EuGRZ 2014 |
2. Oktober 2014
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41. Jg. Heft 17-19
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Informatorische Zusammenfassung
Gertrude Lübbe-Wolff, Bielefeld, über „Die Beratungskultur des Bundesverfassungsgerichts“
In ihrer Rede zur Verabschiedung aus dem Amt der Richterin des Bundesverfassungsgerichts am 21. Juli 2014 in Karlsruhe setzt Lübbe-Wolff Schwerpunkte auf Formen und Inhalte der Entscheidungsfindung als «Sache aller Richter», auf subjektive Elemente und Erfahrungen auf dem Wege zu Kompromissen sowie auf effektive institutionelle Rahmenbedingungen:
«Von einem in der Beratung einmal eingenommenen Rechtsstandpunkt wieder abzurücken, ist ja die schwerste aller richterlichen Übungen. Diese doch so notwendige Übung wird etwas leichter, wenn man dafür ein Wort zur Hand hat, das mehr nach großzügiger Geste als nach Selbstkorrektur klingt. In concreto muss nicht jedesmal gesagt werden, was in abstracto doch alle Mitglieder des Spruchkörpers wissen: Dass alle nicht nur selbst etwas einbringen, sondern in den intensiven Auseinandersetzungen, die geführt werden, auch voneinander lernen. Im Einzelfall kann man sich über das Ausmaß gerechtfertigten Entgegenkommens immer streiten. Aber dass eine Beratungskultur wie die dargestellte im Grundsatz die bestmögliche Grundlage für Rechtlichkeit und Sachlichkeit ist, dass sie bestmöglich zur Erdung aller Beteiligten, zur Auflösung von Ideologemen, zur Abgewogenheit beiträgt, vernunftfördernd und friedensdienlich wirkt, davon bin ich, inzwischen seit vielen Jahren, überzeugt; in diesem Punkt habe ich umgelernt. (…)
So wichtig die persönlichen Qualitäten der Richter, besonders auch das Geschick des Vorsitzenden, sind: Die vorbildliche Beratungskultur des Bundesverfassungsgerichts beruht nicht nur auf ihnen. Sie wird gefördert und gestützt, und auch die erforderlichen Qualitäten der Richter werden gefördert und gestützt durch institutionelle Rahmenbedingungen.
Das fängt bei den bekannten elementaren Sicherungen richterlicher Unabhängigkeit an und ist hier besonders offensichtlich. Hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts gehört dazu unter anderem die verhältnismäßig lange Amtszeit und – wie der Präsident noch kürzlich sehr zu recht betont hat – die Nichtwiederwählbarkeit nach deren Ablauf.
Wesentliche Rückhalte der vorbildlichen Beratungskultur sind auch eine Reihe von Regelungen und Gebräuchen, die die Zusammensetzung des Gerichts betreffen:
Da sind zunächst die gesetzlichen Regelungen, nach denen die Richter in den Gremien, von denen sie gewählt werden – je zur Hälfte Richterwahlausschuss und Bundesrat – mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden müssen. Die wichtigste Bedeutung dieses Erfordernisses liegt darin, dass es verlässlich der größten und gefährlichsten, gerade bei einem Verfassungsgericht aber besonders naheliegenden Versuchung für die nominations- und wahlberechtigten politischen Akteursgruppen entgegenwirkt: der Versuchung, die Nominierungen am Ziel der Sicherung unbedingter Linientreue zu orientieren. (…)
