EuGRZ 2013 |
2. Oktober 2013
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40. Jg. Heft 16-19
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Informatorische Zusammenfassung
Juliane Kokott und Christoph Sobotta, Luxemburg, erklären die Struktur des Gerichtshofs der Europäischen Union unter dem Stichwort: „Der EuGH – Blick in eine Werkstatt der Integration”
Der Beitrag geht zunächst auf Auswahl und Ernennung der Richter durch die Mitgliedstaaten ein. Es sind dies 28 Richter und acht Generalanwälte beim EuGH sowie 28 Richter am Gericht (EuG), d.h. ein Richter pro Mitgliedstaat.
Eine Schlüsselrolle spielt nach dem Vertrag von Lissabon der gem. Art. 255 AEUV gebildete siebenköpfige Evaluierungsausschuss, der (gegenwärtig unter dem Vorsitz des Vize-Präsidenten des französischen Conseil d'État Jean-Marc Sauvé) zur Eignung der von den Regierungen benannten Richter-Kandidaten eine Stellungnahme abgibt. Das Verfahren ist vertraulich. Allerdings veröffentlicht der Ausschuss Tätigkeitsberichte, in denen er insbesondere die Kriterien darstellt, die er heranzieht:
«Das Ergebnis dieser Prüfungen zeigt, dass der Ausschuss die Kriterien streng anwendet. Er berichtet, dass von seinen 43 Stellungnahmen fünf ablehnend waren und dass die Regierungen der Mitgliedstaaten diesen Stellungnahmen immer gefolgt sind. Ablehnende Stellungnahmen beruhten etwa darauf, dass eine offensichtlich unzureichende Berufserfahrung nicht durch außergewöhnliche juristische Fähigkeiten ausgeglichen wurde, dass jedwede Berufserfahrung in Bezug auf das EU-Recht fehlte oder dass die juristischen Fähigkeiten unzureichend erschienen.»
Zur Binnenorganisation des Gerichtshofs gehören auch die Wahlämter; denn die Richter wählen ihren Präsidenten und Vizepräsidenten selbst, außerdem die Präsidenten der mit fünf Richtern und der mit drei Richtern besetzten Kammern. Im Prinzip ist jeder Richter Mitglied sowohl einer Dreier- als auch einer Fünfer-Kammer.
Nach Eingang einer Rechtssache bestimmt der Präsident den Berichterstatter. Es ist jedoch die wöchentlich tagende Generalversammlung des EuGH, in der alle Richter und Generalanwälte Rede- und Stimmrecht haben, die bestimmt, welchem Spruchkörper des Gerichtshofs eine Sache zugewiesen wird – Plenum, Große Kammer (15 Richter), Fünfer- oder Dreier-Kammer. Sie entscheidet ferner, ob mündlich verhandelt wird, ob weitere Aufklärungsmaßnahmen erfolgen und ob Schlussanträge eines Generalanwalts vorgelegt werden sollen. Entscheidungsgrundlage ist ein vom Berichterstatter vorgelegter Vorbericht, in dem der Fall dargestellt wird, Lösungsansätze erörtert und Entscheidungsvorschläge gemacht werden.
Weiter führen die Autoren aus: «Während der Beratung über diese Entscheidungen in der Generalversammlung können sich alle Mitglieder des Gerichtshofs zu dem Fall und der ins Auge gefassten Vorgehensweise äußern. Bei Zweifeln an der Auffassung des Berichterstatters können sie insbesondere darauf hinwirken, dass der Fall einer größeren Formation zugewiesen wird, dass Schlussanträge erstellt werden, obwohl der Berichterstatter den Verzicht auf diese vorschlägt, oder dass eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, um Stellungnahmen der Beteiligten zu bestimmten Fragen einzuholen. Wenn auf der Stufe der Generalversammlung inhaltliche Bedenken geäußert werden, werden diese im Übrigen regelmäßig auch dann bei der Abfassung des Urteils berücksichtigt, wenn das betreffende Mitglied nicht an der Beratung beteiligt ist. Obwohl die Generalversammlung natürlich nicht über den Fall entscheiden kann, erlaubt sie somit allen Mitgliedern, zur Verhinderung von Fehlentwicklungen aufgrund der Zuweisung von Verfahren an bestimmte Berichterstatter und Generalanwälte beizutragen.»
