EuGRZ 2006 |
6. Oktober 2006
|
33. Jg. Heft 17-18
|
Informatorische Zusammenfassung
Erstes Arbeitstreffen deutschsprachiger Verfassungsgerichte und europäischer Gerichte – Die Themen:
(I.) Kontrolldichte des Grund- und Menschenrechtsschutzes in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, (II.) Zulässigkeitsanforderungen bei Individualrechtsbehelfen und (III.) Rechtsfolgen von Normkontrollen
An dem nichtöffentlichen Treffen vom 2. bis 4. Februar 2006 in Karlsruhe, das auf eine Initiative des vormaligen Präsidenten des Schweizerischen Bundesgerichts Heinz Aemisegger zurückgeht, waren die folgenden Gerichte durch ihrePräsidenten sowie mehrere Richter vertreten: Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Staatsgerichtshof Liechtensteins, Schweizerisches Bundesgericht, Bundesverfassungsgericht, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.
Für den Vorsitz bei den drei Arbeitssitzungen im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts hatten sich die Präsidenten Vassilios Skouris (EuGH), Luzius Wildhaber (EGMR) und Karl Korinek (VfGH) zur Verfügung gestellt.
BVerfG-Präsident Hans-Jürgen Papier führt in seiner Begrüßung als Gastgeber aus:
«Dem hiesigen Treffen, dem weitere an anderen Orten innerhalb der beteiligten Staaten folgen können, liegt zugrunde, dass sich die beteiligten nationalen Gerichte wegen der gemeinsamen Rechtstraditionen und Rechtssprache, wegen großer Übereinstimmung in den rechtsdogmatischen und rechtssystematischen Grundstrukturen in ihren Ländern in besonderer Weise nahe stehen. Die sich ihnen stellenden verfassungsrechtlichen Fragen und Probleme sind ähnlich, die zweifellos vorhandenen Unterschiede in der Rechtsordnung allgemein und in der Verfassungsrechtsordnung im Besonderen sind vielfach nicht so groß, dass die Problemlösungen und Antworten unterschiedlich ausfallen müssen. Zugleich kommt der Rechtsprechung der europäischen Gerichte für die hier vertretenen nationalen Gerichte eine besondere Bedeutung zu. Deren Entscheidungen sind zu einem festen Bestandteil des Rechts- und Rechtsschutzsystems unserer Länder geworden. (…)
Die Koordination des Grundrechtsschutzes gewinnt an Bedeutung, je weiter die europäische Integration voranschreitet und je mehr das nationale Verfassungsrecht, die supranationale Rechtsordnung der Europäischen Union und das Völkerrecht der Menschenrechtskonvention ineinander greifen. (…) Nicht die größtmögliche Ausdehnung von Zuständigkeiten beteiligter Gerichte, sondern ein funktionsgerechter und effektiver Grundrechtsschutz der Bürger muss dabei das Maß der Dinge sein.» (Seiten 481, 482)
I. Kontrolldichte des Grund- und Menschenrechtsschutzes in mehrpoligen Rechtsverhältnissen
Matti Pellonpää, Straßburg – Aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Ausgehend von der Subsidiarität der EMRK und dem Beurteilungsspielraum (margin of appreciation), der den nationalen Behörden nach ständiger Rechtsprechung des EGMR zukommt, konturiert Pellonpää die relevanten Zusammenhänge, die für die Kontrolldichte in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht für den EGMR maßgebend sind. Dazu gehören «einige Grundwerte, die alle Mitgliedstaaten akzeptiert haben und die ziemlich einheitlich ausgelegt werden müssen. (…) Wenn Grundrechtseinschränkungen die Funktionsbedingungen der Demokratie zu beeinträchtigen drohen, muss der EGMR – trotz der Subsidiarität – logischerweise eine strikte Kontrolle ausüben.»
