EuGRZ 2004
15. September 2004
31. Jg. Heft 16-18

Informatorische Zusammenfassung

Marten Breuer, Potsdam, setzt sich mit dem ersten „Piloturteil“ des EGMR für eine größere Zahl anhängiger oder zu erwartender Parallelverfahren auseinander, d.h. mit Urteilsfolgen bei strukturellen Problemen des beklagten Staates / Fall Broniowski gegen Polen, EuGRZ 2004, 472
Im Ausgangsverfahren geht es um die administrative und legislative – entgegen höchstrichterlichen Urteilen betriebene – Aushöhlung der Entschädigungsansprüche jener Polen, die in den, von der Sowjetunion am Ende des Zweiten Weltkriegs beanspruchten, früheren polnischen Ostgebieten jenseits des Grenzflusses Bug Eigentum zurückgelassen hatten.
Den Hintergrund für die zu kommentierende neue Rechtsprechung bilden strukturelle Probleme in der Türkei (unaufgeklärte Todesfälle im kurdischen Südosten) und Italien (überlange Dauer von Gerichtsverfahren) sowie den ersten Schritt des EGMR im Urteil Kud\\la gegen Polen neben der Reformdiskussion bei Europarat und Gerichtshof.
Der Autor schließt mit folgenden kritischen Erwägungen: «Das vom EGMR im Fall Broniowski erstmals praktizierte Piloturteilsverfahren ermöglicht einen schonenden Ausgleich zwischen dem Recht des einzelnen Beschwerdeführers auf eine Entscheidung in der Sache einerseits und dem Bestreben, einer Paralysierung des Gerichtshofs durch eine Vielzahl identischer Beschwerden vorzubeugen, auf der anderen Seite.
Dass sich der Gerichtshof dabei allzu offenherzig zu dem letztgenannten Ziel bekennt, ist freilich mit Richter Zupančvič zu kritisieren. Der EGMR nimmt seiner Argumentation viel an Legitimität und moralischer Überzeugungskraft, indem er zu einseitig die Gefahren einer Überlastung des Konventionssystems betont und dabei das dahinter stehende, berechtigte Anliegen der Stärkung und Effektuierung des von der Konvention etablierten Menschenrechtsschutzes in den Hintergrund treten lässt. Die entsprechenden Urteilspassagen lassen eine halbherzige und zögerliche Einstellung erkennen (…).
Der Gerichtshof sollte selbstbewusst von den Befugnissen Gebrauch machen, die ihm die Konvention verleiht, und sich dabei der Tatsache bewusst sein, dass die Individualbeschwerde stets einem zweifachen Zweck dient: der Beseitigung einer Menschenrechtsverletzung im Einzelfall, gewiss, aber darüber hinaus auch der Etablierung eines effektiven Schutzsystems zur Vermeidung zukünftiger vergleichbarer Vorfälle.» (Seite 445)
Florian Bien, Tübingen, und Olivier Guillaumont,Aix-en-Provence, legen zum „innerstaatlichen Rechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer“ eine deutsch-französische Untersuchung im Lichte der Kud\\la-Rechtsprechung des EGMR vor
Die Autoren fächern rechtsvergleichend die volle Spannweite von präventiven und kompensatorischen Rechtsbehelfen in den verschiedenen Gerichtsbarkeiten beider Staaten auf, bewerten die Lage vor dem Hintergrund des EGMR-Urteils Kud\\la gegen Polen (in diesem Heft, S. 484) und begründen die dringende Notwendigkeit, das deutsche Staatshaftungsrecht für Fälle eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zu korrigieren.
Im Einzelnen: «Verfahrensverzögerungen vor französischen Instanzen werden ausschließlich durch finanzielle Entschädigungen sanktioniert. Es existieren keine präventiv wirkenden Rechtsbehelfe, mit denen eine Beschleunigung des laufenden Verfahrens herbeigeführt werden könnte. Diese Situation mag aus rechtsstaatlicher Perspektive kritikwürdig sein. Ein Verstoß gegen Art. 13 EMRK liegt darin nicht. (…)
Das deutsche Recht verfügt zwar über ein im Wesentlichen effizientes System des präventiven Rechtsschutzes. Im Bereich des kompensatorischen Rechtsschutzes erweist es sich dagegen als defizitär. (…) Die deutsche Rechtsordnung gewährt weder theoretisch noch praktisch effektiven Rechtsschutz in Form von Kompensation für erfolgte Rechtsverletzungen. Deutschland riskiert damit wie vor ihm Polen, Frankreich, Belgien und Kroatien eine Verurteilung durch den Straßburger Gerichtshof wegen Verstoßes gegen die in Art. 13 EMRK verbürgte Verfahrensgarantie.»
