EuGRZ 2010
16. November 2010
37. Jg. Heft 18-21

Informatorische Zusammenfassung

Andreas Voßkuhle, Karlsruhe / Freiburg i.Br., behandelt das Thema: Religionsfreiheit und Religionskritik ̶ Zur Verrechtlichung religiöser Konflikte
Der Autor vermittelt zunächst einen rechtshistorischen Überblick von den ersten Religionsprozessen vor dem Reichskammergericht Mitte der 1520er Jahre über den Augsburger Religionsfrieden 1555, den Dreißigjährigen Krieg bis zum Westfälischen Frieden 1648. Er geht sodann auf Religionskonflikte vor dem Bundesverfassungsgericht ein sowie auf deren soziologische und rechtliche Hintergründe.
Mit den Grenzen der Verrechtlichung von Religionskonflikten beschäftigt sich der Beitrag am Beispiel der Religionskritik: «Im Zusammenhang mit religionskritischen Äußerungen wird immer wieder  ̶  so auch im Fall der Mohammed-Karikaturen  ̶  der Vorwurf erhoben, diese stellten eine „ Beleidigung der Gläubigen‟ dar.
Soweit damit ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht konkreter Individuen gemeint ist, dürfte dessen Schutzgehalt allerdings überschätzt werden. Zutreffend ist zwar, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Einzelnen auch davor schützt, wegen seiner Religionszugehörigkeit beleidigt zu werden. Voraussetzung hierfür ist aber regelmäßig, dass sich die Äußerung auf eine konkrete Person oder zumindest auf einen individualisierbaren, eingeschränkten Personenkreis bezieht. Hieran wird es bei Religionskritik häufig fehlen. Der auf eine unüberschaubare Gruppe bezogene Verbalangriff verdichtet sich in der Regel nicht zu einem Eingriff in die Persönlichkeitsrechte individueller Einzelpersonen oder Institutionen. Markstein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit die „Soldaten sind Mörder‟ Entscheidung aus dem Jahr 1995. In der Äußerung „Soldaten sind Mörder‟ sah das Gericht keine individuelle Beleidigung der deutschen Bundeswehr als Organisation oder gar einzelner Bundeswehrsoldaten. Ähnliches dürfte für die Mohammed-Karikaturen gelten. Auch hier lässt sich der Äußerung keine auf individuelle Personen zielende Beleidigung entnehmen.»
Abschließen unterstreicht Voßkuhle die Notwendigkeit eines Klimas der Toleranz:
«Es liegt im Wesen einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, dass in ihr auch Raum für die inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Überzeugungen bestehen muss. Damit diese Auseinandersetzungen auf friedlichem Wege erfolge, bedarf es freilich nicht nur des staatlichen Gewaltmonopols, sondern darüber hinaus eines gesellschaftlichen „Klimas der Toleranz‟, also der Bereitschaft jedes Einzelnen, auch fremde Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten selbst dann gelten zu lassen, wenn er ihnen ablehnend gegenüber steht. Notwendig ist insoweit, um mit Jürgen Habermas zu sprechen, eine wechselseitige Solidarität der Staatsbürger, sich gegenseitig als freie und gleiche Mitglieder ihres politischen Gemeinwesens zu achten und im Umgang miteinander eine gewisse „Zivilität‟ zu wahren.» (Seite 537)
Thomas Kleinlein, Frankfurt am Main, untersucht die Rechtsprechung des EGMR zum Völkerstrafrecht im Rahmen des Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege)
«Eine Reihe neuerer Entscheidungen des EGMR zu dem in Art. 7 EMRK enthaltenen Grundsatz nulla poena sine lege setzt sich mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit im Baltikum und in Ungarn auseinander. Außerhalb der Fachwelt hat bislang das Urteil einer Kammer im Fall Kononov die meiste Beachtung erfahren. Hier befasst sich der EGMR mit der Beschwerde einer als Kriegsverbrecher verurteilten Person, die den Roten Partisanen der Sowjetunion angehörte. (…)
Im Fall Kononov wie auch in den Fällen Kolk und Kislyiy, Penart und Korbely wandten die lettischen, estnischen und ungarischen Strafgerichte bei der Verurteilung der Bf. nationale Strafbestimmungen an, die auf die völkerrechtlichen Tatbestände des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit verweisen. Die Bf. erhoben in allen Fällen vor dem EGMR Individualbeschwerde unter anderem mit dem Vorwurf, wegen einer Handlung verurteilt worden zu sein, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war. Damit stehen die Fälle im Schnittpunkt von Menschenrechten, Völkerstrafrecht und humanitärem Völkerrecht. Im Umgang des EGMR mit völkerrechtlichen Normen jenseits der EMRK zeigt sich dabei eine neue Facette. Bis in die jüngste Vergangenheit hat sich der Gerichtshof nicht explizit auf Normen des humanitären Völkerrechts bezogen, wenn er sich mit im bewaffneten Konflikt begangenen Menschenrechtsverletzungen befasste. In der besonderen Konstellation von Art. 7 EMRK setzt er sich nun mit der Anwendung von Definitionen und Verbotsnormen des humanitären Völkerrechts durch die innerstaatlichen Gerichte auseinander. Dabei ist auch von Interesse, wie der EGMR die Rechtsprechung der vornehmlich mit dem Völkerstrafrecht des bewaffneten Konflikts befassten internationalen Strafgerichte aufgreift. 