Recht unmerklich, aber nicht weniger effektiv wirkt die Kombination zweier weiterer Umstände: Die gesetzlich vorgesehene gerade Zahl der Richter in jedem der beiden Senate (acht), verbunden mit der Tradition, dass die beiden großen Volksparteien unabhängig von Schwankungen in den Ergebnissen der Parlamentswahlen in Bund und Ländern jeweils die Hälfte der Richter in jedem Senat nominieren und dabei etwaige kleinere Koalitionspartner an ihrem Kontingent teilhaben lassen. (…) Es kann keine über Legislaturperioden hinweg prästabilierte „Vorherrschaft“ von Exponenten einer bestimmten politischen Richtung geben, und damit auch keine Bildung von Blöcken, die sich der Notwendigkeit, Andere zu überzeugen und mitzunehmen, dauerhaft enthoben sehen und deshalb geneigt sein könnten, einfach mit der Macht des Blocks zu operieren. Besser als so kann man der für die Funktionsfähigkeit eines Verfassungsgerichts existenziellen Gefahr interner politischer Fraktionsbildungen nicht entgegenwirken. (…) Die Normalität besteht darin, dass man sich in die vorhandene Beratungskultur einfindet und sich als Selbstverständlichkeit des Habitus und des Gefühls für das Gehörige zu eigen macht, was darin zum guten Ton gehört. Eben deswegen und nur deswegen kann man von einer Kultur sprechen. Es sind gerade die besten Institutionen, die in solcher Weise nicht als stets im Bewusstsein präsenter Anreiz, sondern kulturprägend wirken. Zugleich sind sie damit aber auch besonders gefährdet, weil der Sinn für ihre Bedeutung leichter verlorengeht und sich die Einbildung ausbreiten kann, die Kultur, die sich auf sie gründet, komme allein von innen und verdanke sich allein den handelnden Subjekten.» (Seite 509)
Stefan Schürer, Zürich – „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Tatsacheninstanz“
Der Autor geht den Gründen für divergierende Sachverhaltsfeststellungen durch den EGMR am Beispiel einiger Schweizer Fälle nach (Perinçek, Dembele, A.A., Neulinger und Shuruk sowie Udeh), schärft das Problembewusstsein, sucht nach systemimmanenten Lösungen und plädiert in Ergänzung zu dem sich festigenden innerstaatlichen Beurteilungsspielraum für einen innerstaatlichen Erkenntnisspielraum:
«Der Schutz der Konventionsrechte ist ohne eine minimale Kontrolle des Sachverhalts jedoch nicht zu haben. Zu stark wird die Grundrechtspraxis von den konkreten Umständen des Einzelfalls und damit vom Sachverhalt geprägt. Sind die Verhältnisse von den nationalen Instanzen offenkundig falsch erhoben worden, bedarf es deshalb einer Korrektur. Gleichzeitig bedingt die Ermittlung und Würdigung der massgebenden Faktoren in vielen Konstellationen eine gewisse örtliche und zeitliche Nähe zum Sachverhalt.
Der EGMR trägt dieser Dialektik dadurch Rechnung, dass er sich grundsätzlich mit einer vertretbaren Interpretation des Sachverhalts durch die innerstaatlichen Instanzen begnügt. Mitunter zeigt sich in der Praxis jedoch ein anderes Bild: Der Gerichtshof setzt sich ohne zwingende Gründe über die Festlegungen der nationalen Gerichte hinweg – und damit über seine selber gesetzten Massstäbe. Oder er ergänzt den Sachverhalt infolge Zeitablaufs mit neuen Sachverhaltselementen.
Diese Rolle des EGMR als Tatsacheninstanz ist bei der Rezeption der Strassburger Praxis verstärkt zu reflektieren. (…)
Für die Debatte um die subsidiäre Aufgabe des Gerichtshofs, dessen Kontrolldichte sowie den Spielraum der nationalen Instanzen bedeutet der Befund vor allem eines: Zusätzlich zum Beurteilungsspielraum (marge d'appréciation), den der EGMR den Konventionsstaaten zwecks Berücksichtigung unterschiedlicher Traditionen und Wertvorstellungen in Abwägungsfragen je nach Umständen zugesteht, muss den Mitgliedstaaten bei der Festlegung des Sachverhalts ein Erkenntnisspielraum zukommen. Dieser manifestiert sich ebenfalls in einer reduzierten Kontrolldichte. Die Diskussion um die Rolle des EGMR gegenüber den nationalen Instanzen verweist daher nicht zuletzt auf die Festlegung des Sachverhalts. Dabei mag es um vermeintliche Details gehen. Abweichungen in Sachverhaltsfragen spielen in der Praxis des Gerichtshofs zuweilen jedoch eine grössere Rolle als die beklagte „Überinterpretation“ der Grundrechte.