Der Beitrag mündet in drei Vorschläge zur Korrektur des deutschen Staatshaftungsrechts, von denen zwei bereits durch eine schlichte EMRK-konforme Änderung der Rechtsprechung umgesetzt werden können. (Seite 451)
Matthias Ruffert, Jena, kommentiert „Die künftige Rolle des EuGH im europäischen Grundrechtsschutzsystem“ ausgehend vom Datenschutz-Urteil des EuGH in der vom österreichischen VfGH vorgelegten Rs. Rechnungshof/ORF u.a., EuGRZ 2003, 232
«Bemerkenswert ist bereits, dass Art. 8 EMRK nicht in einen richterrechtlich geformten Grundrechtstatbestand integriert wird, sondern unmittelbar zur Anwendung kommt. (…) Zwar gehören Bezugnahmen auf die EGMR-Spruchpraxis zum Standardrepertoire der EuGH-Grundrechtsrechtsprechung, dennoch ist eine derart ausführliche und exakte Nachzeichnung der Straßburger Vorgaben bezogen auf mitgliedstaatliches Handeln ungewöhnlich.»
Der Autor sieht zwei mögliche Gründe für das Vorgehen des EuGH: «Der Beitritt [der EU] zur EMRK ist nun eine realistische Option, denn nach Art. I-7 Abs. 2 des Konventsentwurfs strebt die Union diesen Beitritt an. Der institutionelle Rahmen für diesen Beitritt wird nicht zuletzt von den auszuhandelnden Beitrittsbedingungen und der beitrittsbedingten Modifikation der EMRK abhängen, doch ist eine Kontrolle des EuGH am Maßstab der EMRK, letztlich auch eine Individualbeschwerde gegen EuGH-Urteile zum EGMR kaum vermeidbar. Dann aber empfiehlt es sich aus der Perspektive des EuGH, schon vorzeitig die EMRK-Konformität der eigenen Rechtsprechung zu signalisieren, um mildernden Einfluss auf die Gestaltung des Kontrollmechanismus zu nehmen, zumindest aber den Eindruck grundlegender inhaltlicher Divergenzen schon im Ansatz zu zerstreuen.
Eine weitere verfassungs- bzw. rechtspolitische Überlegung hinter der Kontrolle mitgliedstaatlicher Handlungen am Maßstab der EMRK könnte in den erheblichen Zweifeln an der Zukunftsfähigkeit des EGMR als Institution liegen, wie sie gerade in jüngster Zeit vermehrt geäußert werden. (…)
Die (…) Position des EuGH jedenfalls wird im Urteil ORF eindeutig erkennbar. Detailfragen – und mit ihnen die schwierigen Abwägungsprozesse in den Wertegefügen der nationalen Rechtsordnungen – sollen von den mitgliedstaatlichen Obergerichten abgearbeitet werden, während der EuGH den materiell-rechtlichen Rahmen setzt und alsWächter der europäischen Grundrechtsordnung fungiert.» (Seite 466)
Zu dem hier besprochenen Urteil des EuGH s.a. die Folgeentscheidung des VfGH, EuGRZ 2004, 499 (in diesem Heft).
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, fällt Piloturteil für 167 weitere Parallelverfahren und ca. 80.000 potentielle Fälle wegen einer administrativen und legislativen „Funktionsstörung“ / Broniowski gegen Polen
Von der strukturell konventionswidrigen Situation betroffen sind jene Polen, die in den, nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion beanspruchten, ehemaligen polnischen Ostgebieten jenseits des Grenzflusses Bug Grundeigentum zurückgelassen haben. Deren Entschädigungs- bzw. Anrechnungsansprüche wurden nach den Feststellungen polnischer Gerichte durch sukzessive gesetzliche und administrative Einschränkungen „undurchsetzbar und nutzlos“ bzw. „illusorisch und im Kern zum Erlöschen gebracht”.