Der EGMR sieht sich in den genannten Fällen mit der besonderen Schwierigkeit konfrontiert, das jeweils zur relevanten Tatzeit geltende humanitäre Völkerrecht festzustellen. Dabei liegen zwischen dem Partisanenkrieg in Lettland, der unmittelbaren Nachkriegszeit in Estland und dem Ungarnaufstand 1956, die den jeweiligen Hintergrund der Fälle bilden, wichtige Schritte der Entwicklung des humanitären Völkerrechts und des Kriegsvölkerstrafrechts. (…)
Besonders bemerkenswert sind vor dem Hintergrund dieser Rechtsentwicklung die Aussagen der Großen Kammer im Fall Kononov zur Strafbarkeit von Kriegsverbrechen für die Angehörigen aller Konfliktparteien im Zweiten Weltkrieg, also bereits vor den Nürnberger Prozessen.»(Seite 544)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Entlassung eines Kirchenmusikers durch die katholische Kirche wegen Ehebruchs als Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens / Schüth gegen Deutschland
«Der Gerichtshof hebt zunächst hervor, die Arbeitsgerichte seien in ihren Folgerungen weder auf das tatsächliche Familienleben des Bf. noch auf den damit gewährten Rechtsschutz eingegangen. Die Interessen des kirchlichen Arbeitgebers sind infolgedessen mit dem durch Art. 8 der Konvention garantierten Recht des Bf. auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nicht abgewogen worden, sondern nur mit seinem Interesse auf Wahrung seines Arbeitsplatzes. (…)
Der Gerichtshof stellt auch fest, dass nach den vom Bundesverfassungsgericht festgelegten Grundsätzen eine Kirche von ihren Arbeitnehmern verlangen kann, bestimmte tragende Grundsätze zu achten, was aber nicht bedeutet, dass die Rechtsstellung des Arbeitnehmers einer Kirche „klerikalisiert‟ und aus dem bürgerlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis eine Art kirchliches Statusverhältnis wird, das die Person total ergreift und ihre private Lebensführung voll umfasst. (…)
Nach Ansicht des Gerichtshofs kommt nun aber der Tatsache, dass ein von einem kirchlichen Arbeitgeber gekündigter Arbeitnehmer begrenzte Möglichkeiten hat, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, besondere Bedeutung zu. Dies trifft umso mehr zu, wenn der Arbeitnehmer tatsächlich eine gewichtige Stellung in einem bestimmten Tätigkeitsfeld innehat und in den Genuss einiger Abweichungen von den allgemeinen Rechtsvorschriften kommt, was bei den beiden großen Kirchen in einigen Regionen Deutschlands insbesondere auf dem sozialen Sektor der Fall ist (…) oder wenn die Ausbildung des entlassenen Beschäftigten einen besonderen Charakter trägt, derart, dass es für ihn schwierig oder gar unmöglich ist, einen neuen Arbeitsplatz außerhalb des kirchlichen Arbeitgebers zu finden, was auf den vorliegenden Fall zutrifft.» (Seite 560)
EGMR sieht in der fristlosen Kündigung eines leitenden Angestellten der Mormonenkirche in Deutschland wegen Ehebruchs keine Verletzung von Art. 8 / Obst gegen Deutschland
«Aus der Sicht des Gerichtshofs erscheinen die Schussfolgerungen der Arbeitsgerichte, denen zufolge der Bf. keinen unannehmbaren Verpflichtungen unterworfen wurde, nicht als unangemessen. Der Gerichtshof hält die Auffassung für zutreffend, dass dem Betroffenen, da er in der Mormonenkirche aufgewachsen war, bei der Unterzeichnung des Anstellungsvertrags und insbesondere des § 10 des Vertrags (über die Einhaltung „hoher moralischer Grundsätze‟) bewusst war oder hätte bewusst sein müssen, welche Bedeutung sein Arbeitgeber der ehelichen Treue beimisst (…) und dass seine außereheliche Beziehung, die er eingegangen war, mit den gesteigerten Loyalitätsobliegenheiten, zu denen er sich gegenüber der Mormonenkirche als Gebietsdirektor Europa in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit verpflichtet hatte, unvereinbar ist. (…)