Vor diesem Hintergrund ist entscheidend, dass der EGMR mit seiner Sachverhaltsdarstellung die tatsächlichen Verhältnisse abbildet. Weicht er ohne stichhaltige Gründe vom Sachverhalt der innerstaatlichen Instanzen ab, setzt sich der Gerichtshof nicht nur über seine eigenen Massstäbe hinweg. Weit schwerer wiegt, dass er seine Urteile auf eine fragwürdige Tatsachenbasis stellt.» (Seite 512)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, verurteilt Serbien wegen Auskunftsverweigerung des Geheimdienstes über den Umfang elektronischer Überwachung / Fall Youth Initiative for Human Rights gegen Serbien
Beschwerdeführerin (Bf.) ist eine 2003 gegründete Belgrader Nichtregierungsorganisation. Sie wollte vom Nachrichtendienst Serbiens wissen, wie viele Personen im Jahre 2005 elektronisch überwacht wurden. Nachdem der Nachrichtendienst die Auskunft verweigerte, wandte die Organisation sich mit einer Beschwerde an den (staatlichen) Beauftragten für öffentlichkeitsrelevante Information und für Datenschutz. Der Informationsbeauftragte verpflichtete den Nachrichtendienst, die geforderte Information innerhalb von drei Tagen zur Verfügung zu stellen. Der Nachrichtendienst legte Einspruch beim Obersten Gerichtshof ein, der den Antrag ablehnte (fehlende Aktivlegitimation). Daraufhin teilte der Nachrichtendienst der Bf. mit, über die angeforderten Informationen nicht zu verfügen.
Der EGMR gelangt zu dem Schluss, «dass die hartnäckige Weigerung des Nachrichtendienstes Serbiens, die Anordnung des Informationsbeauftragten zu befolgen, im Widerspruch zum innerstaatlichen Recht stand und Willkür gleichkommt. Folglich liegt eine Verletzung von Art. 10 der Konvention vor.»
Zugleich ordnete der EGMR an, dass die angeforderten Daten der Bf. zur Verfügung gestellt werden müssen (restitutio in integrum). (Seite 520)
EGMR wertet gerichtliches Verbot öffentlicher Kritik an einem Bürgermeister-Kandidaten, er decke eine besonders gefährliche Neonazi-Organisation (Berger-88-e.V.) als Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) / Brosa gegen Deutschland
Das Amtsgericht Kirchhain untersagte dem Bf., ein entsprechendes Flugblatt weiter zu verteilen oder die Behauptungen in anderer Form zu verbreiten. Das Landgericht Marburg wies die Berufung des Bf. gegen das Urteil des Amtsgerichts zurück, das Bundesverfassungsgericht nahm die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung an.
«Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht einräumte, dass einige Indizien dafür sprechen könnten, dass es sich bei dem Verein um eine neonazistische Vereinigung handele, und diese Indizien „zusammen genommen die Vermutung aufkommen lassen [können], dass dies alles nicht mehr bloßer Zufall ist“. Somit hat das Gericht im Wesentlichen eingeräumt, dass die von dem Bf. zum Ausdruck gebrachte Meinung einer faktischen Grundlage nicht entbehrte. Es bleibt die Frage zu prüfen, ob diese faktische Grundlage hinreichend war.»
Der Gerichtshof stellt fest, «dass die deutschen Gerichte einen „zwingenden Beweis“ forderten und somit einen Grad an Genauigkeit anwandten, der nahe an den herankommt, der üblicherweise erforderlich ist, um dieBegründetheit einer strafrechtlichen Anklage durch ein Gericht nachzuweisen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass der Grad an Genauigkeit, mit dem über die Begründetheit einer strafrechtlichen Anklage zu entscheiden ist, kaum mit dem verglichen werden kann, der zu beachten ist, wenn jemand seine Meinung über ein Thema von öffentlichem Belang zum Ausdruck bringt. Die Standards, die bei der moralischen Beurteilung der politischen Aktivitäten einer Person angewandt werden, unterscheiden sich von denen, die für den strafrechtlichen Nachweis einer Straftat erforderlich sind (…). Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die deutschen Gerichte bezüglich des zu erbringenden Tatsachenbeweises zu hohe Anforderungen stellten.»
Der EGMR hebt hervor, dass F.G. (der kritisierte Bürgermeister-Kandidat und Kläger des Ausgangsverfahrens) mit seinem Leserbrief – in dem er betonte, der Verein weise keine rechtsextremen Tendenzen auf, und in dem er die Äußerungen des Bf. als „Falschbehauptungen“ bezeichnete – einen Beitrag zu der fortdauernden Debatte geleistet hatte, der durchaus eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Äußerung des Bf. bilde.
