EuGRZ 2011 |
31. August 2011
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38. Jg. Heft 13-15
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Informatorische Zusammenfassung
Helen Keller / Daniela Kühne / Andreas Fischer, Zürich, entwerfen ein Statut für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
Die Autoren gliedern ihren Beitrag in drei Hauptabschnitte: (I) rechtsvergleichende Kriterien und Überblick, (II) Text des Statut-Entwurfs und (III) Kommentar zu den einzelnen Bestimmungen:
»Ausgearbeitet wurde der Statut-Entwurf für den EGMR vor dem Hintergrund einer vergleichenden Studie der Satzungen vier anderer internationaler Gerichte, nämlich des Internationalen Gerichtshofs, des Internationalen Strafgerichtshofs, des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Gerichtshofs der Europäischen Union.
Die Situation dieser internationalen Gerichtshöfe unterscheidet sich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dadurch, dass ihre Satzungen ab initio, d.h. bereits vom Zeitpunkt der Errichtung der erwähnten Gerichtshöfe an, Bestandteil der betreffenden Regelsysteme waren. Für die Ausarbeitung eines Statut-Entwurfs für den EGMR ist dies jedoch nicht von Belang. Der Quervergleich mit anderen Gerichtssystemen war vielmehr deshalb wesentlich für das Entwurfsverfahren, weil er aufzeigte, inwiefern die unterschiedlichen rechtlichen Regelungen der verglichenen Gerichtssysteme je einem der drei Regelwerke Staatsvertrag, Statut oder Verfahrensordnung zugeordnet wurden. (…)
Insgesamt zielt der entstandene Statut-Entwurf darauf ab, ein rechtliches Instrument zu schaffen, welches sich optimal mit der Konvention und der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verzahnt, sodass diese drei Regelwerke ein in sich stimmiges dreistufiges Regelsystem bilden. (…)
Nach dem Inkrafttreten würde das Statut einem vereinfachten Änderungsverfahren unterliegen, über dessen genauere Ausgestaltung noch zu debattieren wäre. Wie auch immer diese aussehen würde, steht jedenfalls fest, dass die Vertragsstaaten durch die erleichterte Realisierung von (prozeduralen) Reformen in die Lage versetzt wären, rascher und flexibler als bisher auf neu auftauchende Regulierungserfordernisse und sich wandelnde Umstände zu reagieren.« (Seite 341)
Hans D. Jarass, Münster, kommentiert die Gewährleistung der unternehmerischen Freiheit in der Grundrechtecharta
»Das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit wurde in Art. 16 GRCh verankert. In den Charta-Erläuterungen, die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Charta maßgeblich zu berücksichtigen sind, wird das Recht auf die Rechtsprechung des EuGH gestützt, nach der sich die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, sowie die (unternehmerische) Vertragsfreiheit aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben. Daher ist diese Rechtsprechung auch für die Interpretation des Art. 16 GRCh höchst bedeutsam und wird nachstehend intensiv herangezogen, obgleich sie nicht unmittelbar zu Art. 16 GRCh ergangen ist.
Weiter wird Art. 16 GRCh in den Charta-Erläuterungen auf die Vorschrift des Art. 119 Abs. 1, 3 AEUV (ex Art. 4 Abs. 1, 3 EG) gestützt, wonach Union und Mitgliedstaaten dem „freien Wettbewerb verpflichtet“ sind. Das verdeutlicht, dass Art. 16 GRCh nicht nur den Interessen der Unternehmer dient, sondern auch dem Grundsatz des freien Wettbewerbs i.S.d. Art. 119 Abs. 1 AEUV. Daher stellt die unternehmerische Freiheit neben der Berufsfreiheit des Art. 15 Abs. 1 GRCh und der Eigentumsgarantie des Art. 17 GRCh das zentrale Wirtschaftsgrundrecht dar.
