichts im Wege.
Hingegen lässt es sich nach der Strassburger Rechtsprechung mit den Garantien der EMRK vereinbaren, wenn ein durch Leihmutterschaft begründetes Kindesverhältnis zu einem Elternteil ohne genetischen Bezug aus Ordre public-Gründen nicht anerkannt wird (…). Die Verweigerung der Anerkennung der vom kalifornischen Gericht ausgesprochenen Feststellung der Vaterschaft des Beschwerdegegners 2, bzw. des nichtgenetischen Vaters zu D.B. aus Ordre public-Gründen ist EMRK-konform.
Trotz Nichtanerkennung des Kindesverhältnisses zum Beschwerdegegner 2 ist der rechtliche Status von D.B. durch die schweizerische Rechtsordnung im Lichte der EMRK und UN-KRK – wie sich aus dem Folgenden ergibt – hinreichend geschützt.
D.B. lebt seit jeher zusammen mit den Beschwerdegegnern, so dass sie eine Familiengemeinschaft bilden, die unter dem Schutz von Art. 8 EMRK steht (…). Insoweit hat die Ordre public-Widrigkeit infolge Rechtsumgehung zurückzutreten (selbst wenn keine genetische Verbindung besteht). Die Entfernung des Kindes aus dem familiären Umfeld wäre – wie allgemein – nur im Falle einer Gefährdung gerechtfertigt. Insoweit sind die aus Art. 8 EMRK fliessenden Rechte von D.B. ohne weiteres gewährleistet.» (Seite 663)

Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt das gänzliche Verwendungsverbot gentechnischer Analysen durch Versicherungen für verfassungswidrig
«Es ist nun kein Grund für den Verfassungsgerichtshof ersichtlich, der es rechtfertigen würde, dass Ergebnisse genetischer Analysen des Typs 1, die sich zum einen nur auf bereits bestehende Erkrankungen beziehen, die auf „Aussagen über konkrete somatische Veränderung von Anzahl, Struktur, Sequenz oder deren konkrete chemische Modifikationen von Chromosomen, Genen und DNA-Abschnitten“ basiert, und die nach den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung zum anderen mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden vergleichbar sind, vom Verbot des § 67 GTG [Gentechnikgesetz] erfasst werden.
Gegen die Zulässigkeit der Erhebung und Verwendung genetischer Analysen des Typs 1 (§ 65 Abs. 1 Z 1 GTG) durch den Versicherer kann auch nicht das Recht auf („genetische„) Privatsphäre (Art. 8 EMRK) oder das Recht auf Datenschutz (§ 1 DSG 2000) ins Treffen geführt werden. Zum Zeitpunkt, zu dem der Versicherungswerber/Versicherungsnehmer die genetische Analyse des Typs 1 (§ 65 Abs. 1 Z 1 GTG) durchführen lässt, ist ihm voraussetzungsgemäß die bestehende Krankheit bereits auf Grund einer „konventionellen“ Untersuchung bekannt; der Versicherungswerber/Versicherungsnehmer ist nach § 16 VersVG verpflichtet, dem Versicherer diese ihm bereits bekannte Krankheit anzuzeigen (bzw. darf der Versicherer nach Maßgabe des § 11a VersVG diese personenbezogenen Gesundheitsdaten ermitteln und verwenden). Weiters lassen Ergebnisse von genetischen Analysen des Typs 1 keine Rückschlüsse auf die genetische Disposition Dritter zu.
Es ist daher nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes nicht zu erkennen, inwiefern die Verpflichtung des Versicherungswerbers zur Preisgabe der Ergebnisse einer genetischen Analyse des Typs 1 (iSd § 65 Abs. 1 Z 1 GTG) das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Privatheit gemäß Art. 8 EMRK oder auf Datenschutz gemäß § 1 DSG 2000 verletzen könnte.
Die durch das ausnahmslose Verbot des § 67 GTG iVm § 11a VersVG bewirkte Ungleichbehandlung von Ergebnissen konventioneller Untersuchungen und von genetischen Analysen des Typs 1 iSd § 65 Abs. 1 Z 1 GTG ist somit sachlich nicht gerechtfertigt.»
Verfassungsgemäß hingegen, weil sachlich gerechtfertigt, ist dagegen das Verwendungsverbot von Genanalysen mit prädiktivem Inhalt, d.h. bei denen der Betroffene von genetischen Anlagen erfahren könnte, die ihm vor der Analyse nicht bekannt waren („Recht auf Nichtwissen„) (Typ 3 und 4) bzw. von genetischen Analysen (Typ 2) in Bezug auf Erkrankungen, die auf Keimbahnmutationen beruhen. (Seite 669)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bekräftigt den Anspruch der Presse auf Übersendung eines (anonymisierten) Strafurteils
Es ging um die erstinstanzliche Verurteilung eines ehemaligen (Landes-)Innenministers und städtischen Beigeordneten wegen Vorteilsnahme zu einer Bewährungsstrafe. (Seite 682)

