EuGRZ 2001 |
27. August 2001
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28. Jg. Heft 11-13
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Informatorische Zusammenfassung
Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, analysiert die Argumentation des IGH zur Verbindlichkeit einstweiliger Anordnungen im LaGrand-Urteil und kommentiert dessen Tragweite als „Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit und der Rolle des Individuums im Völkerrecht“
«Der Gerichtshof kommt mit überzeugender Mehrheit von dreizehn gegen zwei Stimmen, wobei besonders zu vermerken ist, dass auch der amerikanische Richter Buergenthal im Sinne der Mehrheit stimmt, zu dem Ergebnis, dass einstweilige Anordnungen verbindlich sind.
Mit dieser Feststellung beendet der IGH die jahrzehntelange Diskussion in einer nicht erwarteten eindeutigen Art und Weise. Er konstatiert die Verbindlichkeit, ohne sich der Frage der Zuständigkeit zuzuwenden, die ja in der internationalen Gerichtsbarkeit die zentrale Frage schlechthin darstellt. (…) Daher ist es durchaus einleuchtend, dass der Gerichtshof … entschieden hat, dass Staaten, die zumindest durch eine prima facie als gegeben angesehene Zuständigkeitsgrundlage dem Gerichtshof unterworfen sind, einstweilige Maßnahmen zu befolgen haben. (…)
Damit hat der Gerichtshof in der Abwägung zwischen der Souveränität der Staaten, die Ausdruck findet im Konsensprinzip – wonach internationale Gerichtsbarkeit wegen des hiermit verbundenen Teilverzichts auf Souveränität immer die Zustimmung der betroffenen Staaten voraussetzt – und der Wirksamkeit der Gerichtsbarkeit letzterer den Vorrang eingeräumt. (…)
In diesem Sinne hat diese Entscheidung vertrauensbildenden Charakter für Staaten, die in diplomatischen Verhandlungen angesichts der Stärke der anderen Partei keine großen Chancen hätten; sie hataber auch mächtigen Staaten gegenüber verdeutlicht, dass internationale Gerichtsbarkeit die Beachtung einmal übernommener völkerrechtlicher Verpflichtungen gewährleisten kann und dass die Souveränität der Staaten nicht mehr das allein dominierende Element im Völkerrecht ist.» (Seite 265)
Deutsche Übersetzung des Urteils und wesentlicher Teile der Sondervoten, s.u. S. 287.
Michaela Wittinger, Karlsruhe, behandelt „Die Gleichheit der Geschlechter und das Verbot geschlechtsspezifischer Diskriminierung in der EMRK“
Die Autorin gibt einen ausführlichen Überblick über den Status quo der Straßburger Rechtsprechung und skizziert die Perspektiven des noch nicht in Kraft getretenen 12. Zusatzprotokolls. (Seite 272)
Anne Lenze, Bensheim, untersucht die Urteile des BVerfG zur Pflegeversicherung auf ihre „Konsequenzen für die Rentenversicherung und für den Prozess der europäischen Sozialrechtsharmonisierung“
Nach einer sehr präzisen Analyse der Rechtsprechung und ihrer rechtspolitischen Folgen stellt die Autorin allgemein fest: «Obwohl das BVerfG in regelmäßigen Abständen den Gesetzgeber auffordert, die Lebensbedingungen von Familien zu verbessern und einen gerechten Ausgleich zwischen Menschen mit und ohne Kindern vorzunehmen, lässt sich eine besorgniserregende Diskrepanz zwischen den Vorstößen des Verfassungsgerichtes und den konkreten Gesetzesänderungen beobachten.» (Seite 280)
Internationaler Gerichtshof (IGH), Den Haag, bestätigt im Urteil LaGrand (Deutschland gegen Vereinigte Staaten von Amerika) die Verbindlichkeit einstweiliger Maßnahmen und klärt die Rechtsfolgen der Nichtbeachtung durch die USA
Strafrechtlich besteht kein Zweifel, dass die Brüder Karl und Walter LaGrand, die in jungen Jahren mit ihrer Mutter von Deutschland in die USA gekommen waren, bei einem Bankraub in Arizona einen Menschen getötet hatten. Dafür wurden sie 1982 wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Völkerrechtlich geht es in der Hauptsache darum, dass die amerikanischen Behörden, obwohl sie (wie sich später herausstellte) die deutsche Staatsangehörigkeit der beiden Angeklagten von Anfang an kannten, ihrer vertraglichen Verpflichtung aus Art. 36 Abs. 1 der Wiener Konsularkonvention nicht nachkamen, die Festgenommenen über ihr Recht auf konsularischen Beistand zu informieren und ggf. auf deren Wunsch den deutschen Konsul zu unterrichten.