Art. 16 GRCh enthält ein einklagbares Recht, keinen bloßen (Charta-)Grundsatz i.S.d. Art. 52 Abs. 5 GRCh, der nur begrenzt gerichtlich geltend gemacht werden kann. Zwar könnte man daran wegen des in der Vorschrift enthaltenen Verweises auf das „Unionsrecht“ und die „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ zweifeln. Da aber nach der Rechtsprechung des EuGH, auf die in den Charta-Erläuterungen entscheidend Bezug genommen wird, die volle Justiziabilität des Rechts der freien Berufsausübung auch und gerade für die selbständig Tätigen anerkannt war und ist, muss das für Art. 16 GRCh in gleicher Weise gelten. (…)
Durch den Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalt in Art. 16 GRCh wird der Spielraum für Einschränkungen besonders betont. Einschränkungen lassen sich also tendenziell leichter rechtfertigen. In diese Richtung deutet auch die im Vergleich zu Art. 15 GRCh zurückhaltend ausgefallene Formulierung: Auf die Berufsfreiheit besteht ein „Recht“, die unternehmerische Freiheit wird (nur) „geachtet“. Das hat Folgen für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle.« (Seite 360)
Andreas Dietz, Augsburg, setzt sich mit der Reichweite ausländerrechtlicher Mitwirkungspflichten am Beispiel der Passbeschaffung auseinander
Der Autor stellt zunächst die Passbeschaffung (§§ 48 f. Aufenthaltsgesetz) in den ausländerrechtlichen Kontext und zieht sodann als Prüfungsmaßstäbe folgende Grundrechtsvorschriften heran: Art. 1, 2 und 4 GG; Art. 3 und 9 EMRK; Art. 1, 4 und 19 GRCh; Art. 7, 10, 12 und 26 IPBPR.
»Unter Berücksichtigung nationalen, europäischen und internationalen Rechts verletzt also die Verpflichtung eines Drittstaatsangehörigen zur Passbeschaffung – auch unter Abgabe einer von seinem Heimatstaat geforderten Freiwilligkeitserklärung – nicht seine Menschenwürde. Im Gegenteil dient die Passpflicht der formellen Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts im Inland und im Falle eines fehlenden Aufenthaltsrechts auch der Vorbereitung seiner Rückkehr oder Rückführung ins Ausland. Anderenfalls würde die subjektive Weigerung des Einzelnen den für jede Rechtsordnung grundlegenden Wechselbezug aus Rechten und Pflichten derogieren. Der Einzelne mag dabei Adressat einer Aufforderung und sogar partiell Objekt des Rechts sein, aber er wird nicht zum Objekt staatlicher Willkür. Sein entgegenstehender Wille ist hier rechtlich unbeachtlich.« (Seite 365)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bekräftigt seine Rechtsprechung zur Staatenimmunität / Sedelmayer gegen Deutschland
Generell geht es um das völkerrechtliche Prinzip, dass in Vermögenswerte eines anderen Staates, die hoheitlichen Zwecken dienen, nicht zwangsvollstreckt werden darf.
Konkret versuchte ein deutscher Geschäftsmann, der in eine russische Firma in St. Petersburg investiert hatte und von den russischen Behörden entschädigungslos enteignet worden war, die Entscheidung eines internationalen Schiedsgerichts in Stockholm, das ihm 2,35 Mio. US-Dollar zzgl. Zinsen Entschädigung zugesprochen hatte, durchzusetzen. Nachdem die von der Russischen Föderation in Schweden eingelegten Rechtsmittel erfolglos geblieben waren, erklärte das Landgericht Berlin den Schiedsspruch für vollstreckbar. Allerdings scheiterte der Antrag auf Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses über die Umsatzsteuerrückerstattungsansprüche der Russischen Föderation, die sich aus dem Waren- und Dienstleistungserwerb der russischen Botschaft ergeben, in allen Instanzen bis zum BGH an der diplomatischen Immunität der Botschaft. Ähnlich verhielt es sich mit einem Antrag auf Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses über Ansprüche der Russischen Föderation gegen die Deutsche Lufthansa, die aus Gebühren für Überflug-, Transit- und Einflugrechte auf russischem Territorium entstehen, da es sich hier um öffentlich-rechtliche Gebühren handelt, die zudem hoheitlichen Zwecken dienen.
Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, »dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass die deutschen Gerichte die Pfändung von Vermögensgegenständen, die nicht durch völkerrechtliche Grundsätze geschützt sind, nicht erlauben würden. Was die Auffassung des Bf. angeht, die deutschen Gerichte hätten den Sachverhalt nicht korrekt festgestellt und die einschlägigen Vertragsbestimmungen falsch ausgelegt, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, festzustellen, ob die Ansprüche der Russischen Föderation tatsächlich hoheitlichen Funktionen dienten oder die Russische Föderation tatsächlich auf ihre Immunität verzichtet hat. Diese Fragen müssen in erster Linie von den innerstaatlichen Gerichten entschieden werden.«
Die Beschwerde wird als offensichtlich unbegründet für unzulässig erklärt. (Seite 374)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, stellt fest, dass die Beschwerdekammer der Europäischen Schulen nicht vorlageberechtigt ist / Rs. Miles u.a.
Die Beschwerdekammer entspreche zwar sämtlichen Merkmalen eines Gerichts i.S.d. Art. 267 AEUV, sie ist jedoch kein „Gericht eines Mitgliedstaats“ im Sinne dieser Vorschrift:
»Die Beschwerdekammer gehört jedoch nicht zu „einem Mitgliedstaat“, sondern zu den Europäischen Schulen, die nach den Erwägungsgründen 1 und 3 der Vereinbarung über die Europäischen Schulen ein System besonderer Art bilden, das im Wege eines internationalen Abkommens eine Form der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und der Union verwirklicht, um zur Sicherung des ordnungsgemäßen Funktionierens der europäischen Organe den gemeinsamen Unterricht der Kinder der Bediensteten dieser Organe sicherzustellen. (…)
Außerdem wurde die Beschwerdekammer zwar von allen Mitgliedstaaten und der Union geschaffen, dies ändert jedoch nichts daran, dass sie ein Organ einer internationalen Organisation ist, die trotz der funktionellen Beziehungen, die sie zur Union unterhält, von dieser und den Mitgliedstaaten formell getrennt bleibt.«
Im Ausgangsverfahren klagen 137 Lehrer, die aus dem Vereinigten Königreich an eine der Europäischen Schulen abgeordnet wurden, gegen die mit achtmonatiger Verspätung erfolgte Anpassung der Europazulage zum Auffangen des starken Werteverfalls des Pfund Sterling ab Oktober 2007. Diese Zulage ist dazu bestimmt, die Differenz zwischen dem im Statut der Europäischen Schulen vorgesehenen Gehalt und dem Gegenwert der nationalen Bezüge auszugleichen. Die Beschwerdekammer wird jetzt ohne eine Vorabentscheidung des EuGH autonom entscheiden müssen. (Seite 378)
EuGH sieht in einem nationalen Kronzeugenprogramm zur Aufdeckung von Wettbewerbsverstößen keine unionsrechtliche Barriere für die Akteneinsicht Dritter, die wegen der überhöhten Preise, die sie gezahlt haben, auf Schadensersatz klagen wollen / Rs. Pfleiderer
»Kronzeugenprogramme sind jedoch wie die Kommission und die Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, ausgeführthaben, nützliche Instrumente, um Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht effizient aufzudecken und zu beenden, und dienen damit der wirksamen Anwendung der Art. 101 AEUV und 102 AEUV.
Die Wirksamkeit dieser Programme könnte jedoch durch die Übermittlung von Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens an Personen, die eine Schadensersatzklage erheben wollen, beeinträchtigt werden, auch wenn die nationalen Wettbewerbsbehörden dem Kronzeugen die Geldbuße, die sie hätten verhängen können, ganz oder teilweise erlassen.
Es darf nämlich angenommen werden, dass sich ein an einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Beteiligter dadurch, dass diese Dokumente übermittelt werden könnten, davon abhalten lässt, die mit einem solchen Kronzeugenprogramm verbundene Möglichkeit zu nutzen, insbesondere da die von ihm freiwillig vorgelegten Informationen nach Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 1/2003 zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden ausgetauscht werden können.
Gleichwohl entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass jedermann Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihm durch ein Verhalten entstanden ist, das den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann (…).