Weiter heißt es: «In der Erwägung, dass F.G. zur maßgeblichen Zeit Lokalpolitiker war, und dass die fortdauernde Debatte in der Öffentlichkeit und mit relativ harschen Worten von allen Seiten geführt wurde, und in Anbetracht des politischen Kontextes der anstehenden Kommunalwahlen stellt der Gerichtshof fest, dass die Äußerung des Bf. die Grenzen hinzunehmender Kritik nicht überschritt. (…) Folglich liegt eine Verletzung von Art. 10 der Konvention vor.» (Seite 524)
EGMR billigt Auslieferung des Bf. an die Türkei wegen des Verdachts der Anstiftung zum Doppelmord wegen Ehebruchs (Ehefrau des Bruders) / Aktas gegen Deutschland
Der EGMR unterstreicht, der gerügte Verstoß gegen das Folterverbot bzw. gegen das Verbot erniedrigender Strafe oder Behandlung in Art. 3 EMRK sei nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Die Beschwerde wird als offensichtlich unbegründet und deshalb unzulässig zurückgewiesen. (Seite 529)
EGMR sieht in den gesetzlichen Regelungen zur Entschädigung von Contergan-Opfern weder eine Verletzung von Eigentumsrechten noch eine Verletzung des Diskriminierungsverbots / Stürmer u.a. gegen Deutschland
Der EGMR führt u.a. aus: «Wie das Bundesverfassungsgericht überzeugend dargelegt hat, hatten die Bf. nicht substantiiert vorgetragen, dass die Entschädigung für etwa 3.000 Geschädigte nach dem geltenden Arzneimittelhaftungsrecht erheblich über den tatsächlichen Beträgen liegen würde, die die Bf. erhalten. Personen, die durch HIV-kontaminierte Blutkonserven infiziert wurden, empfangen – allerdings nur für fünf Jahre – Leistungen, die denen der Bf. vergleichbar sind, während die Renten der Bf. lebenslang bezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht wies zudem darauf hin, dass Renten für Opfer von Kriegen und Straftaten sowie für Impfopfer zu versteuern seien und bei der Beantragung weiterer Sozialleistungen als Vermögen angerechnet würden. Darüber hinaus seien die von den Contergangeschädigten im Ausland bezogenen Renten nicht allein der Höhe nach vergleichbar. Auch hier seien die Fragen, ob die Leistungen steuerfrei sind oder die Lebenshaltungskosten vergleichbar sind, und welche anderen Sozialleistungen den betreffenden Personen gewährt werden, zu berücksichtigen. Die Bf. haben diese Argumente des Bundesverfassungsgerichts nicht widerlegt. Überdies ist die derzeitige Rente der Bf. nicht so unzureichend, dass ihnen die Existenzgrundlage entzogen wird. Vor diesem Hintergrund kann der Gerichtshof nicht zu dem Schluss kommen, dass die Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Gruppen willkürlich sind.» (Seite 533)
Gerichtshof der Europäischen Unions (EuGH), Luxemburg, zum EU-autonomen Begriff der Parodie / Rs. Deckmyn und Vrijheidsfonds
Im Mittelpunkt steht eine politische Karikatur zur Unterstützung der Partei „Vlaamse Belang“ unter Verwendung des Titelblatts „Der wilde Wohltäter“ der populären belgischen Comicreihe „Suske en Wiske“. Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen Urheberrechte geltend und klagen auf Unterlassung. Die Beklagten berufen sich auf unionsrechtliche Ausnahmen vom Schutz des Urheberrechts und argumentieren, es handele sich vorliegend um eine politische Karikatur bzw. Parodie.
Der EuGH (Große Kammer) gelangt zu folgender Definition: «Art. 5 Abs. 3 Buchst. k der Richtlinie 2001/29 ist dahin auszulegen, dass die wesentlichen Merkmale der Parodie darin bestehen, zum einen an ein bestehendes Werk zu erinnern, gleichzeitig aber ihm gegenüber wahrnehmbare Unterschiede aufzuweisen, und zum anderen einen Ausdruck von Humor oder eine Verspottung darzustellen. Der Begriff „Parodie“ im Sinne dieser Bestimmung hängt nicht von den Voraussetzungen ab, dass die Parodie einen eigenen ursprünglichen Charakter hat, der nicht nur darin besteht, gegenüber dem parodierten ursprünglichen Werk wahrnehmbare Unterschiede aufzuweisen, dass sie vernünftigerweise einer anderen Person als dem Urheber des ursprünglichen Werkes zugeschrieben werden kann, dass sie das ursprüngliche Werk selbst betrifft oder dass sie das parodierte Werk angibt.