BVerfG beanstandet rechtswidrige Ausweiskontrolle bei einer Demonstration in Göttingen
Videoaufnahmen von Polizeibeamten, die ihrerseits Ton- und Bildaufnahmen der Versammlungsteilnehmer anfertigten, stellen keinen hinreichenden Grund für die Feststellung der Personalien dar. (Seite 685)

BVerfG sieht in Versagung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren Verletzung des Anspruchs auf Rechtswahrnehmungsgleichheit
Der Bf. wollte gegen die Ablehnung eines Antrags auf medizinische Rehabilitation durch die Deutsche Rentenversicherung vorgehen. (Seite 687)

Irischer High Court, Dublin, verurteilt nach der Vorabentscheidung des EuGH in der causa Facebook die nationale Datenschutzbehörde zum Handeln und zu 50.000,- Euro vorläufigem Kostenersatz an den Kläger Maximilian Schrems
Die Artikel-29-Arbeitsgruppe (nationale und europäische Datenschutzbeauftragte) der EU setzt der EU-Kommission eine Frist bis Ende Januar 2016, Konsequenzen aus dem Schrems-Urteil des EuGH vom 6. Oktober 2015 (EuGRZ 2015, 562) vorzuweisen. (Seite 688)

EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott sieht in Bezug auf das Abkommen mit Tansania zur Überstellung mutmaßlicher Seeräuber die Pflicht des Rates zur umfassenden und umgehenden Unterrichtung des Europäischen Parlaments aus Art. 218 Abs. 10 AEUV als verletzt an / Rs. EP gegen Rat (Schlussanträge, C-263/14)
In ihren Schlussanträgen führt Kokott u.a. aus: «Anders als Generalanwalt Bot und einige hiesige Verfahrensbeteiligte bin ich dezidiert nicht der Auffassung, dass an die Unterrichtung des Parlaments gemäß Art. 218 Abs. 10 AEUV unterschiedlich strenge Anforderungen zu stellen sind, je nachdem, ob das Parlament gemäß Art. 218 Abs. 6 AEUV einer internationalen Übereinkunft zustimmen muss, zu ihr angehört wird oder – wie im vorliegenden Fall – über keine formellen Mitspracherechte zu dieser Übereinkunft verfügt.
Demokratische Kontrolle erschöpft sich nicht in der Ausübung formeller Mitspracherechte, und die Unterrichtung des Parlaments dient nicht nur der Vorbereitung der Ausübung solcher Mitspracherechte. Vielmehr ist allein schon die Transparenz, die mit einer unverzüglichen und umfassenden Unterrichtung des Parlaments in allen Phasen des Verfahrens hergestellt wird, ein nicht zu unterschätzendes Element demokratischer Kontrolle und damit ein Wert an sich.
Diese Transparenz (…) trägt dazu bei, alle am auswärtigen Handeln der Union beteiligten Akteure zu verantwortungsbewusstem Verhalten anzuhalten.» (Seite 689)

BVerfG erläßt EAO gegen Bundesministerin Wanka wegen der Veröffentlichung einer AfD-kritischen Presseerklärung („Rote Karte für die AfD“) auf der Homepage ihres Ministeriums für Bildung und Forschung. (Seite 699)