Ein solcher Schadensersatzanspruch erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Aus dieser Sicht können Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Europäischen Union beitragen.«
Allerdings sei es Aufgabe der Gerichte der Mitgliedstaaten, »auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang [zu den Akten] zu gewähren oder zu verweigern ist«. (Seite 383)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt interkantonalen Vertrag (Konkordat) über vorbeugende polizeiliche Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen
Rayonverbot, Meldeauflagen und Polizeigewahrsam stellen spezifisches Polizeirecht dar und sind verfassungs- sowie EMRK-konform: »Die Massnahmen sind auf Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit durch Gewalttätigkeiten unterschiedlichster Art ausgerichtet. Sie weisen keinen pönalen, repressiven Charakter auf, werden nicht wegen Erfüllung von Straftatbeständen ausgesprochen und bezwecken nicht die Besserung der betroffenen Person.«
Die Massnahmen sind mit dem Bundesrecht vereinbar und halten vor der Unschuldsvermutung stand. Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit und der Versammlungsfreiheit haben im Konkordat eine verfassungsmässige Grundlage. Polizeigewahrsam zur Durchsetzung von Rayonverboten lässt sich unter die von der EMRK zugelassenen Freiheitsbeschränkungen subsumieren.
Zur Frage der Verhältnismässigkeit heißt es in dem Urteil: »Die Verhältnismässigkeit der umstrittenen Massnahmen kann auch mit Blick auf das Strafrecht nicht in Frage gestellt werden. Das Konkordat sieht, wie dargelegt, administrative polizeiliche Massnahmen vor. Diese dienen der Gefahrenabwehr und sind auf die Zukunft ausgerichtet. Sie bezwecken nicht die Repression von Gewalttätigkeiten. Hierzu dient das Strafrecht. Es tritt als Ergänzung zu den Polizeimassnahmen hinzu und führt zu Strafverfahren, soweit die polizeilichen Vorkehren Gewalttätigkeiten nicht zu verhindern vermochten und Straftatbestände vorliegen. Das Strafrecht dient als letztes Mittel zur Ahndung von Hooligan-Verstössen. Es vermag die Prävention in Form von polizeilichen Massnahmen nicht zu ersetzen.
Die Rüge, die Rayonverbote hielten vor dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit im Sinne von Art. 36 Abs. 3 BV nicht stand, ist demnach unbegründet.« (Seite 386)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG),Karlsruhe, definiert Grenzen behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse über subjektive Rechte von Bürgern / hier: Versagung einer Investi“tionszulage wegen Verweises auf Klassifikation der Wirtschaftszweige des Statistischen Bundesamtes
Der Erste Senat stellt fest: »Will der Gesetzgeber gegenüber von ihm anerkannten subjektiven Rechten die gerichtliche Kontrolle zurücknehmen, hat er zu berücksichtigen, dass die letztverbindliche Normauslegung und die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich den Gerichten vorbehalten ist. Die in Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Wirksamkeit gerichtlichen Rechtsschutzes darf der Gesetzgeber nicht durch die Gewährung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse für ganze Rechtsgebiete oder Sachbereiche aufgeben. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrundes. (…)
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Bundesfinanzhofs verletzt die Beschwerdeführerin dadurch in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass es die Versagung der begehrten Investitionszulage durch das Finanzamt nur eingeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft. (…) Die unzureichende gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung wird nicht durch anderweitige Rechtsschutzmöglichkeiten kompensiert.« (Seite 394)
BVerfG erklärt Verurteilung wegen Nötigung durch Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße gegen US-Intervention im Irak für verfassungswidrig
Die 1. Kammer des Ersten Senats führt aus: »Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. (…)
Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist des Weiteren, dass das Landgericht bei der Abwägung die Dauer der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, die Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports sowie die Anzahl der von ihr betroffenen Fahrzeugführer gänzlich außer Betracht gelassen hat.« (Seite 405)
BVerfG beanstandet mehrstündige Ingewahrsamnahme durch die Polizei (19.35 bis 1.30 h) zur Identitätsfeststellung
Vorausgegangen war der Versuch von ca. 100 Mitgliedern der sog. Bauwagenszene, ein Grundstück in Hamburg zu besetzen. (Seite 409)