Diesbezüglich geht der Gerichthof davon aus, dass die Arbeitsgerichte hinlänglich nachgewiesen haben, dass die dem Bf. auferlegten Loyalitätspflichten annehmbar waren, insofern als sie die Glaubwürdigkeit der Mormonenkirche bewahren sollten. Der Gerichtshof betont ferner, dass das Landesarbeitsgericht eindeutig dargelegt hat, dass seine Schlussfolgerungen nicht so zu verstehen seien, als würden sie bedeuten, dass jeder Ehebruch an sich einen Grund für eine [fristlose] Kündigung eines kirchlichen Beschäftigten darstellt, sondern dass es zu diesem Schluss aufgrund der Schwere des Ehebruchs in den Augen der Mormonenkirche und der herausragenden Position, die der Bf. bekleidete und die ihn gesteigerten Loyalitätspflichten unterwarf, gelangt sei.» (Seite 571)
EGMR beanstandet Verurteilung wegen einer Handlung, die zur Zeit ihrer Begehung (Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956) nach damals anwendbarem Kriegsvölkerstrafrecht nicht strafbar war / Verletzung von Art. 7 EMRK (nullum crimen sine lege) / Korbely gegen Ungarn (GK)
Der Bf. hatte als Offizier (Hauptmann) 1956 den Auftrag, mit einem Trupp von Soldaten die Kontrolle über ein, von den Aufständischen nach Entwaffnung der dortigen Polizeibeamten besetztes, Polizeikommissariat in der Stadt Tata notfalls unter Einsatz von Gewalt wieder herzustellen. Als er mit seinen Leuten in dem Polizeigebäude den Aufständischen gegenüberstand, gaben diese an, unbewaffnet zu sein. Dem widersprach einer der zuvor von ihnen entwaffneten Polizeibeamten. Als der Anführer der Aufständischen, Tamás Kaszás nach einem heftigen Wortgefecht mit dem Bf. eine Pistole aus der Manteltasche zog, gab dieser seinen Leuten den energischen Befehl, auf die Aufständischen zu schießen. Deren Anführer starb auf der Stelle. Mehrere andere Personen wurden vor Ort und bei ihrer Flucht auf der angrenzenden Straße zum Teil tödlich verletzt.
Am Ende eines die strafgerichtlichen Instanzen mehrfach durchlaufenden Verfahrens und nach einer durch den Verfassungsgerichtshof bewirkten Gesetzesänderung wurde der Bf. unter Heranziehung von Art. 3 Abs. 1 der Genfer Konvention wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, die aufgrund von Amnestiebestimmungen um ein Achtel gekürzt wurde.
Der EGMR (Große Kammer) führt in seinem Urteil aus: «Jedoch gibt es in den Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte keinen Anhaltspunkt für die Schlussfolgerung, dass Tamás Kaszás seinen Willen, sich zu ergeben, so deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Stattdessen begann er einen hitzigen Streit mit dem Bf., an dessen Ende er mit nicht geklärten Absichten seine Waffe zog. Im Verlauf ebendieser Handlung wurde er erschossen. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass Tamás Kaszás angesichts der gemeinhin anerkannten, zur Tatzeit anwendbaren völkerrechtlichen Standards als Person angesehen werden konnte, die im Sinne des gemeinsamen Art. 3 [der Genfer Konventionen] die Waffen gestreckt hatte. (…)
Der Gerichtshof ist daher derAuffassung, dass Tamás Kaszás in keine der Gruppen von Nichtkombattanten fiel, die vom gemeinsamen Art. 3 geschützt werden. Folglich konnte diese Bestimmung vernünftigerweise im vorliegenden Fall im Lichte der zur Tatzeit relevanten Völkerrechtsstandards nicht als Grundlage für eine Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit dienen.
