EuGRZ 2012 |
1. Oktober 2012
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39. Jg. Heft 17-19
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Informatorische Zusammenfassung
Hans-Joachim Cremer, Mannheim, unterzieht Rechtskraft und Bindungswirkung von EGMR-Urteilen sowie Fehlentwicklungen der Straßburger Rechtsprechung bei der Zulässigkeit einer erneuten Beschwerde nach Urteilsumsetzung durch innerstaatliche Wiederaufnahme einer kritischen Analyse
Im hier relevanten Zusammenhang hat der EGMR zunächst im Fall Verein gegen Tierfabriken (VgT) gegen Schweiz drei Urteile gefällt, in denen jeweils Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit festgestellt wurde, deren Anlassfall die in der Schweiz verweigerte Ausstrahlung eines Fernsehwerbespots gegen Massentierhaltung war. Die Große Kammer, auf Antrag der Schweiz befasst, entschied 2009 (VgT Nr. 2). Vorangegangen war ein Kammerurteil im Jahr 2001, das nach Auffassung des beschwerdeführenden Vereins innerstaatlich nicht hinreichend umgesetzt worden war. Der EGMR befasste sich erneut mit der Beschwerde (zweites Kammerurteil 2007 sowie Große Kammer 2009).
Der Autor gelangt zu folgendem Ergebnis: «Die jüngere Rechtsprechung des EGMR rezipiert das Urteil der Großen Kammer in der Sache Verein gegen Tierfabriken ./. Schweiz (Nr. 2) wie erwähnt als Leitentscheidung. Dies ist sie gewiss – gerade in ihren Ausführungen zur Urteilsbefolgungspflicht. In Bezug genommen wird sie aber auch, wo es um die Möglichkeit geht, auf Grund neuer Tatsachen eine Zweitbeschwerde zum Gerichtshof zu erheben. Die Kritik des Urteils hat freilich gezeigt, dass im Fall Verein gegen Tierfabriken ./. Schweiz (Nr. 2) gar keine „neuen Tatsachen“ i.S. des Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK vorlagen, sondern die Große Kammer nach einem Versäumnis des Ministerkomitees der Sache nach von einer Auffangkompetenz Gebrauch gemacht hat, die aber nur äußerst zurückhaltend gehandhabt werden sollte.
Das Schweizerische Bundesgericht hat auf das Urteil der Großen Kammer hin den Revisionsantrag des Vereins zugelassen und sein Urteil von 1997 revidiert. Es hat die Verwaltungsbeschwerde gutgeheißen und festgestellt, dass der Werbespot, den der Verein am 7. Januar 1994 auszustrahlen beantragt hatte, „keine rundfunkrechtlich verbotene politische Werbung“ darstellt. Mehr vermochte es nicht. Es sah sich verpflichtet, dem Urteil des Gerichtshofs Rechnung zu tragen und der darin geforderten restitutio in integrum zum Durchbruch zu verhelfen. „Im konkreten Fall“ könne es nicht an seiner vorherigen Ansicht festhalten, dass dies „über eine indirekte Drittwirkung der Grundrechte auf dem Zivilweg zu geschehen“ hätte. Dass diese Entscheidung auf den „konkreten Fall“ bezogen ist, betont das Bundesgericht durch Kursivschrift und mehrfache Wiederholung. Auf Grund des Urteils der Großen Kammer aus dem Jahr 2009 dürfe der Revision im vorliegenden Fall die Tatsache nicht entgegenstehen, „dass der konventionskonforme Zustand auf einem anderen Weg als über die Revision erreicht werden kann“. Das Bundesgericht selbst hält diese Tatsache aber – vom konkreten Fall losgelöst – ganz offenbar weiterhin grundsätzlich für relevant, meint es doch, mit der Eröffnung eines anderen Rechtsschutzpfades als der Revision sei „die Schweiz an sich der