Der EGMR (Große Kammer) ordnet deshalb – abweichend von seiner bisherigen Praxis – nunmehr im Urteilstenor (Ziff. 4) konkrete Abhilfemaßnahmen an:
«Der beklage Staat muss durch geeignete gesetzliche Maßnahmen und verwaltungstechnische Praktiken entweder sicherstellen, dass die übrigen Anspruchssteller wegen jenseits des Bug belegenen Grundeigentums ihr in Frage stehendes Eigentumsrecht durchsetzen können, oder stattdessen diesen eine entsprechende Entschädigung gewähren, und zwar in Übereinstimmung mit den in Artikel 1 des 1. ZP-EMRK niedergelegten Grundsätzen des Eigentumsschutzes.» Die noch anhängigen 167 Parallelverfahren werden in Ziff. 198 der Urteilsgründe einstweilen vertagt.
Grundsätzlich verpflichtet der EGMR den polnischen Staat zu folgendem Ergebniskriterium: «Vor allem müssen die zu ergreifenden Maßnahmen dazu führen, dass das strukturelle Defizit, auf dem die Feststellung der Verletzung [von Art. 1 des 1. ZP-EMRK] durch den Gerichtshof beruht, beseitigt werden, um zu vermeiden, dass das Konventionssystem durch eine große Zahl von Beschwerden mit derselben Ursache überlastet wird. (…) Ziel ist es zu vermeiden, dass der Gerichtshof seine Feststellung in einer langen Reihe vergleichbarer Fälle wiederholen muss.» (Seite 472)
Richter Zupančič distanziert sich in seinem zustimmenden Sondervotum von dem Duktus des Urteils, in dem der EGMR die Gefahr seiner Überlastung mehr betont als den Gerechtigkeitsanspruch der Betroffenen. (Seite 483)
Cf. den Besprechungsaufsatz zu Urteilsfolgen bei strukturellen Problemen von Marten Breuer, in diesem Heft S. 445.
EGMR ändert seine Rechtsprechung in Fällen überlanger Verfahrensdauer und fordert wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf (Art. 13 EMRK) / Kud\\la gegen Polen
Der Ausgangsfall betrifft ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschung und Betrugs, das bei Urteilsverkündung des EGMR nach 9 Jahren immer noch anhängig war.
Der EGMR sieht «nunmehr die Notwendigkeit, die vom Bf. auf Art. 13 EMRK gestützte Beschwerde gesondert zu prüfen, und dies, obwohl er bereits die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen Verstoßes gegen das Gebot, dem Betroffenen eine Gerichtsverhandlung innerhalb angemessener Frist zu gewähren, festgestellt hat. (…) Das bedeutet: Indem Art. 13 EMRK ausdrücklich die Verpflichtung der Staaten formuliert, die Menschenrechte primär im Rahmen ihrer eigenen Rechtsordnung zu schützen, gewährt Art. 13 EMRK den Rechtsuchenden eine zusätzliche Garantie, welche sicherstellen soll, dass sie die fraglichen Rechte wirksam in Anspruch nehmen können.» (Seite 484)
Cf. den Besprechungsaufsatz von Florian Bien und Olivier Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (in diesem Heft).
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, beanstandet diskriminierende Starrheit beschränkter Steuerpflicht für gebietsfremden EU-Bürger / Rs. Wallentin
Im Ausgangsverfahren klagt ein bei der Kirche von Schweden kurzzeitig als Praktikant beschäftigter deutscher Student. Der EuGH stellt u.a. fest: «In einem solchen Fall verlangt der Gemeinschaftsgrundsatz der Gleichbehandlung, dass die persönlichen Verhältnisse und der Familienstand des gebietsfremden Ausländers im Beschäftigungsstaat in derselben Weise berücksichtigt werden wie bei gebietsansässigen Inländern und dass ihm dieselben Steuervergünstigungen gewährt werden.»