Behandelt wird in dem Aufsatz schließlich das Sprachenregime mit Französisch als Arbeitssprache, den jeweiligen Verfahrenssprachen und etwaigen Übersetzungsproblemen.
Zu den Grundlagen des institutionellen Zusammenhalts stellen Kokott/Sobotta fest: «Da die einheitliche Anwendung des Unionsrechts ständig durch die Eigendynamik der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in Frage gestellt wird, besteht beim Gerichtshof eine besondere Motivation, sich um Kohärenz zu bemühen.
Darüber hinaus kann auch ein supranationaler Gerichtshof nicht seine ursprüngliche Nähe zur internationalen Diplomatie verleugnen. Diese bedingt eine Binnenkultur, die primär nicht auf das Austragen von Konflikten ausgerichtet ist, sondern auf Zusammenarbeit. (...) Die Generalversammlung entscheidet im Übrigen nicht nur über die weitere Behandlung von Rechtssachen, sondern genehmigt auch die Nebentätigkeiten der Mitglieder, etwa Vorträge oder unentgeltliche ehrenamtliche Tätigkeiten. Die praktische Funktion dieses Verfahrens liegt weniger darin, bestimmte Aktivitäten grundsätzlich zu verhindern, als in der gegenseitigen Information der Mitglieder, insbesondere über ihre öffentlichen Auftritte.» (Seite 465)
Jörg Polakiewicz, Straßburg, erläutert den Abkommensentwurf über den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention
Ausgehend von frühen Initiativen Ende der 1970er Jahre über die in den Vertrag von Lissabon eingefügte Rechtsgrundlage für einen Beitritt zeichnet der Autor die Entwicklung nach, die zu den jetzt abgeschlossenen Beitrittsverhandlungen führte. Er skizziert die Leitprinzipien der Verhandlungen, an denen er selbst teilgenommen hat, gibt einen Überblick über die vereinbarten Instrumente, grenzt den Umfang des Beitritts ein, geht auf Einzelheiten des künftigen Verfahrens vor dem EGMR ein, insbesondere auf den Mechanismus des Mitbeschwerdegegners und das Vorabbefassungsverfahren vor dem EuGH. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Beteiligung der EU an den Konventionsorganen, d.h. im Ministerkomitee vor allem bei der Überwachung des Vollzugs der Urteile und in der Parlamentarischen Versammlung bei der Richterwahl.
Abschließend stellt Polakiewicz fest: «Der Beitritt wird das fehlende Glied in das europäische System des Grundrechtsschutzes einsetzen und damit die Vision eines einheitlichen Grundrechtsraums verwirklichen. Gleichzeitig wird Kohärenz zwischen den Menschenrechtspolitiken von Europarat und EU gewährleistet. Letztere hat mehr und mehr Kompetenzen erworben, die direkt das tägliche Leben und die Grundrechte von Einzelpersonen betreffen. Neben den klassischen Bereichen des Wettbewerbs- und Kartellrechts stellen sich diffizile Grundrechtsfrageninsbesondere in den Bereichen Justiz, Inneres, Migration, strafrechtliche und polizeiliche Zusammenarbeit oder, wie gerade die letzten Monate gezeigt haben, bei der Weitergabe persönlicher Daten sowohl innerhalb der EU als auch an Drittstaaten.
