EuGRZ 1997 |
18. Juli 1997
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24. Jg. Heft 13
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Informatorische Zusammenfassung
Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe, bestätigt die Sonderkündigungstatbestände des Einigungsvertrages (EV) von 1990 für Angehörige des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR als verfassungsgemäß, unterstreicht jedoch die Notwendigkeit der Einzelfallprüfung
Die vier Urteile betreffen: 1. – Lehrer in herausgehobenen Positionen in Schule und Partei, 2. – den Kündigungsgrund der Stasi-Mitarbeit im Fall des Theologieprofessors und zeitweiligen Rektors der Humboldt-Universität Fink, 3. – ungenaue oder falsche Angaben auf Fragen nach SED-Funktionen bzw. Stasi-Tätigkeiten, die allerdings zum Teil schon vor über 20 Jahre beendet waren, und 4. – die Kündigung eines Hochschuldozenten wegen mangelnder fachlicher Eignung und das Gesetz zur Verlängerung der Sonderkündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung.
1. Lehrer als ehemalige SED-Funktionäre – Das BVerfG betont einerseits die Überzeugungskraft des Lehrers als Vorbild und andererseits die erkennbare Absicht des Einigungsvertrags (EV), Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland einzugliedern.
Im Urteil heißt es dazu: «Zur Eignung von Lehrerinnen und Lehrern an staatlichen Schulen gehört, daß sie den Schülerinnen und Schülern die Grundlagen eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates nahebringen können. Dies umfaßt nicht nur die Vermittlung bürgerkundlicher Kenntnisse. Vielmehr sollen die Jugendlichen auch auf ihre Rolle als Bürger des Gemeinwesens mit den dazugehörenden Rechten und Verantwortlichkeiten vorbereitet werden. Um eine solche Haltung erzieherisch herauszubilden, muß der Lehrer sie selbst glaubwürdig vertreten. Innere Vorbehalte dagegen schwächen seine Überzeugungskraft als Vorbild. Sie treten – sei es bewußt, sei es unbewußt – im Schulalltag auch dann zutage, wenn er sie nicht ausdrücklich bekennt. Insofern hängt die Eignung für eine Tätigkeit im staatlichen Bildungswesen in besonderer Weise von der inneren Einstellung des Erziehers ab. (…)
Bei der Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze haben die Gerichte allerdings der wertsetzenden Bedeutung des eingeschränkten Grundrechts Rechnung zu tragen.
Geht es um die Auslegung und Anwendung von arbeitsrechtlichen Kündigungsvorschriften im öffentlichen Dienst, so müssen sie den Schutz beachten, den Art. 12 Abs. 1 GG insofern gewährt. Steht zugleich die Eignung für den öffentlichen Dienst in Rede, tritt Art. 33 Abs. 2 GG ergänzend hinzu. Diese Rechte sind verletzt, wenn ihre Bedeutung und Tragweite bei der Auslegung und Anwendung der arbeitsrechtlichen Vorschriften grundsätzlich verkannt wird. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert. (…) Im Lichte der genannten Verfassungsnormen darf bei der Auslegung von Abs. 4 Nr. 1 EV die erkennbare Absicht des Einigungsvertrages nicht außer acht gelassen werden, die Mitarbeiter nicht abgewickelter Einrichtungen des öffentlichen Dienstes der Deutschen Demokratischen Republik weitgehend in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland einzugliedern und ihre Arbeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, soweit nicht im Einzelfall Eignungsmängel im Sinne von Art. 33 Abs. 2 GG festgestellt werden. Da Beschäftigung und Fortkommen im öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik regelmäßig von einer gesteigerten Loyalität gegenüber Staat und Partei sowie der Bereitschaft zum Engagement in parteilichen oder gesellschaftlichen Organisationen abhingen, können die damit verbundenen Positionen oder Funktionen für sich allein in der Regel eine Kündigung nicht rechtfertigen. Die persönliche Eignung des Mitarbeiters für eine Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik ist vielmehr im Zeitpunkt der Kündigung aufgrund einer Prognose festzustellen, die eine konkrete und einzelfallbezogene Würdigung seiner gesamten Persönlichkeit voraussetzt. Sein Verhalten und seine Einstellung in der Vergangenheit sind dafür allerdings eine wesentliche Erkenntnisquelle. Das gilt gerade im schulischen Bereich, weil es sich einer dienstlichen Kontrolle weitgehend entzieht, ob der Auftrag zur staatsbürgerlichen Erziehung durch die Lehrkraft glaubwürdig erfüllt wird. Positionen in Staat und Partei, die der Mitarbeiter seinerzeit innehatte, können nach Maßgabe ihres Ranges und des mit ihnen verbundenen Einflusses Anhaltspunkte für einen besonders hohen Identifikationsgrad mit dem Herrschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik sein, machen aber eine Würdigung seines gesamten Verhaltens einschließlich seiner Entwicklung nach dem Beitritt nicht entbehrlich.»