Für die Lösung eines Konflikts zwischen zwei von der Konvention geschützten Rechten, wie er in mehrpoligen Rechtsverhältnissen leicht entstehen könne, sei zu erwägen:
«Wenn es um die politische Ausübung der Pressefreiheit geht, kann man davon ausgehen, dass das von Art. 10 EMRK geschützte Recht etwa eines politischen Journalisten relativ schwer wiegt im Vergleich zum Recht auf Schutz des Privatlebens (Art. 8) eines der Kritik ausgesetzten Politikers. Im Bereich der Berichterstattung über das alltägliche Leben eines Prominenten ohne Bezug zu einer Debatte über Fragen allgemeinen Interesses kann diese Person dagegen mehr Beachtung ihres Privatlebens beanspruchen. (…)
Man sollte jedoch vorsichtig sein, bevor man aus dem Urteil im Fall Caroline von Hannover [an dem Richter Pellonpää nicht beteiligt war] weitgehende allgemeine Folgerungen zieht. Der spezifische Hintergrund dieses Falles sollte nicht übersehen und das Urteil nicht so verstanden werden, dass ein auf den ersten Blick ähnlicher Konflikt immer zugunsten des Privatlebens entschieden werden müsste.» (Seite 483)
Christoph Grabenwarter, Graz/Wien – Aus der Sicht des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes
«Eine Kontrolle der Entscheidungen der Gerichte (ordentliche Gerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit) durch den Verfassungsgerichtshof sieht die österreichische Bundesverfassung nicht vor. Damit aber entfällt die Problemstellung für einen weiten Bereich mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse, nämlich jenen des Zivilrechts, weitest gehend. »
Für das Zusammenwirken von EGMR und nationalen Verfassungsgerichten allgemein hält Grabenwarter fest: «Es scheint die Annahme gerechtfertigt, dass der EGMR speziell bei Nichtannahmeentscheidungen des BVerfG oder Ablehnungen der Behandlung von Beschwerden durch den VfGH – die nicht in der „Normalbesetzung“ des Gerichts ergehen, gerade keine Sachentscheidung bilden und in der Begründung i.d.R. knapper gehalten sind als Urteile eines Senats oder Erkenntnisse des Plenums – weniger zurückhaltend sein müsste als bei ausführlich und nachvollziehbar begründeten Sachentscheidungen der nationalen Höchstgerichte, die in ihrer Abwägungsentscheidung im Wesentlichen in den Bahnen der Straßburger Rechtsprechung verbleiben.» (Seite 487)
Wolfgang Hoffmann-Riem, Karlsruhe/Hamburg – Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts
Für die verstärkte Berücksichtigung der Mehrpoligkeit als «Ausdruck von Veränderungen in der Aufgabe der Freiheitssicherung» nennt der Autor Beispiele, setzt sich mit Recht und Rechtsprechung im Gewährleistungsstaat auseinander, erläutert Kriterien der Abwägungskontrolle, Kontrollintensität und Kontrollverfahren des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten und gelangt zu nuanciert begründeten Erwartungen an den EGMR:
« … kann ein Gericht wie der EGMR, der rechtliche Regeln aus Anlass von Konflikten aus höchst unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten entwickeln und anwenden muss, die in den nationalen Rechtsordnungen anerkannten methodischen und dogmatischen Figuren nicht schlicht rezipieren und auch nicht in gleicher Weise respektieren wie die auf eine eigene einheitliche Rechtsordnung ausgerichteten nationalen Gerichte. (…)
Die Möglichkeit des Nachvollzugs wird dabei erleichtert, wenn die nationalen Gerichte von vornherein auch die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in ihre Argumentation ausdrücklich einbeziehen und dabei zugleich nicht nur verdeutlichen, welche Vorgaben das nationale Recht für die Konfliktlösung enthält, sondern auch, wie diese im Lichte des Konventionsrechts zu verstehen sind.»
Hoffmann-Riem lenkt abschließend (wie auch Grabenwarter, S. 491) den Blick mit deutlicher Trennschärfe auf das Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK: «Die Grundidee des Art. 53 EMRK wird dahingehend zu verstehen sein, dass eine Intervention des EGMR nicht erfolgen darf, wenn durch sie das (Schutz)Niveau des durch die nationale Konfliktbewältigung erreichten Ausgleichs der verschiedenen miteinander kollidierenden, auf unterschiedliche Interessen verweisenden Grundrechtspositionen nicht erreicht wird. (…) Für den EGMR ist zwecks Überwindung einer nur bipolaren Sichtweise in solchen Konflikten noch viel zu tun. Es ist eine Herausforderung für die nationalen Gerichte und die Rechtswissenschaft, ihm durch Vorarbeiten dabei behilflich zu sein.» (Seite 492)
II. Zulässigkeitsanforderungen bei Individualrechtsbehelfen
Heinz Aemisegger, Lausanne – Nach dem neuen Schweizerischen Bundesgerichtsgesetz
Nach einem detaillierten Überblick über Gründe und Inhalt der am 12. März 2000 von Volk und Ständen beschlossenen Justizreform und über die erfolgte Totalrevision der Bundesrechtspflege (incl. des neuen Bundesstrafgerichts und des neuen Bundesverwaltungsgerichts als Vorinstanzen des Bundesgerichts) vertieft der Autor insbesondere die für den Individualrechtsschutz bedeutsamen Kernpunkte: Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1 EMRK), Revision bei Verletzung der EMRK, Rechtsweggarantie, Anfechtungsobjekte und Beschwerderecht nach dem neuen Bundesgerichtsgesetz in Zivil- und Strafsachen, in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten, Stimmrechtssachen und bei der subsidiären Verfassungsbeschwerde.