Angesichts dieser Sachlage insgesamt kommt der Gerichtshof zu der Schlussfolgerung, dass die Vorhersehbarkeit einer völkerrechtlichen Einordnung der Handlungen des Bf. als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht dargelegt worden ist. Folglich wurde Art. 7 EMRK verletzt.» (Seite 577)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, begrenzt europäischen patentrechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen / Rs. Monsanto Technology
Das Patent von Monsanto bezieht sich auf eine genetisch kodierte Herbizidresistenz in der Sojabohne („Roundup Ready‟, RR-Sojabohne). Dies erlaubt einen flächendeckenden Herbizideinsatz zur Vernichtung des Unkrauts, den die Sojabohne überlebt.
Der Streit des Ausgangsverfahrens in den Niederlanden bezieht sich auf den Import von Sojamehl aus Argentinien nach Europa über den Hafen von Amsterdam. In Argentinien, wo für die Erfindung von Monsanto kein Patentschutz besteht, wird die RR-Sojabohne in großem Umfang angebaut.
Der EuGH folgt im Ergebnis dem Argument der im Ausgangsverfahren beklagten Importeure, dass die Wirkung der maßgeblichen DNA-Sequenz in dem nach Verarbeitung der Sojabohne gewonnenen Sojamehl ohne Bedeutung ist. Den von Monsanto geforderten absoluten Schutz der patentierten DNA-Sequenz lehnt der EuGH ab.
In dem Urteil heißt es: «Art. 9 der Richtlinie 98/44/EG (…) vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wenn das patentierte Erzeugnis in Sojamehl enthalten ist, wo es nicht die Funktion erfüllt, für die es patentiert ist, diese Funktion jedoch zuvor in der Sojapflanze erfüllt hat, aus der dieses Mehl als Verarbeitungserzeugnis gewonnen wurde, oder wenn das Erzeugnis diese Funktion möglicherweise erneut erfüllen könnte, nachdem das Material aus dem Mehl isoliert und dann in die Zelle eines lebenden Organismus eingebracht worden ist, keinen patentrechtlichen Schutz gewährt.
Art. 9 der Richtlinie 98/44 steht dem entgegen, dass der Inhaber eines vor dem Erlass dieser Richtlinie erteilten Patents den absoluten Schutz des patentierten Erzeugnisses geltend macht, den ihm die seinerzeit geltende nationale Vorschrift verliehen haben soll.» (Seite 584)
EuGH verneint Anwaltsprivileg in Bezug auf Vertraulichkeit der Korrespondenz (hier: in einem Kartellverfahren) mit Mandanten für Syndikus-Anwälte wegen der fehlenden Unabhängigkeit eines angestellten Anwalts gegenüber seinem Arbeitgeber / Rs. Akzo Nobel Chemicals
«Demnach setzt das Erfordernis der Unabhängigkeit das Fehlen jedes Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten voraus, so dass sich der kraft des Grundsatzes der Vertraulichkeit gewährte Schutz nicht auf den unternehmens- oder konzerninternen Schriftwechsel mit Syndikusanwälten erstreckt.
Wie die Generalanwältin in den Nrn. 60 und 61 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wird nämlich der Begriff der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts nicht nur positiv, d.h. durch eine Bezugnahme auf die standesrechtlichen Bindungen, sondern auch negativ, d.h. durch das Fehlen eines Dienst- bzw. Beschäftigungsverhältnisses, bestimmt. Ein Syndikusanwalt genießt trotz seiner Zulassung als Rechtsanwalt und der damit einhergehenden standesrechtlichen Bindungen nicht denselben Grad an Unabhängigkeit von seinem Arbeitgeber wie der in einer externen Anwaltskanzlei tätige Rechtsanwalt gegenüber seinen Mandanten. Unter diesen Umständen kann der Syndikusanwalt etwaige Spannungen zwischen seinen Berufspflichten und den Zielen seines Mandanten weniger leicht ausräumen als ein externer Anwalt.» (Seite 589)
EuGH hält staatliches Monopol bei Sportwetten für zulässig, betont allerdings das Kriterium der Bekämpfung der Spielsucht / Rs. Markus Stoß u.a.