Nachdem diplomatische Bemühungen, die Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe zu erreichen, erfolglos blieben und Karl LaGrand am 24. Feburar 1999 hingerichtet wurde, erhob Deutschland schließlich einen Tag vor der geplanten Hinrichtung von Walter LaGrand am 3. März 1999 Klage vor dem IGH und beantragte eine einstweilige Anordnung.
Innerhalb von 24 Stunden erließ der IGH die einstweilige Anordnung, die Hinrichtung bis zum Urteil in der Hauptsache auszusetzen (EuGRZ 1999, 450). Die Gouverneurin von Arizona, der die einstweilige Anordnung über das State Department zugestellt wurde, missachtete die richterliche Entscheidung.
Der IGH kommt zu dem Ergebnis, erstens dass der Anspruch eines Festgenommenen auf Information und Durchsetzung seines Rechts auf konsularischen Beistand ein Individualrecht ist, zweitens dass zur Wiedergutmachung gegenüber dem betroffenen Staat wegen der Verletzung seines Rechts, konsularischen Beistand zu leisten, in schweren Fällen eine Entschuldigung nicht genügt, sondern wie hier bei drohender Todesstrafe die Zusicherung der Nicht-Wiederholung erforderlich sein kann. Drittens entscheidet der IGH zum ersten Mal, dass seine einstweiligen Anordnungen bindend sind und ihre Nichtbeachtung einen Bruch des Völkerrechts darstellt. (Seite 287)
Sondervoten wurden abgegeben von den Richtern Guillaume (Erklärung), S. 295; Shi, S. 295; Oda, S. 296; Koroma, S. 297; Parra-Aranguren, S. 298 und Buergenthal, S. 298.
Zu den Einzelheiten s.o. den Aufsatz von Karin Oellers-Frahm, S. 265 ff. und dies., Pacta sunt servanda – gilt das auch für die USA? / Überlegungen anlässlich der Missachtung der einstweiligen Anordnungen des IGH im Breard- und im LaGrand-Fall durch die Vereinigten Staaten, EuGRZ 1999, 437 ff.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bestätigt Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer / Metzger gegen Deutschland
Das Verfahren gegen den Oberbürgermeister von Darmstadt wegen umweltgefährdender Abfallbeseitigung (Ableitung der Abfälle des städtischen Schlachthofs in die allgemeine Kanalisation) dauerte 9 Jahre. Der EGMR bekräftigt, die Vertragsstaaten seien nach Art. 6 Abs. 1 EMRK «verpflichtet, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass Gerichtshöfe und Gerichte den Anforderungen dieser Vorschriften gerecht werden können». (Seite 299)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, stärkt Patientenrechte für Behandlung in EU-ausländischen Krankenhäusern und soziale Sicherheit von Grenzgängern
In der Rs. Smits und Peerbooms entwickelt der EuGH Kriterien für den Anspruch auf Genehmigung und Kostenübernahme einer Krankenhausbehandlung (hier: wegen Parkinson bzw. Koma) in einem anderen EU-Mitgliedstaat. (Seite 302)
Der Ausgleich unterschiedlicher Erstattungssätze bei inländischer bzw. ausländischer Krankenhausbehandlung wird in der Rs. Vanbraekel entschieden. (Seite 311)
Der Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung für Grenzgänger (hier: Deutscher Arbeitnehmer in Österreich) wird in der Rs. Jauch bekräftigt. (Seite 316)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, ändert im Revisionsverfahren im Anschluss an das Amann-Urteil des EGMR (Fichenskandal) sein ursprüngliches Urteil im Kostenpunkt ab