 (Seite 489)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt den Nachweis der Unabhängigkeit von angestellten Anwälten als Voraussetzung für Eintrag in Anwaltsregister
«Ausschlaggebend ist letztlich allein, ob der Anwalt darlegen kann, dass angesichts der Ausgestaltung seines Angestelltenverhältnisses keine Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit bzw. gewissenhaften und allein im Interesse seiner Klienten liegenden Berufsausübung droht.» Das war im vorliegenden Fall eines bei einer Bank in Zürich u.a. als Vizedirektor angestellten Inhabers des aargauischen Fürsprecherpatents nicht gegeben. (Seite 492)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Wien, qualifiziert namentliche Offenlegung höherer Jahreseinkommen öffentlicher Bediensteter durch Rechnungshof als verfassungswidrig / Folgeentscheidung zu EuGH, EuGRZ 2003, 232
«Die vorgesehene Veröffentlichung stellt einen Eingriff erheblichen Gewichts in das durch Art. 8 EMRK geschützte Rechtsgut [Privatleben] der Bezügeempfänger dar. Dass ein solcher Eingriff notwendig und angemessen sein soll, um jene Institutionen, die die Bezüge gewähren, zur sparsamen und effizienten Verwendung öffentlicher Mittel anzuhalten, (…) ist nicht erkennbar.» (Seite 499)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Einführung der Juniorprofessur wegen Unvereinbarkeit mit Art. 70, 75 i.V.m. Art. 72 Abs. 2 GG für nichtig
«Die Rahmengesetzgebung des Bundes ist auf inhaltliche Konkretisierung und Gestaltung durch die Länder angelegt. Den Ländern muss ein eigener Bereich politischer Gestaltung von substantiellem Gewicht bleiben. (…)
Die Vorschriften über die Juniorprofessur bilden eine abschließende, alle wesentlichen Elemente erfassende Vollregelung; sie geben die Konzeption der Juniorprofessur vor und belassen dem Landesgesetzgeber allenfalls Raum für geringfügige Ergänzungen, nicht aber für eigene Regelungsmöglichkeiten von substantiellem Gewicht.» (Seite 503)
BVerfG sieht Unterlassen einer Vorlage des Bundessozialgerichts an den EuGH als verfassungskonform an
Bei der Frage einer eventuellen Vorlage an den EuGH habe sich das Bundessozialgericht «in ausreichendem Maße mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs» auseinandergesetzt. (Seite 520)
BVerfG billigt unentgeltliche Rechtsbesorgung durch berufserfahrenen Juristen (pensionierter Richter)
Geldbuße verletzt nach Ansicht der 3. Kammer des Ersten Senats die allgemeine Handlungsfreiheit. (Seite 529)
BVerfG bestätigt anwaltlichen Briefkopf „Spezialist für Verkehrsrecht”
Die 2. Kammer des Ersten Senats stellt unter dem Aspekt der Berufsausübungsfreiheit fest (Art. 12 Abs. 1 GG): «Der Briefkopf ist das wesentliche Aushängeschild einer Kanzlei und ihrer Anwälte.» (Seite 529)
BVerfG betont Verantwortung des Gerichts bei Versäumung einer Rechtsmittelfrist
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist wegen des Grundsatzes eines fairen Verfahrens geboten, wenn die Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts beruht. (Seite 532)
BVerfG erlässt einstweilige Anordnung gegen sofortige Vollziehung eines Versammlungsverbots
Der NPD-Landesverband Nordrhein-Westfalen wollte gegen die Subvention für den Bau einer Synagoge in Bochum demonstrieren. Der Erste Senat: «Ermächtigungen zur Beschränkung grundrechtlicher Freiheiten knüpfen nicht an die Gesinnung, sondern an Gefahren an, die aus konkreten Handlungen folgen.» (Seite 536)
Richterwahlen zum EGMR – Parlamentarische Versammlung des Europarats wählt Dean Spielmann (Luxemburger) und Ireneu Cabral Barreto (Portugiese). (Seite 540)
BVerfG-Präsident Hans-Jürgen Papier erläutert Position des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung des Bundeskabinetts, gegen das EGMR-Urteil (Kleine Kammer) im Fall Caroline von Hannover (EuGRZ 2004, 404) die Große Kammer des EGMR nicht anzurufen. (Seite 540)
Vor dem U.S. Supreme Court tritt die EU als amicus curiae gegen die Vollstreckung der Todesstrafe an minderjährigen Straftätern auf. (Seite 540)