EuGRZ 2005 |
24. August 2005
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32. Jg. Heft 13-16
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Informatorische Zusammenfassung
Ruth Bader Ginsburg, Washington, D.C., unterstreicht den Wert einer vergleichenden Perspektive für die Verfassungsrechtsprechung auch in den USA mit einem Zitat aus der Unabhängigkeitserklärung: „… aus gebührendem Respekt vor den Meinungen der Menschheit“
Die Supreme-Court-Richterin erinnert an die zwei Jahrhunderte währende institutionelle Meinungsführerschaft der USA bei der richterlichen Verfassungsmäßigkeitsprüfung und daran, dass zahlreiche Nationen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, die Verfassungsgerichtsbarkeit als eine «Sicherung gegen Unterdrückung durch Regierungen und aufgehetzte Mehrheiten» eingeführt haben.
Skeptikern und vor allem extremen Gegnern rechtsvergleichender Erwägungen auf ihrer eigenen Richterbank hält sie die Prinzipien der Gründergeneration vor: «Die Autoren (…) der Unabhängigkeitserklärung legten Wert auf die Meinung anderer Völker; sie haben der Welt dargelegt, warum die Staaten, die sich zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammengeschlossen haben, gezwungen waren, sich von Großbritannien loszusagen. Sie nannten ihre Gründe „aus gebührendem Respekt vor den Meinungen der Menschheit“.»
John Jay, einer der Autoren der Federalist Papers und erster Chief Justice, habe 1793 geschrieben, indem die Vereinigten Staaten einen Platz unter den Nationen der Erde einnehmen, seien sie „gegenüber dem Völkerrecht verantwortlich“ geworden. Elf Jahre später habe Chief Justice John Marshall gewarnt, ein Akt des Kongresses solle nie so ausgelegt werden, dass er das Völkerrecht verletzt, „wenn irgend eine andere Deutung möglich bleibt“. Und im Jahr 1900 habe der Supreme Court im Fall Paquete Habana bestätigt: „Völkerrecht ist Teil unseres Rechts und muss von den Gerichten ermittelt und angewendet werden.“
Der Beitrag setzt sich konsequent «mit hartnäckig fortwirkenden disharmonischen Ansichten über den Rückgriff auf die „Meinungen der Menschheit“» auseinander. So habe Chief Justice Roger Taney 1857 im Fall Dred Scott zur Verteidigung der Sklaverei es abgelehnt, „den Worten der Verfassung eine mehr liberale Bedeutung zu geben …, als ihnen beizumessen beabsichtigt war, als der Text entworfen und angenommen wurde.“ Der Gerichtshof sei gespalten gewesen und habe erklärt, dass kein „Abkomme von [in die Vereinigten Staaten importierten] und als Sklaven verkauften Afrikanern“ je Bürger der Vereinigten Staaten werden könne.
