EuGRZ 2000 |
17. Oktober 2000
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27. Jg. Heft 11-13
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Informatorische Zusammenfassung
Heinrich Koller, Bern/Basel, und Giovanni Biaggini, Zürich, geben einen vertiefenden Überblick über Neuerungen und Akzentsetzungen der neuen schweizerischen Bundesverfassung
Die am 1. Januar 2000 in Kraft getretene neue Verfassung löst die Bundesverfassung von 1874 ab. Sie stellt den erfolgreichen ersten Schritt einer „Verfassungsreform in Etappen“ dar, deren rechtspolitische Entwicklung die Autoren bis in die 1960er Jahre zurückverfolgen. Die konsequentere Systematik und stärkere Gliederung des Verfassungstextes werden erläutert, ebenso die Kodifizierung von in der Rechtsprechung des Bundesgerichts entwickelten ungeschriebenen Grundrechten, weitere Neuerungen wie beim Umweltschutz, dem Verhältnis von Bund und Kantonen, dem Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und der Einbettung der Schweiz in die internationale Staatengemeinschaft.
Zur Festigung des Rechtsstaats gehören die Verankerung rechtsstaatlicher Grundsätze sowie der prinzipielle Vorrang des Völkerrechts. Ausführlich wird der neue Grundrechtskatalog gewürdigt, der nicht als abschließend zu verstehen ist: «Das Bundesgericht als Verfassungsgericht soll weiterhin seine spezielle Verantwortung für die Pflege und Weiterentwicklung der Grundrechte wahrnehmen können. (…) Die neue Bundesverfassung bringt darüber hinaus deutlich zum Ausdruck, dass die Individualgarantien des Grundrechtskatalogs zugleich als fundamentale Ordnungsprinzipien bzw. objektive Grundsatznormen zu verstehen sind, die überall in der Rechtsordnung zum Tragen kommen sollen. In diesem Sinn bestimmt Art. 35 Abs. 1 BV, dass es Aufgabe der Behörden ist, dafür zu sorgen, „dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden“. (…) Hingegen soll es nach dem erklärten Willen des Verfassungsgebers nicht möglich sein, aus den Sozialzielen, die bewusst in einem gesonderten Kapitel des 2. Titels verankert wurden, individuelle Leistungsansprüche gegenüber dem Staat abzuleiten (so ausdrücklich Art. 41 Abs. 4 BV).»
Obwohl die Regierung eine besondere Bestimmung über die Pflichten des Einzelnen für entbehrlich hielt, hat das Parlament eine solche in Art. 6 eingefügt: «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»
Koller und Biaggini betonen abschließend: «Auch wenn die neue Bundesverfassung nicht die Lösung aller drängenden staatspolitischen Gegenwartsprobleme bringt, bildet sie doch eine solide Grundlage für die vorgesehenen weiterführenden Reformen (Justiz, Staatsleitung, Volksrechte, Föderalismus). Darüber hinaus leistete der Prozess der Verfassungsreform einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung und Bekräftigung des gesellschaftlichen Grundkonsenses, der für die Schweiz mit ihren vier Sprachen und Kulturen von existentieller Bedeutung ist.» (Seite 337)
Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), zeichnet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht in den Jahren 1998/99 nach / Anschluß an EuGRZ 1998, 429-443
Der Autor behandelt zunächst prozessuale Fragen der Zulässigkeit und der Annahmevoraussetzung des „besonders schweren Nachteils“. Die Entscheidungen zum Grundrecht auf Asyl gliedert er u. a. nach Kriterien für den Begriff der politischen Verfolgung, Nachfluchtgründe, Asylfolgeverfahren, offensichtliche Unbegründetheit, Anforderungen an gerichtliche Tatsachenfeststellungen, rechtliches Gehör, Voraussetzungen einer Berufungszulassung und sonstige Entscheidungen zum Asylrecht. Beim Ausländerrecht geht es in erster Linie um das Aufenthaltsrecht und Abschiebungshindernisse.