Als Konsequenz stellt das Bundesverfassungsgericht fest: «Die danach verfassungsrechtlich gebotene Gesamtwürdigung darf nicht dadurch verkürzt werden, daß der vom Mitarbeiter früher innegehabten Position das Gewicht einer gesetzlichen Vermutung beigemessen wird, die einen Eignungsmangel begründet, wenn sie nicht widerlegt wird.»
Die Ausgangsverfahren betreffen eine Sonderschul-Lehrerin in Sachsen, die u.a. Direktorin und von 1983 bis 1989 Parteisekretärin war, sowie eine Lehrerin für Mathematik, Physik und Astronomie in Thüringen, die u.a. Kreisschulinspektorin (1982-1987) und anschließend (bis 1990) Leiterin der Schulinspektion des Kreises und daneben stellvertretende Parteigruppensekretärin der SED bzw. Sekretärin einer Abteilungsparteiorganisation war. Beide Verfassungsbeschwerden sind erfolgreich. Die Arbeitsgerichte müssen erneut unter Berücksichtigung der im Urteil genannten Kriterien entscheiden.
Die dritte Verfassungsbeschwerde eines Diplomlehrers für Chemie und Englisch in Sachsen, ehemals Parteisekretär und Schulleiter wird dagegen zurückgewiesen. Hierzu führt das BVerfG unter anderem aus: «Das Bundesarbeitsgericht leitet die mangelnde Eignung des Beschwerdeführers jedenfalls im Ergebnis nicht allein aus dessen Funktionen als Parteisekretär und Schuldirektor ab, sondern gelangt erst aufgrund einer Würdigung weiterer belastender Umstände zu der Schlußfolgerung, daß der Beschwerdeführer sich in besonderer Weise mit den Zielen der SED identifiziert habe. Einmal fällt in diesem Zusammenhang ins Gewicht, daß der Beschwerdeführer seit seinem 27. Lebensjahr ununterbrochen 18 Jahre lang zuerst Parteisekretär und stellvertretender Schuldirektor und in unmittelbarem Anschluß daran Schuldirektor war. Die ungewöhnlich frühe Beförderung zum Direktor läßt zudem die Überzeugung der Arbeitsgerichte plausibel erscheinen, daß er eine reine Parteikarriere durchlaufen habe. Außerdem beruhen die angegriffenen Entscheidungen auf der Feststellung, daß er diese Ämter parteinah ausgeübt habe und daß ihm das Lehrerkollegium deswegen noch vor dem Beitritt das Vertrauen als Schuldirektor entzogen hat.» (Seite 269)
2. Theologieprofessor als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter – das BVerfG erklärt den im EV geregelten Sonderkündigungstatbestand der Stasi-Tätigkeit für verfassungsgemäß und weist die Verfasssungsbeschwerde des Theologieprofessors und zeitweiligen Rektors der Humboldt-Universität zu Berlin Fink zurück.
Grundsätzlich führt das BVerfG im Fink-Urteil aus: «Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß durch eine solche Tätigkeit die Integrität des Betroffenen sowie seine innere Bereitschaft, Bürgerrechte zu respektieren und sich rechtsstaatlichen Regeln zu unterwerfen, nachhaltig in Frage gestellt wird. Darüber hinaus kann sein Verbleiben bei der Bevölkerung Zweifel an der rechtsstaatlichen Integrität des öffentlichen Dienstes hervorrufen. Die systematische und umfassende Ausforschung der eigenen Bevölkerung mit nachrichtendienstlichen Mitteln war ein besonders abstoßendes Herrschaftsinstrument des Einparteiensystems. Wer sich daran als inoffizieller Mitarbeiter beteiligte, konnte in die Lage kommen, sein gesamtes persönliches Umfeld – Familienmitglieder, Nachbarn und Berufskollegen eingeschlossen – zu bespitzeln und heimlich Abträgliches über sie an die Sicherheitsorgane zu berichten. Die Folgen für die Betroffenen waren für die Informanten nicht absehbar. Sie konnten bis zur Vernichtung der beruflichen Existenz und zu Freiheitsentzug reichen und sogar Familienmitglieder des Denunzierten erfassen. Die Verpflichtung wurde in der Regel freiwillig, häufig mit Blick auf bestimmte Vorteile und finanzielle Zuwendungen, übernommen.»
Auch hier verlangt das BVerfG eine einzelfallbezogene Würdigung, «bei der neben der konkreten Belastung für den Arbeitgeber auch das Maß der Verstrickung des Betroffenen zu berücksichtigen ist.»