Ginsburg geht dann namentlich auf Befürworter und richterliche Gegner rechtsvergleichender Überlegungen ein – wie den gelegentlich jenseits der Höflichkeitsgrenze formulierenden Supreme-Court-Richter Scalia, dem sich in einer abweichenden Meinung neueren Datums Chief Justice Rehnquist und Richter Thomas angeschlossen hatten
Die Autorin würdigt die Entscheidung der Lords of Appeal in London gegen eine zeitlich unbegrenzte Festsetzung von terrorismusverdächtigen Ausländern durch die britische Regierung ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren (Belmarsh-Fall). Als richtungweisend zitiert sie das Restatement (Third) of the Foreign Relations Law of the United States und insbesondere den Satz dort von Louis Henkin: „In einer Welt von Staaten, sind die Vereinigten Staaten nicht in der Lage, die Rechte aller Menschen überall zu sichern, [doch] sind sie immer in der Lage, sie zu respektieren.“
In der Summe gelangt Ruth Bader Ginsburg zu der Überzeugung, «dass wir fortfahren werden, „den gebührenden Respekt vor den Meinungen der Menschheit“ als eine Sache gegenseitiger Achtung der Völker (comity) und im Geiste der Bescheidenheit anzusehen.» U.a. deshalb, «weil Vorhaben von vitaler Bedeutung für unser Wohlergehen – der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist ein schlagendes Beispiel -- Vertrauen und Zusammenarbeit der Völker in aller Welt erfordern.» (Seite 341)
Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, kommentiert in einem Epilog zur Verbindlichkeit einstweiliger Anordnungen des EGMR das Urteil der Großen Kammer im Fall Mamatkulov u.a. gegen Türkei
«Es geht letztlich nicht darum, ob das Verfahren nach Art. 34 EMRK ohne Beeinträchtigung durchgeführt werden konnte oder nicht, sondern darum, dass die Nichtbeachtung einer einstweiligen Anordnung eine Verletzung der Pflicht darstellt, nach Treu und Glauben mit dem Gerichtshof zusammenzuarbeiten. Auch wenn bei oberflächlicher Lektüre der Entscheidung der Eindruck entstehen könnte, dass es um die Effektivität des Beschwerderechts als Zweck an sich geht, so macht doch der Hinweis der Großen Kammer in Ziff. 126 der Entscheidung (s.u. S. 357, 362) darauf, dass die Nichtbeachtung einstweiliger Maßnahmen eine Verletzung von Art. 1, 34 und 46 EMRK darstellt, deutlich, dass es um die Verletzung der vertraglich übernommenen Pflichten des Staates geht. (…)
Auch wenn der EGMR nicht mit letzter Klarheit darlegt, ob er seine Entscheidung auf das Argument der Verbindlichkeit der Urteile des Gerichtshofs, das Argument der Effektivität der Individualbeschwerde, Art. 34 EMRK, oder das Argument der Vertragspflicht zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof stützt, so ist aus der Tragfähigkeit jedes dieser Argumente keine andere Schlussfolgerung möglich, als die Verbindlichkeit einstweiliger Anordnungen des EGMR anzuerkennen. (…)
Die Tatsache, dass, anders als früher, völkerrechtliche Verpflichtungen zunehmend durch internationale (Gerichts)Instanzen durchgesetzt werden können, kann nicht dadurch behindert werden, dass die Zuständigkeit dieser Instanzen, denen die Staaten sich ja freiwillig unterworfen haben, eng ausgelegt wird. Ein solches Verständnis würde Zweifel an dem Willen der Staaten nahelegen, die eingegangenen Vertragspflichten ernsthaft zu honorieren.» (Seite 347)
Jörg Luther, Alessandria, untersucht: «Das Gesetz als Mittel zur Prozessverschleppung, die Politisierung der italienischen Justiz und die Grenzen europäischer Rechtsstaatlichkeit»
Der Aufsatz dient der Aufhellung von Zusammenhängen einer Entscheidung des EuGH (s.u. S. 365) und zweier Entscheidungen der Corte costituzionale (s.u. S. 385, 387).
«Wie er auch als Ratsvorsitzender am 2.7.2003 vor dem Europäischen Parlament deutlich gemacht hat, sieht der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi sich und einige seiner engsten Mitarbeiter (…) als Opfer politischer Justiz und eines Missbrauchs der Strafanklagegewalt in seinem Lande. In verschiedenen strafgerichtlichen Verfahren sind ihnen zahlreiche Straftaten zur Last gelegt worden, aber kein Verfahren wurde bisher mit einer rechtskräftigen Verurteilung des Ministerpräsidenten abgeschlossen. (…)
Das Gesetz vom 20. Juni 2003, Nr. 140 hat sodann mit seinem Inkrafttreten die Aussetzung sämtlicher Strafverfahren angeordnet, auch der anhängigen, zu Lasten des Präsidenten der Republik, des Senates, der Abgeordnetenkammer, des Ministerrates, des Verfassungsgerichtshofs, und zwar in jeder Phase, jedem Stand und jedem Grad des Verfahrens. (…) Auf Vorlage des Landgerichts Mailand erklärte der Verfassungsgerichtshof (…) dieses Gesetz für verfassungswidrig. (…)
Vor allem beruft sich der Verfassungsgerichtshof auf ein in der italienischen Verfassung nicht ausdrücklich genanntes, aber als historisch grundlegend ausgezeichnetes Prinzip „Rechtsstaat“. Dabei vermeidet er, näher auf die in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe einer „lex personalis“ und einer Durchbrechung der Gewaltenteilung einzugehen.»