BVerfG erneut zur Verfassungswidrigkeit der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung
An der Verfassungswidrigkeit der Entscheidungen des Ausgangsverfahrens »ändert der Umstand nichts, dass die Fachgerichte im Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung weder das Kammerurteil der 5. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (Beschwer“de-Nr. 19359/04, M ./. Deutschland, EuGRZ 2010, 25) noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 [EuGRZ 2011, 297] berücksichtigen konnten, weil beide Entscheidungen noch nicht ergangen waren. Für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung kommt es allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Urteile im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 175). Das Landgericht wird deshalb nach den Maßgaben der vom Senat in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 nach § 35 BVerfGG getroffenen Übergangsregelung (Nummer III. 2. des Tenors) erneut über eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zu befinden oder dessen Freilassung gegebenenfalls unter Auflagen zu verfügen haben.« (Seite 413)
Bundesgerichtshof (BGH, 5. Strafsenat), Leipzig, sieht keine Notwendigkeit der sofortigen Freilassung bei verfassungswidriger (nachträglicher) Anordnung der Sicherungsverwahrung
»Es bedarf indes in jedem Fall neuer vollstreckungsgerichtlicher Überprüfung anhand des durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Gefährlichkeitsmaßstabs, der mit dem durch den Senat entwickelten im Einklang steht (BVerfG [Urteil vom 4. Mai 2011], Rn. 156). Hinzu kommt das Erfordernis einer psychischen Störung, das sich an Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e MRK orientiert.« (Seite 416)
Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf verwirft Restitu“tionsklage des Bf. im EGMR-Fall Schüth (EuGRZ 2010, 560) als unzulässig
Das LAG verweist den Kläger auf die Entschädigungsmöglichkeit nach Art. 41 EMRK, die der EGMR als noch nicht entscheidungsreif offen gelassen hatte. (Seite 417)
EGMR wählt Sir Nicolas Bratza zu seinem künftigen Präsidenten. Er folgt am 4. November 2011 dem mit Erreichen der Altersgrenze (70 Jahre) ausscheidenden Jean-Paul Costa nach. (Seite 421)
EuGH-Generalanwältin Eleanor Sharpston zum gerichtlichen Rechtsschutz gegen das Einfrieren von Vermögenswerten und zum Stellenwert geheimdienstlicher Beweismittel / Schlussanträge in der Rs. Französische Republik gegen People's Mojahedin Organization of Iran (PMOI)
GAin Sharpston: »Jede Art von Beschränkung des Zugangs zu Beweismitteln birgt die Gefahr in sich, dass die Partei, die sich verteidigen will, in ihren Verteidigungsrechten beeinträchtigt wird.
Das Gleiche gilt jedoch auch für den wirksamen Schutz der nationalen Sicherheit. Personen, die terroristische Aktivitäten beobachten und verfolgen, insbesondere wenn sie vor Ort tätig sind, setzen sich der Gefahr aus, gefoltert oder gar umgebracht zu werden, wenn Informationen bekannt werden, die Hinweise auf ihre Tätigkeit oder Identität enthalten. In der Regel werden die Mitgliedstaaten daher legitimerweise auf wirksamen Beschränkungen für die Weitergabe von Daten bestehen wollen, die (unmittelbar, mittelbar oder zufällig) zur Identifizierung von Quellen oder zur Preisgabe bestimmter Observierungstechniken führen können.
Aus diesem Grund ist unverzichtbar, dass etwaige Änderungen der Vorschriften über die Vorlage von Beweisen beim Gericht diesen widerstreitenden Interessen in vollem Umfang und angemessen Rechnung tragen.
Etwaige neue Vorschriften über geschützte Beweismittel sollten nur Anwendung finden, wenn und soweit sie unbedingt notwendig sind. (…)
Man muss sich der Möglichkeit bewusst sein, dass geheime Beweismittel aus unzuverlässigen Quellen stammen. Die Beweise können schlichtweg falsch sein, auch wenn der vor Ort operierende Agent sie gutgläubig und unter erheblichen Gefahren erlangt hat. Die Mitgliedstaaten und ihre Sicherheitsdienste mögen dazu neigen, Informationen zu hoch zu klassifizieren, so dass Daten, die eigentlich in die öffentliche Sphäre gehören, als geheim eingestuft werden. Ebenso mögen Gerichte dazu neigen, solche Informationen ohne die gebotene Prüfung oder Hinterfragung als wahr hinzunehmen. Insoweit ist es von entscheidender Bedeutung, dass bei zweifelhaften oder nicht eindeutigen Beweisen dieser Art der Zweifel oder die Uneindeutigkeit zugunsten der Partei wirkt, die keine Möglichkeit hatte, zu den Beweisen Stellung zu nehmen oder sie in weitestmöglichem Umfang zu hinterfragen.« (Seite 421)