Im Hinblick auf Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit erklärt der EuGH zu dem durch das Internet geschaffenen transnationalen Unmfeld:
«Einem Mitgliedstaat kann aber nicht allein deshalb das Recht versagt werden, die Anwendung einseitiger restriktiver Normen, die er zu legitimen, im Allgemeininteresse liegenden Zielen erlassen hat, auf das Internet zu erstrecken, weil diese technische Übertragungsform ihrem Wesen nach transnational ist.
Zum anderen steht fest, dass den Mitgliedstaaten durchaus rechtliche Mittel zur Verfügung stehen, die es ihnen erlauben, die Beachtung der von ihnen erlassenen Normen gegenüber im Internet tätigen und in der einen oder anderen Weise ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Wirtschaftsteilnehmern so wirkungsvoll wie möglich zu gewährleisten.»
Eine Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung der von den verschiedenen Mitgliedstaaten erteilten Erlaubnisse zur Veranstaltung von Sportwetten besteht nicht. (Seite 597)
EuGH sieht in reduziertem Arbeitsentgelt für schwangere Arbeitnehmerin (Stewardess, Kabinenchefin) wegen Umsetzung auf einen gesundheitlich unbedenklichen Arbeitsplatz beim Bodenpersonal keinen Verstoß gegen RL 92/85/EWG / Rs. Parviainen
«Die Entscheidung eines Mitgliedstaats oder gegebenenfalls der Sozialpartner für eine Entgeltregelung, nach der sich das Entgelt der schwangeren Arbeitnehmerinnen nach einer vorübergehenden Umsetzung aus dem monatlichen Grundgehalt und der durchschnittlichen Höhe der Zulagen, die das Kabinenpersonal während eines Referenzzeitraums erhalten hat, zusammensetzt, kann grundsätzlich nicht als Verstoß gegen Art. 11 Nr. 1 der Richtlinie 92/85 angesehen werden.» (Seite 608)
Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, weist Klage der Schweiz gegen deutsche Maßnahmen zur Begrenzung des Fluglärms im Landkreis Waldshut bei Starts und Landungen auf dem grenznahen Flughafen Zürich ab
«Es ist jedoch daran zu erinnern, dass das Ziel der streitigen deutschen Maßnahmen erwiesenermaßen die Verringerung der Lärmbelastung in einer Fremdenverkehrsregion Deutschlands ist, was einen spezifischen Aspekt des Umweltschutzes darstellt.
Nach ständiger Rechtsprechung gehört der Umweltschutz zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die Beschränkungen der durch den EG-Vertrag verbürgten Grundfreiheiten, insbesondere auch des freien Dienstleistungsverkehrs, rechtfertigen können.»
Die Klage richtet sich gegen die EU-Kommission. Ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel zum EuGH ist möglich. (Seite 614)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht in der Nichteinbürgerung einer in Ausbildung begriffenen Person wegen Sozialhilfeabhängigkeit keinen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 Bundesverfassung)
«Die Beschwerdeführerin hat es in der Hand, ein neues Einbürgerungsgesuch einzureichen, wenn ihr Lehrlingslohn bzw. ihre Situation nach dem Lehrabschluss Gewähr für eine hinreichende wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit bietet. Sie ist von den kommunalen Behörden dazu aufgefordert worden. Es sind keine Anzeichen ersichtlich, dass der Beschwerdeführerin bei einem neuen Gesuch die Einbürgerung verweigert würde. Es besteht beim derzeitigen Alter [geb. 1990 im Kosovo] der Beschwerdeführerin keine Gefahr, dass sie des Anspruchs auf Einbürgerung gemäss § 21 Abs. 3 GemeindeG verlustig ginge (…). Es ist ihr zuzumuten, für die kurze Zeit von zwei oder drei Jahren bis zum Lehrabschluss und zur Erlangung der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit zuzuwarten.» (Seite 629)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, reagiert auf neuerliche Änderung der Rechtsprechung des EGMR zum Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem, Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP-EMRK) / Sanktionen nach Verkehrsunfall bei Alkoholfahrt
Die Wahrung der eigenen Grundsätze erreicht der VfGH durch eine vermittelnde Interpretation der EGMR-Judikatur: «Der Verfassungsgerichtshof sieht sich ̶ angesichts des jüngsten Urteils des EGMR im Fall Zolotukhin [gegen Russland] ̶ veranlasst, sich einerseits der Grundlinien seiner Rechtsprechung im Interesse der Kohärenz derselben zu vergewissern und sie andererseits im Lichte der vom EGMR genannten Ziele im Interesse größtmöglichen Grundrechtsschutzes an die Dynamik dieser Rechtsprechung im Rahmen seiner Entscheidungsbefugnisse anzupassen. Der Verfassungsgerichtshof folgt dabei insbesondere der Einschätzung des EGMR, dass eine Kontinuität in der Rechtsprechung im Interesse der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz gelegen ist.»