Des Weiteren muss (…) in einem konkreten Fall ein angemessener Ausgleich zwischen zum einen den Interessen und Rechten der in den Art. 2 und 3 der Richtlinie genannten Personen auf der einen und der freien Meinungsäußerung des Nutzers eines geschützten Werkes, der sich auf die Ausnahme für Parodien im Sinne dieses Art. 5 Abs. 3 Buchst. k beruft, auf der anderen Seite gewahrt werden.» (Seite 536)
EuGH sieht in der Bedingung des Nachweises von Grundkenntnissen der deutschen Sprache für ein Visum zum Familiennachzug der Ehefrau aus der Türkei einen Verstoß gegen das Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen der EU mit der Türkei. / Rs. Dogan (Seite 539)
EuGH billigt Mindestalter von 21 Jahren für Antragsberechtigung von Drittstaatsangehörigen (hier: aus Afghanistan) auf Familienzusammenführung (hier: in Österreich) als unionsrechtskonform. / Rs. Noorzia (Seite 542)
EuGH bestätigt die Gültigkeit eines Schengen-Visums trotz nachträglicher Annullierung des ursprünglichen Reisedokuments / Rs. Air Baltic Corporation
Eine entgegenstehende nationale Regelung (hier: in Lettland) ist unionsrechtswidrig. (Seite 544)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, wertet die Verletzung des Persönlichkeitsrechts durch satirische Darstellungen als zu rechtfertigende politische Meinungsäußerung
Geklagt hatte Daniel Vasella, langjähriger COE und VR-Präsident von Novartis. Es ging um Fotomontagen mit Köpfen von insgesamt drei bekannten Top-Managern (mit bekanntermaßen sehr hohen Bezügen) auf unbekleideten Männerkörpern mit verdecktem Schambereich und der Aufforderung: „Abzocker zieht Euch warm an!“ Diese wurden von der politischen Partei „JungsozialistInnen Schweiz (JUSO)“ im Rahmen der Diskussion über die Volksinitiative „1:12 – Für gerechte Löhne“ veröffentlicht.
Zum Begriff der Parodie führt das BGer aus: «Nach verbreiteter Definition liegt Satire vor, wenn kumulativ drei Merkmale erfüllt sind, nämlich ein aggressives, ein soziales und ein ästhetisches. Die Aggression richtet sich nicht gegen eine bestimmte Person, sondern gegen einen Repräsentanten eines bestimmten Verhaltens oder auch gegen eine Ordnung oder Institution. Mit dem Angriff wird ein sozialer Zweck verfolgt, indem die dargestellte Wirklichkeit mit einer übergeordneten Norm konfrontiert bzw. ein Widerspruch aufgedeckt wird. Dieser Vorgang wird auf der Ebene der ästhetischen Darstellung mit verschiedenen Stilmitteln vollzogen (…). Eines dieser Stilmittel kann die Karikatur sein, welche im Prinzip visuell gestaltete Satire ist (…). Dabei wird in der verzerrten Form der Bildsprache das Charakteristische entdeckt und analysiert, wobei die Absicht der Karikatur idealtypisch die Aufdeckung von Missständen mittels Überzeichnung ist (…).