Für die nähere Zukunft stellt Roeser fest: «Verfassungsrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aus den Rechtsgebieten des Asyl- und Ausländerrechts stehen derzeit nicht zur Entscheidung an. Die Funktion der Verfassungsbeschwerde auch als Mittel zur Einzelfallprüfung ist jedoch gerade im Hinblick auf die Verkürzung des fachgerichtlichen Rechtsweges im Asylverfahren nach wie vor als wichtig einzuschätzen. Die weitere Entwicklung der Eingangszahlen wird im übrigen zeigen, ob der derzeitig zu beobachtende Trend – Rückgang der Verfassungsbeschwerden im Asylrecht und steigende Tendenz bei den Verfahren aus dem Ausländerrecht – auch in Zukunft anhält. Der Bericht der Kommission vom Dezember 1997 zu Möglichkeiten einer Entlastung des Bundesverfassungsgerichts hat schließlich bislang noch nicht zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers geführt.» (Seite 346)
Frank Hoffmeister, Berlin, setzt sich kommentierend mit der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) auseinander
Vom Jersild-Interview zum Lindberg-Bericht – der Autor arbeitet die wesentlichen Linien der Entscheidungspraxis heraus und systematisiert die presserechtlich relevanten Urteile nach (1) Presseberichterstattung mit journalistischer Meinung, (2) Wiedergabe fremder Meinungen, (3) Wiedergabe fremder Tatsachenbehauptungen oder Materialien, (4) Zurechnung der presserechtlichen Sorgfaltspflichten. In einer Übersicht werden die 48 Urteile aus den Jahren 1994 bis 1999 nach Sachgruppen zusammengestellt.
Kritisch merkt Hoffmeister an, der EGMR «sollte mehr Sorgfalt darauf verwenden, vor der Einzelfallentscheidung die entscheidungsrelevanten Obersätze in den Mittelpunkt zu stellen, um so im Sinne der Subsidiarität den mitgliedstaatlichen Gerichten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgabe zu helfen, die von der Konvention geforderten Wertmaßstäbe selbst richtig anwenden zu können.»
Der Autor regt an, «bereits bei der Beschreibung der anwendbaren Prinzipien im Bereich der Pressefreiheit Untergruppen zu bilden. (…) Der Nutzen und die Autorität der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte könnten sich weiter erhöhen, wenn [diese] Erkenntnisse nicht aus einer mühsamen Analyse der Gründe gewonnen werden müßten, sondern die Richter die zu behandelnden mannigfaltigen Konstellationen unter Art. 10 EMRK klar trennten. Möglicherweise obliegen dem Gerichtshof selbst nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gewisse „Pflichten und Verantwortlichkeiten“, um das Recht der Öffentlichkeit auf Lektüre seiner Entscheidungen von unbezweifelbarem europäischem Interesse zu effektuieren.» (Seite 358)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sanktioniert – mit 20.000 Euro pro Tag – zum ersten Mal die fortgesetzte Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats / Kommission gegen Griechenland wegen gefährlicher und giftiger Abfälle auf Kreta
Bestraft wird die Nichtbefolgung des EuGH-Urteils vom 7. April 1992, Rs. C-45/91, Slg. 1992, I-2509, das die Kommission gegen Griechenland wegen Mißachtung grundlegender Umweltschutzbestimmungen erwirkt hatte. Konkret handelte es sich darum, daß sowohl Haus- wie auch giftige und gefährliche Abfälle in das Tal des Wildbachs Kouroupitos im Bezirk Chania auf Kreta gekippt wurden, und zwar nahe der Mündung des Bachs ins Meer. Das Argument der griechischen Regierung, sie könne die europäischen Umweltschutzbestimmungen für eine geordnete Abfall-Entsorgung wegen des Widerstands der örtlichen Bevölkerung nicht durchsetzen, hat der EuGH unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung zurückgewiesen.