Die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta und der Beitritt der EU zur EMRK sind Antworten auf diese Entwicklung. Sie sorgen dafür, dass der rechtliche Schutz der Menschenrechte in der EU sowohl intern als auch extern gestärkt wird. Allein die Kombination dieser beiden Maßnahmen ist geeignet, einen besseren Schutz für den Einzelnen, Rechtssicherheit und Kohärenz beim Grundrechtsschutz in Europa effektiv zu gewährleisten. Auch nach dem Beitritt werden die EU-Institutionen, einschließlich der Gerichte in Luxemburg, in erster Linie dafür verantwortlich sein, dass die in der Konvention verankerten Rechte geachtet werden. Wie bei den anderen Vertragsparteien auch, wird die externe Kontrolle durch den EGMR unter Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes erfolgen. Der EGMR wird auch in Bezug auf die EU und ihre supranationale Rechtsordnung Beurteilungsspielräume (margins of appreciation) anerkennen. (...)
Die oft hervorgehobene Komplexität einzelner Regelungen des Beitrittsabkommens ist nicht auf materielle Probleme des Grundrechtsschutzes zurückzuführen, sie war vielmehr eine adäquate Antwort, um den Besonderheiten der Unionsrechtsordnung Rechnung zu tragen. Es ist zu hoffen, dass der EuGH in dem von der Kommission am 4. Juli 2013 eingeleiteten Gutachtenverfahren bestätigen wird, dass der im Beitrittsabkommen gefundene Konsens den Anforderungen der EU-Verträge entspricht, so dass die „schier unendliche Geschichte” des Beitritts endlich ein gutes Ende finden kann.» (Seite 472)
Martin Faix, Olmütz (Tschechien), vertieft seine Überlegungen zum europarechtsbezogenen „Dialog zwischen den Gerichten der Slowakischen Republik und dem Gerichtshof der Europäischen Union”
«Nicht nur aus der Entscheidung des EuGH in der Rs. Kri\\:zan [EuGRZ 2013, 142] und den vom Obersten Gerichtshof formulierten Vorlagefragen, sondern auch aus der Begründung der Entscheidung des letztgenannten Gerichts zur Aussetzung des Verfahrens lässt sich entnehmen, dass obwohl das slowakische Verfassungsgericht weiterhin auf seiner grundsätzlich freundlichen Position eines Hüters der Vorlagepflichterfüllung verbleibt, es ihm nicht gelang, einige grundsätzliche, sich in der slowakischen Gerichtspraxis im Kontext der Vorlageproblematik stellenden Fragen, zu lösen. Gerade diese Frage, wie vom Obersten Gerichtshof in der Vorlage reflektiert, war bereits in mehreren Fällen in der Beziehung Verfassungsgericht – Oberster Gerichtshof aufgetaucht und hatte zu Spannungen zwischen den beiden Gerichten geführt; im Vorlagebeschluss zur Rs. Križan erwähnt zum Beispiel der Oberste Gerichtshof explizit als einen der Gründe für die Vorlage den „bereits länger andauernden Austausch von Argumenten [mit dem Verfassungsgericht]” bezüglich der Klärung der Frage, welches Gericht die Bedingungen gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllt. Darüber hinaus betrachtete der Oberste Gerichtshof die Art und Weise, wie sich das Verfassungsgericht mit dem im Falle Križan anwendbaren EU-Umweltrecht auseinander setzte, als unzureichend. In Anbetracht des Falles und der Beziehung zwischen den beiden Gerichten kann diese Kritik auch so verstanden werden (obwohl das explizit vom Obersten Gerichtshof an keiner Stelle erwähnt wird), dass hier erstens das Verfassungsgericht selbst die Vorlagepflicht traf, insbesondere unter Berücksichtigung seiner eigenen Rechtsprechung, in der es eine solche Möglichkeit zugelassen hat, und zweitens unter Berücksichtigung der nach dem slowakischen Recht explizit formulierten Bindungswirkung seiner Urteile. Betrachten wir also die Rechtsprechung des slowakischen Verfassungsgerichts der letzten Dekade, so kann behauptet werden, dass obwohl sich das Gericht grundsätzlich freundlich gegenüber der Europarechtsanwendung allgemein, und dem Vorlageverfahren konkret, verhält, bleiben doch die Bedingungen, unter welchen das Verfassungsgericht zur Vorlage bereit wäre, ohne klare Konturen. Zugleich wird der durch proklamierte Vorlagebereitschaft bedingte Optimismus aufgrund des Zögerns, diese Bereitschaft auch in die Praxis umzusetzen, getrübt.» (Seite 483)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt polizeilichen Präventivgewahrsam eines Fußball-Hooligan („Gewalttäter Sport”) als konventionskonform / Ostendorf gegen Deutschland