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Persönlichkeit des Beschwerdeführers verletzt worden ist, die nicht auf ihn als Privatperson zielende karikierende Darstellung aber im Rahmen der politischen Auseinandersetzung gerade noch tolerierbar erscheint und somit ein Rechtfertigungsgrund vorliegt. Jedenfalls hat das Obergericht mit der betreffenden Ansicht in vertretbarer Weise von seinem Ermessen Gebrauch gemacht und mithin kein Bundesrecht verletzt.» (Seite 549)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, betont zum Unterbleiben von Rentenerhöhungen 2005 bzw. 2007 und zur Festsetzung der Beiträge zur Krankenversicherung für Rentner die Flexibilität des Gesetzgebers gegenüber der Eigentumsgarantie für Rentenansprüche
«Es liegt innerhalb des dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsermessens, wenn er der Stabilisierung und Begrenzung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Rentenversicherung aus systemimmanenten Gründen zur Wahrung des Grundsatzes der Generationengerechtigkeit Priorität einräumt. Dabei liegt die Annahme, das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung könne vor dem Hintergrund der ökonomischen und demografischen Entwicklungen nur dadurch wieder hergestellt werden, dass den Versicherten eine Perspektive aufgezeigt werde, die ihnen zu bezahlbaren Beitragssätzen eine angemessene Lebensstandardsicherung bei Alter, Invalidität und im Hinterbliebenenfall gewährleiste, weshalb die Beitragssätze nicht über ein bestimmtes Beitragssatzniveau steigen dürften (…), innerhalb der Einschätzungsprärogative des zur Gestaltung des Sozialstaats berufenen Gesetzgebers (…). Vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslage war er auch nicht gehalten, den sich abzeichnenden Finanzbedarf über einen noch höheren Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung sicherzustellen (…). Nach Angaben der Bundesregierung (…) hat der Bund im Rahmen der Maßnahmen zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung seine finanzielle Beteiligung aus Verantwortung für deren langfristiges Funktionieren ohnehin schon erheblich mit der Folge ausgeweitet, dass mittlerweile bereits rund ein Viertel der Ausgaben des Bundeshaushalts auf Zuschüsse, Beiträge und Erstattungen an die gesetzliche Rentenversicherung entfällt.» (Seite 553)
BVerfG rechtfertigt Plakat-Protest auf einem Friedhof als durch die Versammlungsfreiheit geschützter Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung
Es geht um ein Transparent gegen eine Gedenkveranstaltung der Stadt Dresden zum Bombenangriff der Alliierten im Jahr 1945. (Seite 565)
BVerfG kritisiert Verhängung einer Geldbuße wegen von der Polizei nicht genehmigter Lautsprecherdurchsage bei einer Veranstaltung zum 1. Mai („Bullen raus aus der Versammlung“) als Verletzung der Versammlungsfreiheit. (Seite 567)
BVerfG nimmt im Fall Edathy (Verdacht des Besitzes kinderpornographischer Schriften) Verfassungsbeschwerde gegen strafprozessuale Durchsuchungsmaßnahmen und Verletzung der Abgeordneten-Immunität nicht zur Entscheidung an. (Seite 569)
Landesarbeitsgericht (LAG), Düsseldorf, verneint automatischen Anspruch auf Wiedereinstellung nach Feststellung einer EMRK-Verletzung durch EGMR wegen verhaltensbedingter Kündigung / hier: Entlassung eines Kirchenmusikers durch die katholische Kirche wegen Ehebruchs
Es ist dies eine Folgeentscheidung zum EGMR-Urteil im Fall Schüth gegen Deutschland (EuGRZ 2010, 560 ff.). Der EGMR hatte eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt. Das LAG Düsseldorf sieht jetzt in Anbetracht des Zeitablaufs von zwölfeinhalb Jahren zwischen Ablauf der Kündigungsfrist und dem Urteil des EGMR das Interesse der Rechtssicherheit als überwiegend an. Im Übrigen sei dem Kläger (Bf. in Straßburg) vom EGMR eine Entschädigung von 40.000 Euro zugesprochen worden. (Seite 576)
Zu Mitgliedern im Evaluierungsausschuss für Kandidaten für die Wahl zum Richter am EGMR wurden berufen: Jean-Paul Costa, Christoph Grabenwarter, John L. Murray (Vorsitzender), Matti Paavo Pellonpää, Nina Vajić, Michail Vilaras und Elika Wagnerová. (Seite 584)
Zu Mitgliedern im Evaluierungsausschuss für Richter-Kandidaten zu EuGH und EuG wurden berufen: Jean-Marc Sauvé (Vorsitzender), Luigi Berlinguer, Pauliine Koskelo, Lord Mance, Péter Paczolay, Christiaan Timmermanns, Andreas Voßkuhle. (Seite 585)
BVerfG setzt einen Teil der sitzungspolizeilichen Anordnung des Vorsitzenden in einer Hauptverhandlung (Strafverfahren) über Einschränkungen der Pressearbeit mit einstweiliger Anordnung vorläufig aus, weil sie gegenüber den Betroffenen nicht hinreichend begründet worden sei. (Seite 585)