«Nach Art. 156 Abs. 3 bzw. Art. 159 Abs. 3 OG kann das Bundesgericht die Verfahrens- und Parteikosten verhältnismäßig verlegen, wenn sich die unterliegende Partei in guten Treuen zur Prozessführung veranlasst sehen durfte; dies war mit Blick auf die vom [Europäischen] Gerichtshof [für Menschenrechte] festgestellte Konventionsverletzung hier der Fall.» (Seite 319)
BGer wendet Art. 6 Ziff. 1 EMRK auch in Staatshaftungsprozessen an
«Diese Bestimmung verlangt, dass der Schadenersatzanspruch des Klägers durch ein Gericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend geprüft wird.» Der Kläger war bei der Auftragsvergabe für Malerarbeiten in einer Kirche in Luzern trotz des preisgünstigsten Angebots übergangen worden. (Seite 324)
BGer bekräftigt Anspruch auf öffentliche Verhandlung vor einem unabhängigen Gericht auch in anwaltsrechtlichen Disziplinarverfahren
Die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte im Kanton Zürich hatte zwar öffentlich verhandelt, ist aber kein Gericht. Das Obergericht hatte trotz Antrag des Beschwerdeführers nicht öffentlich verhandelt. (Seite 326)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt Verbot einer gewaltfreien Demonstration gegen chinesischen Staatspräsidenten für verfassungswidrig
«Es ist … nicht nachvollziehbar, weshalb das Aufstellen von Transparenten etwa am Rande des Ballhausplatzes, Richtung Hofburg, nicht ohne Sicherheitsrisiko hätte möglich sein können. (…) Die Untersagung der angezeigten Versammlung war vielmehr nur von dem Bestreben getragen, dem Staatsgast den Anblick demonstrierender Menschengruppen zu ersparen.» (Seite 329)
VfGH sieht keine Verletzung der Versammlungsfreiheit bei Demonstrationsverbot wegen gezielter Störung der Friedhofsruhe
«Das traditionelle christliche Totengedenken zu Allerheiligen auf Friedhöfen ist insgesamt als religiöser Gebrauch durch Art. 9 EMRK grundrechtlich geschützt.» Der Staat sei deshalb zum Schutz rechtmäßiger Religionsausübung gegen gezielte Störungen von dritter Seite verpflichtet.
Die abgewiesenen Beschwerdeführer hatten auf dem Salzburger Kommunalfriedhof gegen die Kranzniederlegung ehemaliger SS-Angehöriger demonstrieren wollen. In den vergangenen Jahren war es bei gleicher Gelegenheit zu lautstarken Diskussionen und empfindlichen Störungen der anderen Friedhofsbesucher gekommen, die durch Polizeieinsatz beendet wurden. (Seite 330)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe – Entscheidungen im Zusammenhang mit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD)
Parteiverbotsverfahren gegen die NPD wurden von der Bundesregierung am 30. Januar, von Bundestag und Bundesrat am 30. März 2001 vor dem BVerfG angestrengt. Am 23. Januar 2001 lehnte der Zweite Senat einen Antrag der NPD auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, mit dem Einsicht in die den Verbotsantrag vorbereitenden Akten bei Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag erzwungen werden sollte. (Seite 333)
Die 4. Kammer des Zweiten Senats nahm Ende Februar 2001 mehrere Verfassungsbeschwerden wegen Nichterschöpfung des Rechtsweges bzw. nicht ordnungsgemäßer Begründung nicht zur Entscheidung an, mit denen verschiedene Landes- und sonstige Verbände der NPD gegen die Kündigung ihrer Konten bei Banken, Sparkassen und der Postbank vorgehen wollten. (S. 333, 334, 335)