«Schließlich muss der Gerichtshof entscheiden, ob zwischen der Bedeutung, die der Erzwingung der sofortigen Erfüllung der fraglichen Verpflichtung in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit ein angemessener Ausgleich herbeigeführt wurde (...). Er ist der Ansicht, dass die Verpflichtung des Bf., eine Hooliganschlägerei – bei der es regelmäßig zu Körperverletzung und Landfriedensbruch in großem Umfang kommt, wovon eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit unbeteiligter Dritter ausgeht – weder zu verabreden noch daran teilzunehmen, eine wichtige Pflicht war, die ihm im Interesse der Allgemeinheit oblag. Die Regierung betont – und dies wird vom Bf. nicht bestritten – dass die Polizeibehörden heutzutage sowohl während der wöchentlich stattfindenden Spiele der Fußballbundesliga als auch während Fußballmeisterschaften Hooliganschlägereien zu verhindern hätten (...). Die Verpflichtung, den friedlichen Ablauf eines solchen sportlichen Großereignisses mit vielen Zuschauern nicht zu beeinträchtigen und die Allgemeinheit vor Gefährdungen, insbesondere ihrer körperlichen Unversehrtheit, zu schützen, war nach den Umständen des Falles folglich eine schwerwiegende Pflicht.
Ferner ist der Gerichtshof überzeugt, dass für die Polizeibeamten begründeter Anlass zu der Annahme bestehen konnte, dass der zum Zeitpunkt seiner Ingewahrsamnahme 35 Jahre alte Bf. der Anführer der Bremer Hooligangruppe war, und dass er keine Bereitschaft gezeigt hatte, seiner Verpflichtung nachzukommen, den Frieden zu wahren, indem er keine Schlägerei zwischen rivalisierenden Hooligans organisierte. Im Hinblick auf die etwa vierstündige Dauer seines Gewahrsams ist der Gerichtshof unter Verweis auf seine vorstehenden Feststellungen (...) der Ansicht, dass der Bf. nicht länger festgehalten wurde, als notwendig war, um ihn daran zu hindern, am 10. April 2004 weitere Schritte zur Verabredung einer Hooliganschlägerei in oder in der Nähe von Frankfurt am Main zu unternehmen. Der fragliche Gewahrsam des Bf. war daher in Bezug auf das Ziel, die sofortige Erfüllung der in Rede stehenden Verpflichtung zu erzwingen, verhältnismäßig.
Daraus folgt, dass die Freiheitsentziehung des Bf. nach der zweiten Alternative von Art. 5 Abs. 1 lit. b gerechtfertigt war.» (Seite 489)
Richter Lemmens und Richterin Jäderblom begründen in ihrem Sondervotum, warum sie im Unterschied zur Mehrheit nicht Art. 5 Abs. 1 lit. b, sondern lit. c auch ohne Verbindung mit einem Strafverfahren für anwendbar halten: «Unseres Erachtens geht diese Rechtsprechung zu weit, indem angenommen wird, das Erfordernis von Art. 5 Abs. 1 lit. c hinsichtlich der „Vorführung” der von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffenen Person „vor die zuständige Gerichtsbehörde” in jeder der in dieser Bestimmung aufgeführten Situationen bedeute, dass die Absicht bestehe, ein „Strafverfahren” gegen diese Person zu eröffnen. Wir glauben, dass in Situationen, in denen ein starkes öffentliches Interesse daran besteht, jemanden an der Begehung einer Straftat zu hindern, den Behörden zur Durchsetzung des Rechts die begrenzte Möglichkeit offen steht, einer Person kurzzeitig die Freiheit zu entziehen, selbst wenn sie noch keine Straftat begangen hat, und demnach die Möglichkeit der Eröffnung eines Strafverfahrens gegen sie nicht gegeben ist.
