EuGRZ 1998 |
31. Juli 1998
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25. Jg. Heft 13-14
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Informatorische Zusammenfassung
Matthias Hartwig, Heidelberg, setzt sich mit der Rechtsprechungsänderung des RussVerfG zum Prüfungsrecht des Präsidenten der Föderation bei Zweifeln am verfassungsmäßigen Zustandekommen eines Gesetzes (hier: BeutekunstG) auseinander
«Moskau locuta – causa non finita» – am Beispiel des umstrittenen Beutekunst-Gesetzes, das Präsident Jelzin mit dem Argument nicht ausfertigen wollte, die Zwei-Drittel-Mehrheit in Föderationsrat und Staatsduma beim Überstimmen seines aus prinzipiellen Erwägungen eingelegten Vetos sei in verfassungswidriger Weise zustande gekommen, stellt das RussVerfG im Gegensatz zu einer früheren Entscheidung nunmehr fest, daß der Präsident über keine eigenständige Verfassungsmäßigkeitskontrolle verfügt.
Hartwig faßt seine Analyse in folgender Erwägung zusammen: «Für die Figur des Präsidenten als des Hüters der Verfassung ist in einem Rechtsstaat mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit kein Platz mehr. Es war seinerzeit ein Sündenfall des Verfassungsgerichts, dem Präsidenten über das ausdrücklich von der Verfassung zugesprochene Recht des suspensiven Vetos eine weitere Kontrollmöglichkeit im Gesetzgebungsverfahren einzuräumen, die, wie sich jetzt im konkreten Fall gezeigt hat, mit der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht in Harmonie zu bringen ist. Die Korrektur dieses Fehlers kostete das Verfassungsgericht einen hohen Begründungsaufwand. (…) Vermutlich hätte das Verfassungsgericht besser daran getan, sich in eindeutiger Weise von seiner ursprünglichen Rechtsprechung abzukehren, anstatt diesen Vorgang hinter nur schwerlich nachzuvollziehenden Argumenten zu kaschieren. (…)
Präsident Jelzin hat das Gebot des Verfassungsgerichts beachtet und das Gesetz unterzeichnet, und dieser Umstand ist zu begrüßen, weil nicht in allen osteuropäischen Staaten die Respektierung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen eine Selbstverständlichkeit ist. Er hat aber gewissermaßen gleichzeitig einen Normenkontrollantrag gestellt, der nun eine verfahrensmäßige und inhaltliche Kontrolle des Kulturgütergesetzes nach sich ziehen wird.» (Seite 369)
Dererwähnte Normenkontrollantrag des Präsidenten findet sich in diesem Heft auf S. 423. Zu Beute-Kunst im weiteren Sinn s.a. S. 408.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, stärkt Verbraucherschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Reise-Veranstalters im Hinblick auf die Einstandspflicht des Reise-Versicherers
In der Rs. Verein für Konsumenteninformation argumentiert der EuGH: «In Anbetracht der Zielsetzungen der Richtlinie, insbesondere ihres Artikels 7, ist letzterer dahin auszulegen, daß er auch einen Sachverhalt erfaßt, in dem ein Hotelier den Reisenden zur Zahlung der Unterbringungskosten zwingt mit der Begründung, dieser Betrag werde ihm von dem zahlungsunfähig gewordenen Reiseveranstalter nicht bezahlt. Das fragliche Risiko ergibt sich nämlich für den Verbraucher, der die Pauschalreise gekauft hat, aus der Zahlungsunfähigkeit oder dem Konkurs des Veranstalters; es muß daher durch die Garantien, die der Veranstalter dem Verbraucher bietet, gedeckt sein.» (Seite 373)
EuGH stellt klar, daß Mutterschaftsurlaub nicht als Beförderungschancen mindernde Fehlzeit gezählt werden darf
Im Thibault-Urteil heißt es: «Daher wird eine Frau, die in bezug auf ihre Arbeitsbedingungen dadurch benachteiligt wird, daß ihr wegen ihrer durch den Mutterschaftsurlaub bedingten Abwesenheit der Anspruch auf jährliche Beurteilung und demzufolge eine Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg genommen wird, wegen ihrer Schwangerschaft und ihres Mutterschaftsurlaubs diskriminiert. Ein solches Verhalten ist eine Diskriminierung unmittelbar aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie.» (Seite 375)