In dem jetzt entschiedenen Zwangsgeldverfahren konnte die Kommission nicht beweisen, daß weiterhin giftige und gefährliche Abfälle in den Bach abgeladen werden. Wohl aber steht fest, daß die griechische Regierung keinerlei Pläne für die Beseitigung dieser Abfallstoffe aufgestellt, geschweige denn durchgeführt hat. Die Regierung hat dagegen nicht bestritten, daß Hausmüll noch heute so entsorgt wird, wie ein wissenschaftliches Gutachten es 1996 beschrieben hat: „Die Abfälle werden ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen 200 Meter vom Meer entfernt vom Gipfel in die Schlucht abgeladen. Die Abfälle brennen seit mindestens 10 Jahren, ohne daß das Feuer unter Kontrolle gebracht werden könnte.“
Für die Höhe des Zwangsgeldes nimmt der EuGH zu den Kriterien Dauer und Schwere des Verstosses bzw. Zahlungsfähigkeit des betroffenen Staates Stellung: «Bei der Anwendung dieser Kriterien ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Auswirkungen die Nichterfüllung der Verpflichtungen auf private und öffentliche Interessen hat, und wie dringlich es ist, den betreffenden Mitgliedstaat dazu zu veranlassen, seinen Verpflichtungen nachzukommen.» (Seite 369)
&HFK;Griechenland ist auch der erste Staat, der ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zwei Jahre lang erklärtermaßen nicht befolgen wollte, u. a. mit dem Argument, die vom EGMR (den innerstaatlichen Gerichten folgend) festgesetzte Schadensersatzsumme von 16 Millionen Dollar sei zu hoch. Erst als im Ministerkomitee des Europarates – informell und nichtöffentlich – mit Suspendierung bzw. Ausschluß gedroht wurde, lenkte die Regierung Simitis innerhalb von zwei Tagen ein. Cf.“The Papandreou/Simitis precedent“, Editors' note in Human Rights Law Journal (HRLJ) 1999, 134 sowie die maßgebenden Entschließungen des Ministerkomitees des Europarats zum Fall Stran Greek Refineries, ebenda m.w.N.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, weist Klage eines während des Zweiten Weltkriegs zurückgewiesenen und den deutschen Behörden übergebenen jüdischen Flüchtlings aus Staatshaftung ab, spricht jedoch SFr. 100.000,– als Parteientschädigung zu
Bei aussergewöhnlichen Umständen kann das Bundesgericht auch die obsiegende Partei (hier: die Eidgenossenschaft) aus Billigkeitsgründen verpflichten, die Kosten der unterliegenden Partei ganz oder teilweise zu übernehmen.
Das BGer begründet seine ungewöhnliche Entscheidung auch mit der Erwägung, «der menschlichen Tragik nicht nur in Worten Rechnung zu tragen». Weiter: «Im Übrigen war seine [des Klägers] Prozessführung insofern erschwert, als er sich heute in Australien aufhält, was besondere Koordinationsprobleme und Reisekosten verursachte. In Abwägung aller Umstände und unter Berücksichtigung, dass der Kläger von Anfang an darauf verzichtet hat, sich an den amerikanischen „Class-Action“-Verfahren zu beteiligen, weshalb er dort, sollten diese zu einem Abschluss kommen, keine Entschädigung erhalten wird, rechtfertigtes sich, die Parteientschädigung für das vorliegende Verfahren auf Fr. 100'000.– festzusetzen.» (Seite 376)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt das Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten insofern für verfassungswidrig, als es den Elementarunterricht in slowenischer Sprache auf die ersten drei Schulstufen der Volksschule beschränkt
Es handelt sich um ein Bundesgesetz. Die Aufhebung der verfassungswidrigen Bestimmung tritt erst mit Ablauf des 31. August 2001 in Kraft, um allfällige Vorkehrungen für die folgenden Schuljahre zu ermöglichen. (Seite 384)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, präzisiert den Begriff der „politischen Verfolgung“ i.S.d. Asyl-Grundrechts durch staatsähnliche Herrschaftsorganisationen in einem Afghanistan betreffenden Fall
Die 1. Kammer des Zweiten Senats hebt zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts mit der Begründung auf, die Anforderungen an das Vorliegen politischer Verfolgung i.S.v. Art. 16a Abs. 1 GG würden überspannt. In der stattgebenden Kammerentscheidung heißt es: «[Die Asylgewährleistung] will den Einzelnen vor gezielten, an asylerhebliche Merkmale anknüpfenden Rechtsverletzungen schützen, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Darin liegt als Kehrseite beschlossen, dass Schutz vor den Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt nicht durch Art. 16a Abs. 1 GG versprochen ist.» (…)
Ein Erfordernis, «das allein wegen des andauernden äußeren Bürgerkriegsgeschehens die Möglichkeit politischer Verfolgung auf unabsehbare Zeit ausschließt, verfehlt die für Art. 16a Abs. 1 GG maßgebliche Frage nach der Beschaffenheit des Herrschaftsgefüges im Innern des beherrschten Gebietes zwischen dem verfolgenden Machthaber und den ihm unterworfenen Verfolgten». (Seite 388)
Siehe auch den Aufsatz von Thomas Roeser, Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht in den Jahren 1998 und 1999, in diesem Heft S. 346.