Uns ist bewusst, dass sich unsere Meinung nicht mit der gegenwärtigen Rechtsprechung deckt. (...) Wir würden eine Rückkehr zu der in der Rechtssache Lawless (EGMR-E 1, 10) gefundenen Auslegung von Art. 5 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 5 Abs. 3 befürworten, die dem Präventivgedanken als möglicher Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung besser gerecht wird als die gegenwärtige Auslegung.» (Seite 499)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, gegen übermäßige Beschränkung der Ausbildungsförderung für Studium in einem anderen EU-Staat / Rs. Prinz und Seeberger
Das Berechtigungskriterium einer mindestens dreijährigen Residenzpflicht im Herkunftsmitgliedstaat (Deutschland) verstößt gegen Art. 20 und 21 AEUV – Recht auf Freizügigkeit bzw. freien Aufenthalt. (Seite 502)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht in der Verpflichtung zur Teilnahme am schulischen Schwimmunterricht keine Verletzung der Religionsfreiheit
«Insgesamt ist festzustellen, dass die Schule den religiösen Anliegen der Beschwerdeführer weit entgegen gekommen ist, indem sie den Schwimmunterricht nach Geschlechtern getrennt durchführt, Einzelkabinen zum Duschen und Umziehen anbietet und selbst das Tragen eines Burkinis erlaubt. Bei dieser Sachlage erscheint der noch verbleibende, von den Beschwerdeführern beanstandete Eingriff in die Religionsfreiheit als vergleichsweise geringfügig. In Berücksichtigung der grossen Bedeutung des integrativen Schulunterrichts und ausgehend vom oben stehend aufgezeigten, grundsätzlichen Vorrang der schulischen Pflichten vor der Beachtung religiöser Gebote einzelner Bevölkerungsteile (...) ist es den Beschwerdeführern ohne Weiteres zuzumuten, ihrerseits von ihren Idealvorstellungen hinsichtlich der Ausgestaltung des Schwimmunterrichts abzurücken und die hiesigen sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu akzeptieren. (Seite 505)
BGer bestätigt Arbeitspflicht im Straf- und Massnahmenvollzug auch nach Erreichen des Rentenalters
Es liegt keine Verletzung der Menschenwürde oder des Grundrechts auf persönliche Freiheit vor: «Die Arbeitspflicht im Straf- und Massnahmenvollzug dient dazu, den Personen Fähigkeiten zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern, die eine Eingliederung in die Erwerbstätigkeit nach der Entlassung ermöglichen. Sie fördert das Vollzugsziel, das soziale Verhalten und die Fähigkeit, straffrei zu leben. Sinn der Arbeit im Straf- und Massnahmenvollzug ist ebenso, die Personen zu beschäftigen, deren Alltag zu strukturieren sowie den geordneten Anstaltsbetrieb zu gewährleisten.