positiven Pflicht nachgekommen (...), ihr Rechtssystem den Geboten der EMRK anzupassen“ und knüpft damit unmittelbar an Anforderungen an, die das Urteil der Großen Kammer formuliert. Die Analyse dieses Urteils hat gezeigt, dass diese Position des Bundesgerichts überzeugt. Dem verurteilten Staat muss die Möglichkeit zu einer Selbstkorrektur nach Maßgabe seines nationalen Rechtsschutzsystems belassen werden. Dies darf durch Zulassung einer Zweitbeschwerde nur überspielt werden, wenn ernste Zweifel an der Effektivität der Mechanismen bestehen, die eine restitutio in integrum herbeiführen sollen.» (Seite 493)
Christoph Grabenwarter, Wien, kommentiert «die deutsche Sicherungsverwahrung als Treffpunkt zweier Parallelwelten»
Ausgangspunkt sind die Urteile des EGMR und des BVerfG zur Sicherungsverwahrung, wobei Karlsruhe sich nach dem Straßburger Urteil zu einer Änderung seiner Rechtsprechung veranlasst sah. Der Beitrag behandelt zunächst die Reaktion des BVerfG auf das Urteil des EGMR im Fall M. gegen Deutschland [EuGRZ 2010, 25], setzt sich sodann mit dem einfachgesetzlichen Rang der EMRK auseinander und mit der vom BVerfG angenommenen Orientierungsfunktion und Auslegungshilfe von EMRK und EGMR-Rechtsprechung sowie mit der (Schlüssel)Rolle des vom BVerfG in seine EMRK- Rezeption eingearbeiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Grabenwarter arbeitet schließlich die institutionellen Unterschiede zwischen einem Verfassungsgericht und dem EGMR heraus und zieht für den europäischen Verfassungsverbund u.a. die folgende Schlussfolgerung:
«Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erlangt nach dem Urteil des BVerfG vom 4. Mai 2011 [EuGRZ 2011, 297] (...) einen weiteren Anwendungsfall im begrifflichen Bereich, und so paradox es klingen mag: Die Spielräume des Bundesverfassungsgerichts werden größer, weil es eigene dogmatische Kategorien oder solche, die es von den Fachgerichten übernommen hat, zur Geltung bringen kann und dabei zugleich die in die Bahnen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gelenkten – dergestalt aktiv rezipierten – Wertungen des EGMR überspielen und auf diese Weise ein Ergebnis erzielen kann, das einerseits mit den Vorgaben der EMRK und des EGMR in Einklang steht, andererseits die innerstaatliche Systematik wahrt.
Man mag kritisieren, dass letztlich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 GG für die Bewältigung und Vermeidung eines potentiellen Konflikts herhalten muss. Die Wegweisung des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch nicht (mehr) abwehrend, obwohl das Bundesverfassungsgericht nicht weniger als die Rechtskraft einer nur wenige Jahre zurückliegenden eigenen Entscheidung durchbrechen musste. Das Gericht packt – in einem Akt der „Selbstbehauptung“ – den Stier gleichsam bei den Hörnern und zeigt vor, wie die Vorgaben der doch weitreichenden und dynamischen Auslegung eines internationalen Menschenrechtskatalogs in ein Verfassungssystem integriert werden können, das über einen nicht minder durch feinziselierte Judikatur geprägten Grundrechtskatalog verfügt. Es ist eine in jeder Hinsicht positive Antwort auf die vermeintliche „Konkurrenz“ aus Straßburg, von der man nicht mehr den Eindruck hat, dass sie das Bundesverfassungsgericht empfindlich treffe oder ihm gar unangenehm wäre.