Gegen RA Horst Mahler, der zu den Verfahrensbevollmächtigten der NPD vor dem BVerfG gehört, ist in Berlin ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB, Aktenzeichen: 81 Js 3570/01) anhängig. Mit Durchsuchungsbeschlüssen des Amtsgerichts Tiergarten wurden am 11. Juni die Privatwohnung, die Kanzlei und das Arbeitszimmer Mahlers in der Parteizentrale der NPD durchsucht und elektronische Daten und Unterlagen beschlagnahmt. Der Zweite Senat ordnete am 15. Juni die Versiegelung der beschlagnahmten Unterlagen und am 3. Juli 2001 deren Rückgabe an. Zuvor seien Kopien anzufertigen, zu versiegeln und bis auf weiteres beim AG Tiergarten zu verwahren. (Seite 336)
BVerfG erkennt wegen der in Bayern bislang unterbliebenen Ausführungsvorschriften zu dem am 1.8.2001 in Kraft getretenen LebenspartnerschaftsG keine Anhaltspunkte für eine Obstruktion des Landesgesetzgebers gegenüber dem Bundesgesetzgeber
Die dritte Kammer des Ersten Senats nimmt eine Verfassungsbeschwerde (mit Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) mangels Erfolgsaussicht nicht zu Entscheidung an. Grundsätzlich könne gesetzgeberisches Unterlassen nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein. Außerdem sei die Bayerische Landesregierung nicht gänzlich untätig geblieben, sondern habe einen entsprechenden Gesetzentwurf am 31. Juli beschlossen. (Seite 338)
BVerfG lehnt Antrag Bayerns und Sachsens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Inkrafttreten des LebenspartnerschaftsG am 1.8.2001 ab
In dem Urteil des Ersten Senats heißt es u. a.: «Bei einem In-Kraft-Treten des angegriffenen Gesetzes sind irreversible Nachteile für das Institut der Ehe nicht zu erwarten. Das rechtliche Fundament der Ehe erfährt keine Änderung. (…) Würde das Gesetz vorläufig außer Vollzug gesetzt, erwiese es sich jedoch später als verfassungsgemäß, träte zwar keine Rechtsunsicherheit ein; es wären auch keine Rechtsbeziehungen rückabzuwickeln, aber es käme zu endgültigen Rechtsverlusten bei allen durch das Gesetz begünstigten Personen.» (Seite 345)
Vizepräsident Papier, Richterin Haas und Richter Steiner widersprechen dem in einer abweichenden Meinung. (Seite 347)
BVerfG unterstreicht identitätsstiftende Wirkung des Namens / „Singh“ als Ehename eines Deutschen indischer Abstammung
Konkret sieht die 3. Kammer des Ersten Senats in der Weigerung der Personenstandsbehörden, „Singh“ als Ehenamen anzuerkennen, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das rechtsstaatliche Gebot des Vertrauensschutzes verletzt. (Seite 340)
BVerfG billigt Gedenkmünze „In Memorian Willy Brandt“
Die 1. Kammer des Ersten Senats sieht das postmortale Persönlichkeitsrecht des ehemaligen Bundeskanzlers, Regierenden Bürgermeisters von (West)Berlin, SPD-Parteivorsitzenden und Friedensnobelpreisträgers nicht verletzt und nimmt deshalb die Vb. der Witwe Brandts nicht zur Entscheidung an. (Seite 342)
BVerfG lehnt Korrektur eines BVerfG-Urteils zwecks Menschenrechtsbeschwerde an den EGMR ab
Das Sitzungsprotokoll muss zum Nachweis abgelehnter Beweisanträge genügen. Hier: Urteil zum Entschädigungs- und AusgleichsleistungsG, EuGRZ 2000, 573. (Seite 344)
Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarats in Straßburg veröffentlicht 2. Deutschland-Bericht. (Seite 344)