Während bei jüngeren Personen die Resozialisierung im Vordergrund steht, verschieben sich mit zunehmendem Alter der Insassen die Schwerpunkte, wobei schliesslich der besonderen Fürsorgepflicht und dem Entgegenwirkungsprinzip Vorrang zukommt. Bei älteren Gefangenen und Eingewiesenen dient die Arbeit dazu, Haftschäden wie Vereinsamung sowie psychische und physische Degeneration zu vermeiden.» (Seite 508)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt die gesetzliche Ermächtigung zur sicherheitspolizeilichen DNA-Ermittlung für verfassungswidrig, weil zu undifferenziert und unpräzise
«Schon die besondere Sensibilität eines DNA-Profiles (...), dessen künftige Verwendbarkeit bzw. Aussagekraft heute noch gar nicht absehbar ist (...), sowie die Möglichkeit einer zweckentfremdeten Nutzbarmachung verlangen aber eine gesetzliche Ermächtigungsnorm, die hinsichtlich der verschiedenen Deliktstypen hinreichend differenziert oder manche überhaupt ausnimmt und zudem entsprechend präzise ist.» (Seite 511)
VfGH sieht den Vertrag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) nicht alsverfassungswidrig an
Der VfGH hatte keine umfassende Gesamtprüfung vorzunehmen, sondern ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtenen Bestimmungen aus den in der Begründung des Antrags dargelegten Gründen verfassungs- oder gesetzeswidrig sind. Er weist die Anträge der Kärtner Landesregierung in Bezug auf den Vertrag und die nach dem Urteil des BVerfG (EuGRZ 2012, 569) hinzugekommene Auslegungserklärung ab. (Seite 521)
Bundesverfassungsgericht (BVerG), Karlsruhe, bestätigt das Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) in verfassungskonformer Auslegung als „dritten Weg” neben Strafvollzug und Sicherungsverwahrung als verfassungskonform
Zugleich prüft der Zweite Senat eingehend die Vereinbarkeit seiner Argumentation mit der Rechtsprechung des EGMR. Zum Begriff der „psychischen Störung” nimmt das BVerfG Bezug auf die Gesetzesbegründung, in der es heißt, als psychische Störung könnten sich spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz, der Impuls- oder Triebkontrolle darstellen; dies gelte insbesondere für die dissoziale Persönlichkeitsstörung und verschiedene Störungen der Sexualpräferenz, etwa Pädophilie oder Sadomasochismus.
Das BVerfG gelangt zu dem Schluss: «Bereits danach ist der gesetzliche Gehalt der psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG auf die Vereinbarkeit mit dem Rechtfertigungsgrund für eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK angelegt. Dies in der Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes im Einzelfall zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte.
Ungeachtet dessen löst sich die systematische Einpassung der Therapieunterbringung vom bisherigen zweigliedrigen System der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) einerseits und der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) andererseits und installiert einen nicht anhand der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§§ 20, 21 StGB) abzugrenzenden „dritten Weg”. Dem Verzicht auf ein Defizit strafrechtlicher Verantwortlichkeit als Voraussetzung für die Therapieunterbringung stehen die Wertungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe e EMRK und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht entgegen.» (Seite 536)
Richter Huber betont in seiner abweichenden Meinung, dass er die Begründung für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Erlass des ThUG entgegen der Meinung der Senatsmehrheit nicht in der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht sieht, sondern lediglich eine Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs mit dem Strafrecht. (Seite 554)
BVerfG beanstandet fortdauernde Unterbringung des Bf. Mollath in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen unzureichender Erwägungen im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose. (Seite 557)
BVerfG verneint individuell durchsetzbaren Schadensersatzanspruch für zivile Opfer eines Nato-Luftangriffs auf Brücke in Serbien 1998 im Rahmen von Nato-Luftschlägen gegen Serbien zum Schutz der Kosovo-Albaner. (Seite 563)
BVerfG bekräftigt informationelle Selbstbestimmung im privaten Versicherungsrecht zur Ablehnung einer praktisch unbegrenzten Schweigepflichtentbindung gegenüber Ärzten, Krankenhäusern, Krankenkassen, Behörden und Arbeitgebern zur Prüfung des Anspruchs auf Berufsunfähigkeitsrente. (Seite 571)
BVerfG bewertet die Bezeichnung „Winkeladvokatur” in einem Schreiben an die Rechtsanwaltskammer in einem zivilrechtlichen Kollegen-Streit nicht als unzulässige Schmähkritik, sondern sieht sie von der Meinungsfreiheit gedeckt. (Seite 574)
Zwei neue EMRK-Protokolle zur Unterzeichnung aufgelegt: Vorab-Gutachten-Verfahren zum EGMR (16. ZP-EMRK); Bekräftigung von Subsidiaritätder EMRK und Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten (Protokoll Nr. 15). (Seite 576)
Vorlage des österreichischen Obersten Gerichtshofs an den EuGH betr. Durchsetzung von Urheberrechten gegen illegalen Zugriff auf Kinofilme im Internet. Die Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón sind auf den 10. Oktober 2013 terminiert. (Seite 576)