In der europäischen Perspektive ist zunächst zu bemerken, dass das Bundesverfassungsgericht bis zum Ende des 20. Jahrhunderts im europäischen Ausland nicht durch wesentliche Aussagen zur EMRK oder zum EGMR aufgefallen wäre. Im Gegenteil, das überschaubare Maß der Berücksichtigung der EMRK durch das BVerfG wurde nicht selten – gerade auch von deutschen Autoren – bedauert. Das hat sich in den letzten zehn Jahren gründlich geändert, die Einbeziehung der EMRK in die verfassungsgerichtliche Grundrechtsprüfung, in anderen Staaten vor zugegeben anderem verfassungsrechtlichen Hintergrund längst Normalität, wurde schrittweise salonfähig. Das Sicherungsverwahrungsurteil ist insoweit kein Wendepunkt, sondern kann als Schlusspunkt dieser Etappe in der Rechtsprechungsentwicklung angesehen werden.» (Seite 507)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, besteht bei Rügen überlanger Verfahrensdauer auf Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs (Art. 35 Abs. 1 und 4 EMRK) unter Wahrnehmung eines erst nach Einlegung der Individualbeschwerde neu eingerichteten Rechtsbehelfs / Taron gegen Deutschland
Es handelt sich um das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Rechtsschutzgesetz 2011, in Kraft getreten am 3. Dezember 2011). Für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit wurden die §§ 198 bis 201 in das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), für die Verwaltungsgerichtsbarkeit § 173 Satz 2 VwGO eingefügt.
Zur Beschleunigung eines Verfahrens dient die Verzögerungsrüge, die vor dem Gericht erhoben werden muss, bei dem die behauptete Verzögerung eingetreten ist. Eine spätere Entschädigungsklage ist vor dem zuständigen Rechtsmittelgericht zu erheben. Als jeweils nach oben bzw. nach unten anzupassender Richtwert für eine finanzielle Entschädigung sind 1.200,- Euro für jedes Jahr der Verzögerung vorgesehen. Eine Übergangsregelung bietet Beschwerdeführern, deren Verfahren bereits in Straßburg anhängig ist, eine innerstaatliche Entschädigungsmöglichkeit.
Da der Bf. sich trotz Belehrung durch den EGMR weigerte, diesen (durch die genannte Übergangsregelung auch ihm eröffneten) Rechtsbehelf zu nutzen, wurde seine Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen.
Hierzu führt der EGMR allgemein aus: «Nach dem Urteil in der Rechtssache Sürmeli ./. Deutschland ([GK], Nr. 75529/01, ECHR 2006-VII, 8. Juni 2006 = EuGRZ 2007, 255) war klar geworden, dass die bestehenden Rechtsvorschriften in Deutschland nicht ausreichten, um Verfahren zu beschleunigen und eine Entschädigung für überlange Verfahren zu gewährleisten. Seither hat der deutsche Gesetzgeber auf verschiedene Weise versucht, die Anforderungen der Konvention zu erfüllen, was schließlich zu dem oben erwähnten Rechtsschutzgesetz führte.
Der Standpunkt des Gerichtshofs kann jedoch in der Zukunft der Überprüfung unterliegen, was insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängen wird, im Hinblick auf das Rechtsschutzgesetz eine konsistente und den Erfordernissen der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (...). Darüber hinaus wird die Beweislast hinsichtlich der Wirksamkeit des neuen Rechtsbehelfs in der Praxis bei der betroffenen Regierung liegen.» (Seite 514)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, bekräftigt, dass Kindererziehungszeiten im EU-Ausland (Belgien) für innerstaatliche Altersrente (Deutschland) anzurechnen sind / Rs. Reichel-Albert
Der Anspruch gründet sich auf das in Art. 21 AEUV garantierte Recht auf Freizügigkeit. (Seite 518)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt bzw. modifiziert die weitreichenden Auflagen des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) gegenüber Google Street View
Das Verfahren gelangte vor das BGer, nachdem die in den USA domizilierte Google Inc. und die Google Schweiz GmbH sich einer Empfehlung des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten in weiten Teilen nicht beugen wollten. Dieser erhob daraufhin zur Durchsetzung seiner Auflagen eine weitgehend erfolgreiche Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht. Dagegen wandten sich Google USA und Google Schweiz mit einer öffentlich-rechtlichen Beschwerde an das BGer. Das Urteil des Bundesgerichts modifiziert die weitreichenden Auflagen und präzisiert detailliert alle relevanten Probleme. In den die Anonymisierung abgebildeter Personen betreffenden Erwägungen heißt es u.a.:
«Grundsätzlich stellt jede unterbliebene Anonymisierung eines Gesichts oder eines anderen Identifikationsmerkmals eine Persönlichkeitsverletzung dar, soweit der Betroffene der Publikation des Bildes nicht zugestimmt hat und keine gesetzliche Rechtfertigung vorliegt (Art. 13 Abs. 1 DSG). (...)