Zu den konkreten Sanktionen stellt der VfGH fest: «Da sohin der Beschwerdeführer wegen verschiedener Straftatbestände verfolgt bzw. „verurteilt‟ wurde, die sich in ihren wesentlichen Elementen unterschieden, lag in der Verfolgung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger Körperverletzung und Verurteilung wegen Imstichlassens eines Verletzten und Unterdrückung eines Beweismittels einerseits und der Verfolgung und Bestrafung wegen Lenkens eines Fahrzeugs mit einem Alkoholgehalt der Atemluft zwischen 0,6 mg/l und 0,8 mg/l keine unzulässige Doppelverfolgung wegen derselben strafbaren Handlung vor.» (Seite 631)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt Rechtsprechung, nach der das Unterlassen einer gebotenen Vorlage an den EuGH das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt
Im konkreten Fall geht es um die Ablehnung einer Vergütungspflicht („Geräteabgabe‟) für Drucker und Plotter nach § 54a Urheberrechtsgesetz a.F. Der BGH hatte sich nicht mit seiner Vorlagepflicht an den EuGH auseinandergesetzt. (Seite 641)
BVerfG billigt „Gen-Milch‟ als Begriff zur Kritik an der Verarbeitung der Milch von Kühen, die mit gentechnisch verändertem Mais gefüttert werden
Der betroffene Molkereikonzern hat keinen Unterlassungsanspruch gegenüber der agierenden Verbraucherschutzorganisation: «Die Meinungsfreiheit, die auch das Recht aufmerksamkeitserregender Zuspitzungen und polemisierender Pointierungen umfasst, steht hier einer Untersagung der Äußerung wegen ihrer Mehrdeutigkeit vielmehr entgegen.» (Seite 649)
BVerfG betont Anspruch auf verwaltungsgerichtliche Prüfung der Auferlegung von Gebühren für polizeiliche Ingewahrsamnahme nach Demonstration gegen Castor-Transport von Atommüll in das Brennelemente-Zwischenlager Gorleben. (Seite 652)
BVerfG unterstreicht Gebot präzisierender Auslegung von Strafnormen zur Wahrung des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG
Konkret geht es um die (hier beanstandete) Anwendung des Untreue-Tatbestands (§ 266 Abs. 1 StGB) auf Banken-Vorstände bei risikoreichen Immobilienkrediten (Plattenbauten). (Seite 656)
BVerfG kritisiert die überlange Dauer der Untersuchungshaft (4 J., 2 M.) in einem Verfahren wegen Drogenhandels und die sich über zweieinhalb Jahre hinziehende Hauptverhandlung mit durchschnittlich nur 0,65 Verhandlungstagen pro Woche. BVerfG hebt den Haftbefehl auf. (Seite 674)
BVerfG beanstandet die überlange Dauer (knapp vier Jahre) eines Sozialgerichtsverfahrens. (Seite 678)
BVerfG erklärt Anfertigung von Beweisbildern von Autofahrern mit geeichter Messeinrichtung bei Geschwindigkeitsüberschreitung für verfassungskonform. (Seite 679)
Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg, unterstützt den Vorschlag des EGMR-Präsidenten zur Qualitätssicherung der von den Regierungen vorgeschlagenen Richter-Kandidaten für den EGMR. (Seite 682)
EuGH-Generalanwältin Kokott sieht in der Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Risikofaktoren bei der Berechnung von Versicherungsbeiträgen und -leistungen einen Verstoß gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot. (Seite 682)