Privatanklage Haider gegen Pelinka / Landesgericht für Strafsachen Wien bestraft politische Kritik als üble Nachrede
Das noch nicht rechtskräftige Urteil kriminalisiert ein Interview des in Innsbruck lehrenden Politikwissenschaftlers Anton Pelinka mit dem italienischen Fernsehen RAI zu Jörg Haider, in dem er sagte: «Haider hat im Laufe seiner Karriere immer wieder Aussagen gemacht, die als Verharmlosung des Nationalsozialismus zu werten sind. Er hat einmal die Vernichtungslager „Straflager“ genannt. Insgesamt ist Haider verantwortlich für eine neue Salonfähigkeit bestimmter nationalsozialistischer Positionen und bestimmter nationalsozialistischer Äußerungen.»
Zuerst hatte das LG Strafs. Wien das Privatanklage-Verfahren Haider gegen Pelinka mit der Erwägung kostenpflichtig eingestellt, es handele sich ersichtlich um politische Kritik innerhalb der weit gezogenen Toleranzgrenzen. Die erhöhte Kritikunterworfenheit von Politikern in öffentlichen Funktionen wird vom LG ausdrücklich erwähnt. (Seite 390)
Danach hebt das OLG Wien den Einstellungsbeschluss der Vorinstanz auf und gibt dem Erstgericht für das weitere Verfahren Vorgaben („Schmähkritik und Wertungsexzesse“), die eine Verurteilung geboten erscheinen lassen. (Seite 391)
Schließlich stellt das LG Strafs. Wien nach mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme eine «ambivalente Einstellung gegenüber einzelnen Aspekten des Nationalsozialismus» bei Dr. Haider fest, verurteilt Prof. Pelinka dennoch, weil sein Haider-Zitat im italienischen Fernsehen «sinnwidrig verzerrt» gewesen sei. (Seite 392)
Siehe auch die Anmerkung der Redaktion: «In hohem Maße empörend ist es, wenn ein international angesehener Wissenschaftler sich für sachlich vorgetragene Kritik vor Gericht ziehen lassen muß – von einem Politiker, der selbst maßlos provoziert, z.T. beleidigend und verantwortungslos in der Öffentlichkeit auftritt („Westentaschen-Napoléon“ für einen gewählten Staatspräsidenten und „Landesverrat“ für Teile der Europa-Politik des Außenministers Schüssel).» (Seite 398)
Österreich-Sanktionen / Adamovich-Bericht vor der EU-Delegation des französischen Senats am 26.4.2000 in Paris, dt. Fassung. (Seite 399)
Ahtisaari/Frowein/Oreja-Bericht vom 8.9.2000 für die Regierungen von 14 Mitgliedstaaten der EU, dt. Fassung mit Fundstellen d. Red. (Seite 404)
Kommuniqué der XIV zum Ende der Sanktionen. (Seite 416)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg – Beschwerde wegen Zurückweisung des Verteidigers in französischem Abwesenheitsverfahren gegen deutschen Angeklagten. (Seite 416)