Russisches Verfassungsgericht (RussVerfG), Moskau, verpflichtet den Präsidenten der Föderation, ein von ihm für verfassungswidrig gehaltenes Gesetz (hier: BeutekunstG) gleichwohl auszufertigen, und verweist ihn auf seine spätere Anfechtungsmöglichkeit
«Der Präsident der Russischen Föderation muß ein zu einem früheren Zeitpunkt von ihm abgelehntes Gesetz nach dessen erneuter Annahme durch die Staatsduma und den Föderationsrat binnen sieben Tagen nach der Vorlage der Beschlüsse der Kammern der Föderationsversammlung, mit welchen das Gesetz in seiner ursprünglichen Form angenommen worden ist, unterzeichnen, und er ist verpflichtet, dieses Gesetz zu veröffentlichen. (…)
Dabei hat der Präsident der Russischen Föderation nicht das Recht, die Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsordnung des Föderationsrates zu beurteilen, die nämlich ein normativer Akt einer Kammer ist, – er kann sich nur mit einem entsprechenden Antrag an das Verfassungsgericht der Russischen Föderation wenden. (…)
Die durch den vorliegenden Beschluß festgestellte Notwendigkeit der Unterzeichnung und Veröffentlichung des besagten Gesetzes durch den Präsidenten der Russischen Föderation in dem Verfahren, das durch Art. 107 Abs. 3 der Verfassung der Russischen Föderation vorgesehen ist, kann nicht als Bestätigung der Verfassungsmäßigkeit oder der Verfassungswidrigkeit – darunter auch im Hinblick auf das Verfahren der Annahme – verstanden werden.» (Seite 378)
Siehe hierzu Präsident Jelzins Antrag, in diesem Heft auf S. 423.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Verpflichtung von uniformierten Polizeibeamten zum Tragen von Namensschildern als vereinbar mit dem Grundrecht auf persönliche Freiheit und mit dem Anspruch auf Achtung des Privatlebens
Der Polizeibeamtenverband Basel-Stadt ficht § 33 des kantonalen Polizeigesetzes vom 13. November 1996 an. Das BGer weist die staatsrechtliche Beschwerde ab und führt zur Begründung aus: «Der Beschwerdeführer bezeichnet das Bemühen des Gesetzgebers um Bürgernähe als Schlagwort und Wunschdenken und die Verpflichtung zum Tragen von Namensschildern als ungeeignetes Mittel. Eine abschliessende Beurteilung von solchen Massnahmen unter dem Gesichtswinkel der Geeignetheit und Zielerreichung fällt im Rahmen der abstrakten Normkontrolle nicht leicht. Es ist zu berücksichtigen, dass die Umschreibung der Aufgaben der Polizei im Rahmen des Verfassungsrechts in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt. Es ist eine weitgehend politische Frage, welches Bild die Polizei abgeben und wie sie dem Bürger begegnen soll. Dem Gesetzgeber kommt dabei ein grosser Gestaltungsspielraum zu, hinsichtlich der vorliegenden Streitfrage um so mehr, als der Grundrechtseingriff nicht als schwer bezeichnet werden kann. In Anbetracht dieses weiten Spielraums des Gesetzgebers, aber auch dessen Bemühens, das Verhältnis von Bürgern und Polizei im Sinne der Bürgernähe zu verbessern, dürfen an die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit keine strengen Massstäbe angelegt werden.» (Seite 380)
Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, weist vier gegen die Rechtschreibreform gerichtete Anfechtungsanträge mangels Antragslegitimation bzw. mangels tauglichen Anfechtungsobjekts als unzulässig zurück
In drei Verfahren gehen die Anträge von einer Gymnasial- und drei Volksschülerinnen aus, in einem vierten Verfahren von einem Nachhilfelehrer in Deutsch und Latein. Zur Begründung seiner zurückweisenden Entscheidung führt der VfGH aus:
Die von Vertretern deutschsprachiger Länder am 1. Juli 1996 in Wien unterzeichnete „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ [Wiener Absichtserklärung, s.u. S. 383 f.] sei – anders als die betreffende Antragstellerin meint – kein Staatsvertrag, sondern eine rechtlich nicht verbindliche, gegenseitige Verwendungszusage der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Dokuments. Den gegen § 15 Abs. 1 der Leistungsbeurteilungsverordnung gerichteten Antrag hält der VfGH deshalb für unzulässig, weil die Bestimmung für die Antragstellerin, eine Schülerin, die im abgelaufenen Schuljahr die 8. Klasse eines Gymnasiums besucht, keine aktuellen Rechtswirkungen entfalten könne. Was die angefochtenen Erlasse des Bundesministeriums für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten anlangt, handele es sich dabei nicht um Verordnungen, sondern um bloße Informationen bzw. Empfehlungen ohne normativen Charakter. (Seite 383)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, weist Verfassungsbeschwerde gegen die Rechtschreibreform als unbegründet zurück
Grundrechte von Eltern und Schülern werden nach dem Urteil des BVerfG durch die zum 1. August 1998 in Kraft tretende Neuregelung nicht verletzt. Insbesondere wird weder gegen das elterliche Erziehungsrecht noch gegen die Handlungsfreiheit i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip noch gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen. Bf. ist ein Elternpaar zweier schulpflichtiger Kinder in Schleswig-Holstein.
Das BVerfG stellt fest: «Notwendigkeit und Inhalt, Güte und Nutzen der Rechtschreibreform, die Gegenstand der Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und der Fachwelt sind, können nicht nach verfassungsrechtlichen Maßstäben beurteilt werden. Das Grundgesetz enthält keine Vorschriften über die sprachwissenschaftlich richtige Schreibung der deutschen Sprache und die korrekte Gliederung geschriebener Texte durch Satzzeichen. Ebensowenig läßt sich dem Grundgesetz etwas dafür entnehmen, wie bestimmte im Schulunterricht verwendete Schreibweisen aus pädagogischer Sicht zu bewerten sind. (…)
Zumindest seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht sind der Rechtschreibunterricht und die Bestimmung seiner Grundlagen vornehmlich eine Aufgabe von Staat und Schule. (…) Daß Rechtschreibunterricht den Erziehungsplan der Eltern ernsthaft beeinträchtigen könnte, ist nicht ersichtlich.»
Die von den Bf. aus Protest gegen die Vorveröffentlichung des zu erwartenden Urteils des BVerfG durch „Frankfurter Rundschau“ und „Focus“ erklärte Rücknahme der Verfassungsbeschwerde erklärt das BVerfG aus Gründen des öffentlichen Interesses für unbeachtlich. (Seite 395)
BVerfG hält die Klagsperre vor deutschen Gerichten gegen Enteignung deutschen Auslandsvermögens nach dem zweiten Weltkrieg für verfassungsgemäß
Die 3. Kammer des Zweiten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde des Fürsten von Liechtenstein zur Wiedererlangung eines ehemals im Eigentum seines Vaters befindlichen und von der Tschechoslowakei nach dem zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen Vermögenswerten mit der Begründung enteigneten Gemäldes, der Vater des Bf. habe unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit die deutsche Nationalität besessen, mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung an.
Das Ausgangsverfahren vor den Zivilgerichten war angestrengt worden, nachdem das Bild als Leihgabe vorübergehend nach Deutschland gebracht worden war. (Seite 408)
BVerfG billigt die Anrechnung von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen auf Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung
In der Entscheidung wird betont: «Ansprüche von Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung auf Versorgung ihrer Hinterbliebenen unterliegen nicht dem Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG.»