Erläuternd fügt Aemisseger hinzu: «Mit der Einführung der subsidiären Verfassungsbeschwerde wollte man unter anderem erreichen, dass letztinstanzliche kantonale Entscheide über „civil rights“ wegen Verletzung der EMRK zuerst beim Bundesgericht angefochten werden müssen, bevor sie an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen werden können.» (Seite 500)
Siegfried Broß, Karlsruhe – Aus der Sicht des BVerfG
«Wichtig ist für mich, dass die Zulässigkeitsanforderungen an einen Individualrechtsbehelf in einem Mehrebenensystem nicht so gestaltet werden dürfen, dass sie durch die Komplexität der Rechtsordnung für den Einzelnen und seinen rechtskundigen Berater nur mehr schwer zu durchschauen sind.» (Seite 506)
Sir Konrad Schiemann – Aus der Sicht des EuGH
«Der eigentliche Klageweg in der Systematik des EG-Vertrages ist aber meiner Ansicht nach der Gang zum nationalen Gericht mit einer eventuellen Vorlage an den EuGH, sollte sich dies als notwendig erweisen. (…)
Jedermann soll von seinen Gerichten vor Ort den notwendigen Rechtsschutz erhalten können. Schon der lange Weg nach Luxemburg kann nämlich ein Hindernis für effektiven Rechtsschutz sein. Das gesamte System beruht auf der Kooperation zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH. Das Eingangstor ist bei den nationalen Gerichten, und daher ist es auch ganz selbstverständlich, glaube ich, dass beim europäischen Individualrechtsbehelf die Zulässigkeitsanforderungen vor nationalen Gerichten im Vordergrund stehen.» (Seite 507)
Willibald Liehr und Manfred Griebler, Wien – Aus der Sicht des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes
Der Beitrag stellt die Zulässigkeitsanforderungen bei der Bescheidbeschwerde und beim Individualantrag auf Aufhebung von Verordnungen und Gesetzen dar. (Seite 509)
III. Rechtsfolgen von Normenkontrollen
Gerold Betschart, Lausanne – Aus der Sicht des Schweizerischen Bundesgerichts
Kantonales Recht kann im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle auf Verfassungsmässigkeit überprüft und allenfalls aufgehoben werden. Bundesgesetze unterliegen keiner abstrakten Normenkontrolle. Es besteht im Einzelfall jedoch kein Prüfungsverbot, wohl aber ein Anwendungsgebot. (Seite 515)
Lech Garlicki und Claudia Westerdiek, Straßburg – Die Rechtsprechung des EGMR: Das klassische Umfeld
Die Autoren stellen klar, «dass der Gerichtshof einen staatlichen Hoheitsakt und somit auch ein nationales Gesetz weder aufheben noch ändern kann. Das Urteil hat also innerstaatlich keine unmittelbare Wirkung. Aus dem Urteil ergibt sich „nur“ eine völkerrechtliche Verpflichtung des Staates, den ohne die festgestellte Konventionsverletzung bestehenden Zustand nach Möglichkeit wiederherzustellen oder eine noch andauernde Konventionsverletzung zu beenden.» (Seite 517)
Lucius Caflisch, Straßburg – Die Rechtsprechung des EGMR: Die Technik der Pilotfälle
Die neue Technik der Muster- oder Pilotfälle ist eine Konsequenz aus der Erkenntnis, «dass im Fall von strukturellen und systemischen Defiziten des staatlichen Rechts, die zu Verletzungen geführt haben, diese Mängel zu beseitigen sind, um eine Überlastung des Konventionssystems durch einen Schwall von Beschwerden mit derselben Ursache zu vermeiden.» (Seite 521)
Peter Jann, Luxemburg – Aus der Sicht des EuGH
Der Beitrag klärt die Rechtsfolgen von Nichtigkeitsklagen, inzidenter Normenkontrolle, Vorabentscheidungen zur Gültigkeit bzw. zur Auslegung einer Norm und geht auf zu erwartende Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH ein. (Seite 523)
Eleonore Berchtold-Ostermann und Elisabeth Schober- Oswald, Wien – Aus der Sicht des VfGH
Aus dem Beitrag ergibt sich u.a. die strikte Antragsgebundenheit des VfGH bei Normenkontrollentscheidungen. Rechtsvergleichend außergewöhnlich sind die Exekutionsbefugnisse des Bundespräsidenten zur Durchsetzung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. (Seite 525)
Hans-Jürgen Papier, Karlsruhe – Aus der Sicht des BVerfG
Der Autor behandelt zunächst die „klassische“ Alternative: Vereinbarkeit mit der Verfassung oder Nichtigkeit des Gesetzes sowie die Möglichkeiten der verfassungskonformen Auslegung. Er geht dann auf typische Fallkonstellationen der Unvereinbarkeit mit der Verfassung und das Übergangsregime bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber ein.
Ein weiterer Abschnitt gilt den verfassungsgerichtlichen Mitteln der Durchsetzung der Verpflichtung des Gesetzgebers zu verfassungskonformen Neuregelungen wie Appell-Entscheidungen, Fristsetzung und Sanktionen bei Fristüberschreitung. (Seite 530)