Die Reform des Rechts der sog. Bilanzfälschung hat verschiedene italienische Gerichte veranlasst, hierzu Fragen der Verfassungsmäßigkeit und der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit aufzuwerfen. Der Verfassungsgerichtshof hat die ihm vorgelegten Verfahren im Hinblick auf Parallelverfahren vor dem EuGH ausgesetzt (s.u. S. 387).
Der Beitrag geht abschließend auf die von der Regierung geplante Verfassungsreform ein, die neben der Stärkung der Rechte des Ministerpräsidenten auch einen Umbau des Verfassungsgerichtshofs beabsichtigt, dessen Dimension noch schwankt. Nach dem gegenwärtigen Stand soll die Zahl der vom Präsidenten der Republik und den von den obersten Gerichten bestimmten Verfassungsrichter auf je vier (bisher je fünf) und die Zahl der von beiden Kammern des Parlaments auf sechs (je drei; bisher zusammen fünf) erhöht werden.
Jörg Luther warnt: «Die vergleichende Verfassungsgeschichte lehrt, dass solche Operationen verfassungspolitisch verständlich, aber nicht immer erfreulich waren. Im europäischen „Rechtsstaat“ sollen weder Könige noch Richter, weder Minister noch Parlamentarier, sondern Gesetze herrschen. Das kann aber nur gelingen, wenn sich der Gesetzgeber -- auch durch seine Verfassungsrichter -- selbst beherrscht.» (Seite 350)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt einstweilige Anordnungen für verbindlich / Mamatkulov u.a. gegen Türkei
Die Große Kammer bestätigt in Fortentwicklung der bisherigen EGMR-Rechtsprechung das von der Türkei angefochtene Kammer-Urteil (EuGRZ 2003, 704): «Die Nichtbefolgung einstweiliger Maßnahmen durch einen Vertragsstaat ist als Behinderung des Gerichtshofs anzusehen, die Beschwerde des Bf. wirksam zu prüfen, als Behinderung der wirksamen Ausübung dieses Rechts und folglich als Verletzung von Art. 34 der Konvention.» (Seite 357)
Zum Ganzen siehe Oellers-Frahm, in diesem Heft S. 347.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, lehnt Festlegung oder Verschärfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit durch EG-Richtlinie ohne innerstaatliches Gesetz ab / Rs. Berlusconi u.a.
«In dem besonderen Kontext einer Situation, in der sich die Behörden eines Mitgliedstaates gegenüber einem Einzelnen im Rahmen von Strafverfahren auf eine Richtlinie berufen, hat der Gerichtshof klargestellt, dass eine Richtlinie für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieser Richtlinie verstoßen [hier: Vorwurf der Bilanzfälschung] festzulegen oder zu verschärfen.» (Seite 365)
EuGH definiert erstmals Reichweite und Grenzen eines europäischen Rahmenbeschlusses (hier: Stellung des Opfers im Strafverfahren) / Rs. Pupino
Auf Vorlage des Tribunale von Florenz geht es in einem Strafverfahren gegen eine Kindergärtnerin um die Frage, ob fünfjährige Kleinkinder im Wege der Beweissicherung außerhalb der Hauptverhandlung vernommen werden können, obwohl das italienische Strafprozessrecht dieses für die einschlägigen Delikte (Körperverletzung durch missbräuchliche Züchtigung) nicht vorsieht. Der EuGH (Große Kammer) hat dies ebenso wie GAin Kokott bejaht. (Seite 373, 380)
Corte costituzionale (Corte cost.), Rom, zieht der Immunität von Inhabern höchster Staatsämter Grenzen und erklärt angegriffenes Gesetz für verfassungswidrig
Die generelle, automatisch wirksame und zeitlich unbefristete Aussetzung von Strafverfahren gegen Inhaber hoher Staatsämter verletzt grundlegende Prinzipien des Rechtsstaates. Das Gesetz begünstigt den Präsidenten der Republik, des Senats, der Abgeordnetenkammer, des Ministerrats und des Verfassungsgerichtshofs. (Seite 385)
Corte cost. beschließt im Hinblick auf Parallelverfahren vor dem EuGH Verfahrensaussetzung / Causae Berlusconi
Ausschlaggebend ist die substanzielle Koinzidenz der Fragen von Verfassungswidrigkeit und Gemeinschaftsrechtswidrigkeit. (Seite 387)
Zum Ganzen cf. Jörg Luther in diesem Heft S. 350.