Des weiteren führt das BVerfG aus: «Die angegriffenen Vorschriften dienen der Umsetzung des Regelungsauftrags, den das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 12. März 1975 dem Gesetzgeber erteilt hat (vgl. BVerfGE 39, 169 [194 f.] = EuGRZ 1975, 170 [175]). Das Recht der Hinterbliebenenrente sollte in der Weise neu geordnet werden, daß es dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau besser Rechnung trägt als die bisherige Rechtslage. (…) Der Gesetzgeber hat mit der von ihm gewählten Anrechnungsregelung das Ziel verfolgt, die erforderliche Neuordnung ohne zusätzliche Kosten für die Versichertengemeinschaft zu erreichen. Dieses Ziel trägt einem wichtigen öffentlichen Interesse Rechnung, indem es zur Erhaltung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung beiträgt.» (Seite 410)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, spricht sich mit Nachdruck für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen aus und fordert eine rasche Ratifizierung des inzwischen in Rom verabschiedeten Statuts. (Seite 418)
EP legt sich auf Prioritäten in den Beziehungen der EU zu Rußland fest
Angelpunkte im Konzept des EP sind: (1) Konsolidierung der russischen Gesellschaft, (2) Entwicklung der Partnerschaft und Öffnung der Märkte für russische Erzeugnisse sowie strenge Kontrolle der Verwendung der an die Russische Föderation ausgezahlten oder geliehenen Mittel, (3) Stärkung der Sicherheit in Europa auf der Grundlage einer gegenseitigen Zusammenarbeit und (4) Definition einer neuen Ordnung des europäischen Raums. (Seite 419)
Russisches Verfassungsgericht (RussVerfG), Moskau, wird auf Antrag von Präsident Jelzin die Verfassungsmäßigkeit des Beutekunst-Gesetzes prüfen
Inhaltlich beanstandet der Präsident in seinem Antrag an das RussVerfG vom 15. April 1998, das Gesetz verletze die Eigentumsgarantie der Verfassung (1.), indem es die Gesamtheit der Kulturgüter ohne Rücksicht auf die gegenwärtigen Eigentums- bzw. Besitzverhältnisse zu Eigentum der Föderation erklärt, das Gesetz verletze deshalb (2.) zugleich Art. 6 Abs. 2 der RussVerf, wonach ausländische Bürger im wesentlichen die gleichen Rechte haben wie russische Bürger; durch die (3.) eigenmächtige Errichtung eines föderalen Organs zum Erhalt der Kulturgüter mit Exekutiv- und Streitentscheidungsbefugnissen sowie durch die Errichtung eines kollegialen Beratungsorgans werde gegen das verfassungsmäßige Prinzip der Gewaltenteilung verstoßen; durch die in dem Gesetz aufgestellten speziellen, unmöglich einzuhaltenden Regeln für ausländische Staaten zur Rückerlangung ihrer Kulturgüter werden (4.) eine Vielzahl völkerrechtlicher Grundsätze (Prinzip der Zusammenarbeit, Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten nach Treu und Glauben), Verträge und Verpflichtungen, insbesondere im Rahmen der Unesco und im Zusammenhang mit dem Beitritt zum Europarat, verletzt.
Verfahrensrechtlich macht der Präsident geltend, das Gesetz sei vor allem deshalb in verfassungswidriger Weise zustande gekommen, weil in der Staatsduma das für die Überstimmung seines Vetos vorgeschriebene Quorum nicht erreicht worden sei, einige Abgeordnete nicht nur für sich selbst, sondern auch für abwesende Abgeordnete abgestimmt hätten und weil im Föderationsrat nicht in persönlicher Abstimmung, sondern per Unterschriftenliste votiert worden sei. (Seite 423)
Zum bisherigen Verfahren vor dem RussVerfG s.a. den Aufsatz von Hartwig, oben S. 369.