Das BVerfG klärt den Sachverhalt nicht selbst auf, sondern stützt sich auf die Feststellungen der Fachgerichte: [Es ist] «nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert. (…) Insbesondere ist die Feststellung und Würdigung der Tatsachen, die der rechtlichen Würdigung zugrunde liegen, der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Bei der Frage, ob der Beschwerdeführer tatsächlich inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war, muß das Bundesverfassungsgericht daher von den Feststellungen der Arbeitsgerichte ausgehen.» (Seite 274)
3. Fragen über frühere SED-Funktionen bzw. Stasi-Tätigkeiten – die gesetzliche Regelung ist verfassungskonform, jedoch müssen Fragen zu bereits vor 20 Jahren abgeschlossenen Tätigkeiten nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden.
«Es war mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der aus dem öffentlichen Dienst der Deutschen Demokratischen Republik übernommenen Arbeitnehmer grundsätzlich vereinbar, daß die Arbeitgeber von ihnen vor der Entscheidung über eine Kündigung nach den Vorschriften des Einigungsvertrages verlangten, Fragen über frühere Parteifunktionen in der SED und Tätigkeiten für das Ministerium für Staatssicherheit zu beantworten.
Fragen nach Vorgängen, die vor dem Jahre 1970 abgeschlossen waren, verletzten jedoch das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschäftigten. Wurden sie unzutreffend beantwortet, dürfen daraus keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen gezogen werden.»
Die drei Ausgangsverfahren betreffen eine Lehrerin an einer Förderschule für Lernbehinderte in Sachsen, die von 1985-1989 Parteisekretärin der SED war sowie einen ehemaligen Büroleiter bei den Ost-Berliner Verkehrsbetrieben, der vom 19. Mai bis 12. Juli 1965 inoffizieller Stasi-Mitarbeiter gewesen war, und einen ehemaligen Lagerabschnittsleiter bei der Nationalen Volksarmee, der als Küchenhilfskraft in einem Bundeswehrkrankenhaus in Sachsen übernommen wurde. Seine Stasi-Mitarbeit von März 1965 bis Mai 1966 erfolgte während der Ableistung des Grundwehrdienstes.
Die Verfassungsbeschwerden sind erfolgreich, die Arbeitsgerichte müssen neu entscheiden. (Seite 279)
4. Mangelnde fachliche Eignung eines Hochschullehrers – die Verlängerung der Sonderkündigungsmöglichkeiten nach dem EV bis zum 31. Dezember 1993 ist verfassungsgemäß.
Die Verfassungsbeschwerde eines Diplom-Historikers, der seit 1988 als Hochschuldozent an der Humboldt-Universität Berlin beschäftigt war und dem wegen mangelnder fachlicher Eignung gekündigt wurde, wird zurückgewiesen.
«An seinen bisherigen wissenschaftlichen Leistungen gemessen zu werden, ist für einen Hochschullehrer sachgerecht. Daß ein negatives Ergebnis dieser Beurteilung zur Feststellung mangelnder fachlicher Eignung führt und eine Kündigung rechtfertigt, überschreitet ebenfalls nicht die Grenzen, die die Grundrechte der von Abs. 4 Nr. 1 EV Betroffenen einer Auslegung dieser Vorschrift stecken. Die fachliche Eignung kann in jedem Fall nur an den Anforderungen der jeweils wahrzunehmenden Aufgaben gemessen werden. Daß ein Hochschullehrer fachlich ungeeignet ist, dem eine besondere Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit fehlt, kann nicht zweifelhaft sein. (…) Schließlich liegt auch keine Grundrechtsverletzung darin, daß das Landesarbeitsgericht seine Beurteilung wesentlich auf den Umstand stützt, daß außer den Dissertationen A und B keine weiteren wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Beschwerdeführers vorlägen, die die Unzulänglichkeit seiner Dissertationen hätten ausgleichen können, und in diesem Zusammenhang der Behauptung des Beschwerdeführers nicht weiter nachgegangen ist, in der Deutschen Demokratischen Republik sei er an solchen Veröffentlichungen gehindert gewesen. Der Grundsatz, daß die wissenschaftliche Qualifikation des Beschwerdeführers nur anhand seiner akademischen Schriften festgestellt werden kann, ist einleuchtend. Im übrigen ist nicht zu beanstanden, daß das Landesarbeitsgericht dem Beschwerdeführer angelastet hat, er habe auch den Zeitraum von der Wende bis zur mündlichen Verhandlung im Jahre 1994 nicht genutzt, um seine fachliche Eignung für den Beruf des Hochschullehrers durch Veröffentlichungen zu belegen.» (Seite 284)