Die Beschwerdeführerinnen haben daher auf der Internetseite von Street View eine einfach handhabbare Widerspruchsmöglichkeit zu schaffen, die auch von ungeübten Internetbenutzern problemlos in Anspruch genommen werden kann. Für Personen, die ihren Widerspruch nicht via Internet schriftlich erheben wollen, müssen sie eine Postadresse in der Schweiz für Beanstandungen angeben. Die Beschwerdeführerinnen müssen diese Widerspruchsmöglichkeiten in regelmässigen Abständen (mindestens alle drei Jahre) in weit verbreiteten Medien, namentlich auch Presseerzeugnissen öffentlich bekannt machen. Wenn neue Aufnahmefahrten durchgeführt werden und wenn neue Aufnahmen in Street View aufgeschaltet werden, ist dies ebenfalls in den Medien bekannt zu machen (...). Bei der Bekanntgabe neuer Aufnahmefahrten und der Aufschaltung neuer Aufnahmen in den Medien ist ebenfalls deutlich auf die Widerspruchsmöglichkeit hinzuweisen.» (Seite 522)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, hebt eine gesetzliche Regelung (§ 166 ABGB) als verfassungswidrig auf, derzufolge dem nichtehelichen Vater keine gesetzliche Möglichkeit eröffnet ist, gegen den Willen der Mutter die Obsorge im Interesse des Kindeswohls zu erlangen
Nach ausführlicher Erwägung der relevanten Rechtsprechung des EGMR (Urteile Zaunegger gegen Deutschland vom 3.12.2009, EuGRZ 2010, 42 und Sporer gegen Österreich vom 3.2.2011) gelangt der VfGH zu dem Schluss:
«Der Verfassungsgerichtshof sieht sich angesichts des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Sporer in Beachtung der Rechtspflicht des Art. 46 EMRK gehalten, der in diesem Urteil getroffenen Feststellung zu folgen, dass das Fehlen der Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung im Gefolge der Anordnung des § 166 erster Satz ABGB konventionswidrig ist.
Die Bundesregierung hat keine Gründe für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung vorgebracht, die nicht bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beachtet hätte. Auch sonst ist im verfassungsgerichtlichen Verfahren nichts hervorgekommen, was die Bedenken des antragstellenden Gerichts entkräftet hätte. (...)
Durch die angefochtene Bestimmung kommt es zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Benachteiligung des Vaters eines unehelichen Kindes sowohl gegenüber der Mutter dieses Kindes als auch gegenüber Vätern ehelicher Kinder. § 166 erster Satz ABGB verstößt daher gegen Art. 14 iVm Art. 8 EMRK.» (Seite 532)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, billigt als ultima ratio grundsätzlich die Verwendung spezifisch militärischer Waffen der Streitkräfte im Katastrophennotstand / Luftsicherheitsgesetz 2005
Das Plenum entscheidet auf Antrag des Zweiten Senats, der von der Rechtsprechung des Ersten Senats abweichen möchte: «Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes schließen eine Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei einem Einsatz der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Artikel 87a Absatz 4 GG gesetzt sind.
Der Einsatz der Streitkräfte nach Artikel 35 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes ist, auch in Eilfällen, allein aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung als Kollegialorgan zulässig.»
In der Beschluss-Begründung heißt es u.a.: «Die Verfassung begrenzt einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle. (...)
Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig.» (Seite 536)
Richter Gaier führt in seiner abweichenden Meinung u.a. aus: «Im Ergebnis hat die Auslegung der Regelungen zum Katastrophennotstand, die der Plenarbeschluss bei seiner Antwort auf die zweite Vorlagefrage [des Zweiten Senats, ob der Erste Senat an der Rechtsauffassung festhält, dass Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG einen Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen nicht zulässt] zugrunde legt, die Wirkungen einer Verfassungsänderung. Deshalb folge ich dem Plenarbeschluss insoweit nicht.» (Seite 543)
BVerfG begrenzt die Privilegierung der Ehe gegenüber eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften (beim Familienzuschlag für Beamte) als mittelbare Diskriminierung wegen sexueller Orientierung
«Geht die Privilegierung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer, in vergleichbarer Weise rechtlich verbindlich verfasster Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zwecken vergleichbar sind, rechtfertigt der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe keine Differenzierungen. Vielmehr bedarf es in solchen Fällen jenseits der bloßen Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der gemessen am jeweiligen Regelungsgegenstand und -ziel die Benachteiligung dieser anderen Lebensformen rechtfertigt.» (Seite 547)
BVerfG ändert seine Rechtsprechung zur Wahlberechtigung für Auslandsdeutsche
Das Erfordernis eines früheren dreimonatigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland verletzt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. (Seite 556)
Richterin Lübbe-Wolff leitet ihre abweichende Meinung mit folgender Kritik ein: «Sollten die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten gemeint haben, dass man sich an ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zumindest dann gefahrlos orientieren kann, wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass sie innerhalb des Gerichts jemals umstritten gewesen wäre, muss der vorliegende Beschluss sie überraschen.» (Seite 562)
BVerfG sieht in der vorübergehenden Wahrnehmung des Vorsitzes in zwei Strafsenaten des BGH durch denselben Richter keinen Grund zu Beanstandungen
Es liegt keine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) bzw. auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter vor. Insbesondere könnten die Bf. (zwei zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilte Straftäter) sich nicht auf die Arbeitslast eines am Verfahren beteiligten Richters berufen.
Die 1. Kammer des Zweiten Senats führt hierzu u.a. aus: «Ob sich ein überdurchschnittlich leistungsfähiger oder leistungsbereiter Richter letztlich darauf beruft, nur mit einem durchschnittlichen Arbeitspensum belastet zu werden, oder sein erhöhtes Leistungsvermögen beziehungsweise seine erhöhte Leistungsbereitschaft zur Bewältigung etwaiger überobligatorischer Aufgaben einsetzt, ist diesem überlassen und seinerseits Ausfluss der richterlichen Unabhängigkeit. Auch wenn Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dem Rechtssuchenden die materielle Gewähr eines unabhängigen Richters bietet, macht ihn das nicht zum Interessenwalter des Richters und er kann nicht eine aus dessen Arbeitsbelastung abgeleitete Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit geltend machen.» (Seite 565)
EGMR wählt neuen Präsidenten, Vize-Präsidenten und zwei Sektionspräsidenten
Der luxemburgische Richter Dean Spielmann wurde per 1. November 2012 zum Präsidenten des EGMR gewählt. Er folgt in diesem Amt dem britischen Richter Sir Nicolas Bratza nach. Zu einem der beiden Vize-Präsidenten wurde der italienische Richter Guido Raimondi gewählt, zu Sektionspräsidenten Isabelle Berro-Lefèvre und Mark Villiger. (Seite 568)
BVerfG lehnt Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung der Ratifikation von ESM- und Fiskalvertrag ab – mit der Maßgabe allerdings, dass in Bezug auf Haftungsobergrenze (190 Mrd. Euro) und ungehinderte Informationsrechte des Parlaments völkerrechtliche Vorbehalte angebracht werden
– Zur Haftungsobergrenze: «Erfordert die (...) haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages, dass die Haftung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus [ESM] nicht ohne Zustimmung des Bundestages über 190.024.800.000 Euro hinaus erhöht werden kann, so ist nach alldem eine Ratifizierung des ESM-Vertrages [ESMV] nur zulässig, wenn die Bundesrepublik Deutschland sicherstellt, dass Art. 8 Abs. 5 Satz 1 ESMV, vorbehaltlich von Entscheidungen nach Art. 10 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 2 Satz 4 ESMV, sämtliche Zahlungsverpflichtungen aus diesem Vertrag der Höhe nach auf die in Anhang II des Vertrages genannte Summe begrenzt und dass Vorschriften dieses Vertrages, insbesondere Art. 9 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ESMV nur so ausgelegt oder angewandt werden können, dass für die Bundesrepublik Deutschland keine höheren Zahlungsverpflichtungen begründet werden. Die Bundesrepublik Deutschland muss deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie an den ESM-Vertrag insgesamt nicht gebunden sein kann, falls sich der von ihr geltend gemachte Vorbehalt als unwirksam erweisen sollte.»