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl für verfassungswidrig und nichtig
«Das Europäische Haftbefehlsgesetz verstößt gegen Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, weil der Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die verfassungsrechtlichen Anforderungen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts aus Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG nicht erfüllt hat (1.). Durch den Ausschluss des Rechtswegs gegen die Bewilligung einer Auslieferung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union vertößt das Europäische Haftbefehlsgesetz gegen Art. 19 Abs. 4 GG (2.).»
In den Leitsätzen heißt es: «Der Gesetzgeber war (…) verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses so umzusetzen, dass die Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist. Insbesondere hat der Gesetzgeber über die Beachtung der Wesensgehaltsgarantie hinaus dafür Sorge zu tragen, dass der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 GG schonend erfolgt. Dabei muss er beachten, dass mit dem Auslieferungsverbot gerade auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den von einer Auslieferung betroffenen Deutschen gewahrt werden sollen.» (Seite 387)
Abweichende Meinungen haben dem Urteil beigegeben: Richter Broß (S. 401), Richterin Lübbe-Wolff (S. 403) und Richter Gerhardt (S. 407).
BVerfG billigt Auslieferung eines Amerikaners an die USA trotz drohender lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes
«Der Zulässigkeit der Auslieferung steht nicht entgegen, dass in Kalifornien die Begnadigung oder die Umwandlung der Strafe nicht in einem justizförmigen Verfahren geprüft werden.» (Seite 409BVerfG warnt vor Einschüchterungseffekt bei zu weitgehender Beschlagnahme des elektronischen Datenbestandes bei Anwälten und Steuerberatern
Grundsätzlich ist die Beschlagnahme von Datenträgern und Sicherstellung von Datenbeständen zu Beweiszwecken im Strafverfahren verfassungskonform. Allerdings: «Zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen ist ein Beweisverwertungsverbot als Folge einer fehlerhaften Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten geboten.» (Seite 413)
BVerfG zum Eingriff in die Pressefreiheit durch Erwähnung imVerfassungschutzbericht / Wochenzeitung „Junge Freiheit“
«[Sie] ist eine an die verbreiteten Kommunikationsinhalte anknüpfende, mittelbar belastende negative Sanktion gegen die Beschwerdeführer.» (Seite 421)
BVerfG betont erneut die Bindungswirkung von EGMR- und BVerfG-Entscheidungen. / Fall Görgülü (Seite 426)
BVerfG zum Schutz des Eigentums gegen verfassungswidrige Verhängung eines dinglichen Arrests
Es geht um die Selbsterteilung der Vollstreckungsklausel zur Rückforderung von Arzthonoraren durch Krankenkasse nach fünfjähriger Untätigkeit. (Seite 430)
BVerG erklärt polizeiliche Telefonüberwachung nach niedersächsischem Landesrecht für nichtig. (Seite 436)
Bundesministerium der Justiz, Berlin, berichtet über EGMR-Verfahren gegen Deutschland im Jahr 2004. (Seite 449)
EuGH-Verfahren wegen Rechtslücke in Sprachenregelung über Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen / Schlussanträge Stix-Hackl in der Rs. Leffler. (Seite 452)