– Zur ungehinderten Information des Parlaments: «Nach Art. 32 Abs. 5 ESMV sind sämtliche amtlichen Schriftstücke und Unterlagen des Europäischen Stabilitätsmechanismus unverletzlich und können daher jedenfalls nicht ohne oder gegen den Willen des Europäischen Stabilitätsmechanismus herausverlangt oder eingesehen werden. Art. 34 ESMV unterwirft die Organmitglieder und Mitarbeiter des Europäischen Stabilitätsmechanismus einer beruflichen Schweigepflicht, während Art. 35 Abs. 1 ESMV ihnen Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen und Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer amtlichen Schriftstücke und Unterlagen zuspricht. Nach ihrem Wortlaut gelten die in Art. 32 Abs. 5, Art. 34 und Art. 35 Abs. 1 ESMV niedergelegten Pflichten, Vorrechte und Befreiungen umfassend.
Ausnahmen zugunsten der nationalen Parlamente sieht der Vertrag nicht vor. (...) Deren umfassende Information dürfte damit jedoch nicht ausgeschlossen sein. Wenn in einem Mitgliedstaat Beschlüsse des Europäischen Stabilitätsmechanismus nicht nur der Behandlung auf der Ebene der Regierung, der die nötigen Informationen stets zugänglich sind, sondern auch der Erörterung und Billigung in parlamentarischen Gremien bedürfen, ist es unausweichlich, dass diese ebenfalls unterrichtet werden. (...)
Freilich handelt es sich insoweit nur um eine mögliche, wenn auch nahe liegende Auslegung der Art. 32 Abs. 5, Art. 34 und Art. 35 Abs. 1 ESMV, die sich mit der Sichtweise des Europäischen Stabilitätsmechanismus und anderer Mitgliedstaaten keineswegs decken muss, zumal die Verfassungsrechtslage in Bezug auf Beteiligungs- und Informationsrechte des Parlaments in den Mitgliedstaaten verschieden ist und aufgrund unterschiedlicher rechtlicher und tatsächlicher Gegebenheiten, etwa parlamentarische Geheimhaltungsvorkehrungen betreffend, die Beurteilung der Folgen einer Weitergabe auch solcher Informationen, die von den Kapitalmärkten ferngehalten werden sollen, an die Parlamente unterschiedlich ausfallen kann.
Erfordert die durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG geschützte haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages, dass dieser diejenigen Informationen erhalten kann, die er für eine Abschätzung der wesentlichen Grundlagen und Konsequenzen seiner Entscheidungen benötigt, so ist eine Ratifizierung des ESM-Vertrages nur zulässig, wenn die Bundesrepublik Deutschland eine Vertragsauslegung sicherstellt, die gewährleistet, dass Bundestag und Bundesrat bei ihren Entscheidungen die für ihre Willensbildung erforderlichen Informationen erhalten. Die Bundesrepublik Deutschland muss deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie an den ESM-Vertrag insgesamt nicht gebunden sein kann, falls sich der von ihr geltend gemachte Vorbehalt als unwirksam erweisen sollte.»
– Zur EZB: «Soweit die Antragsteller zu II. [fünf Bf.] gegen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank zur Eurorettung, insbesondere den Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt, einwenden, diese seien ausbrechende Rechtsakte, ist ihr entsprechender Feststellungsantrag bei verständiger Auslegung nicht von dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mitumfasst und bleibt damit einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.» (Seite 569)