EuGRZ 2015 |
30. September 2015
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42. Jg. Heft 15-18
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Informatorische Zusammenfassung
Karsten Herzmann, Giessen, konturiert die Perspektiven im Verhältnis nationaler Verfassungsgerichte zum EuGH: „Das spanische Verfassungsgericht und der Fall Melloni / Konsequenzen des EuGH-Urteils aus der Sicht seines Adressaten“
Es geht um die Entscheidung des Tribunal Constitucional de España, STC 26/2014 vom 13.2.2014 im Nachgang zum Melloni-Urteil des EuGH vom 26.2.2013. Zu Einzelheiten s.u. den kursiven Text.
Der Autor gelangt in seiner Bewertung u.a. zu folgendem Ergebnis:
«Die erste Vorlage des spanischen Verfassungsgerichts zum EuGH wurde als Aufnahme des Dialogs der Gerichte gefeiert. Nun aber wird der Vorwurf, sich im Fall Melloni nicht hinreichend dialogisch verhalten zu haben, sowohl gegen den EuGH als auch gegen das TC erhoben. Das spanische Verfassungsgericht vermeidet in seiner endgültigen Entscheidung zwar einen Konflikt mit dem Luxemburger Gericht, indem es den Gehalt von Art. 24.2 der Verfassung „autonom“ auf einen Standard herabsenkt, den es selbst noch in der Vorlage als vom Wesensgehalt des Grundrechts erfasst und als Bedrohung der Menschenwürde angesehen hat. Diesen Rückzug kompensiert es jedoch im Rahmen seiner Begründung dadurch, dass es dem EuGH – klar erkennbar – lediglich im Ergebnis folgt und zugleich die Grenzen seiner Gefolgsbereitschaft ins Zentrum seiner Ausführungen stellt. Diese Reaktion auf die Antworten des EuGH weist aus, dass das spanische Verfassungsgericht den Höchstrang der spanischen Verfassung – und damit auch seine eigene Stellung – trotz des Nachgebens im konkreten Fall nicht aufzugeben bereit ist. Damit bringt das TC zugleich zum Ausdruck, dass es die seiner Vorlage mitzugrundeliegende Frage, inwieweit es als nationales Verfassungsgericht künftig die Grundrechte der Verfassung überhaupt noch zur Bewertung spanischer Rechtsakte heranziehen kann, nicht in akzeptabler Weise für beantwortet hält.
Dieser Widerstand mag angesichts der Luxemburger Auslegung der normativen Grundlagen, die die Charta hierfür bereithält, verständlich sein: Während die Grenzen der Anwendbarkeit der Charta nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC infolge des Åkerberg Fransson-Urteils kaum mehr erkennbar erscheinen, gibt der Gerichtshof mit seiner Melloni-Entscheidung zu verstehen, dass es für die Möglichkeit der Anwendung höherer mitgliedstaatlicher Grundrechtsstandards nach Art. 53 GRC allein auf den Vorrang des Unionsrechts ankomme. Der EuGH verweigerte damit die von den mitgliedstaatlichen (Verfassungs-)Gerichten – auch in der hier gegenständlichen Vorlage – implizit eingeforderte Zusicherung, mitgliedstaatliche Grundrechtsstandards und die eigene Grundrechtsschutzkompetenz der nationalen Gerichte zu wahren. Dies hatte nicht nur die Warnung des spanischen Verfassungsgerichts an den EuGH in seiner Melloni-Entscheidung zur Folge. Auch das Bundesverfassungsgericht sah sich (in Reaktion auf das Åkerberg Fransson-Urteil) dazu veranlasst, in seiner Antiterrordatei-Entscheidung ausdrücklich zu betonen, dass eine Auslegung und Anwendung der GRC, die den Schutz und die Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte gefährden würde, einen Ultra-vires-Akt bzw. einen Bruch der Verfassungsidentität des Grundgesetzes darstellen würde.
(…)
Mittlerweile haben sich die Wogen etwas geglättet. Auch wenn der Gerichtshof in Bezug auf den Vorrang des Unionsrechts auf eine jahrzehntelange Rechtsprechung zurückgreifen und auf diese verweisen kann, zeigt er mittlerweile in einigen Entscheidungen ersichtlich Bemühen auf die mit der Charta neu entfachten Fragen des Verhältnisses zu nationalen Grundrechten genauer einzugehen. Außerdem hat er – in Kontrast zu den knappen Ausführungen zu den Charta-Grundrechten in der Melloni-Entscheidung – zuletzt verstärkt aufgezeigt, dass auch die Charta einen hinreichenden Schutz gewährleisten kann. Insoweit hat der Gerichtshof wohl erkannt, dass seine Entscheidung im Fall Melloni (und Åkerberg Fransson) tatsächlich der „Ergänzung“ bedurfte. In der Wissenschaft wird dies aufgenommen und hat eine produktive „dogmatische“ Aufarbeitung angestoßen.» (Seite 445)
Der Bf. des Ausgangsverfahren Stefano &HFK;Melloni war in Italien wegen betrügerischen Konkurses in Abwesenheit zu einer am 7. Juni 2004 letztinstanzlich bestätigten Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt worden. In Abwesenheit deshalb, weil Melloni in Spanien festgenommen, nach Leistung einer Kaution in Höhe von 5 Mio. ESP am 30. April 1996 auf freien Fuß gesetzt worden und sofort untergetaucht war, so dass er von Spanien nicht mehr nach Italien ausgeliefert werden konnte.
Aufgrund eines europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung des oben erwähnten italienischen Strafurteils wurde er am 1. August 2008 von der spanischen Polizei erneut festgenommen. Gegen den gerichtlichen Beschluss vom 12. September 2008, mit dem seine Auslieferung an Italien zur Strafvollstreckung erlaubt worden war, legte er Verfassungsbeschwerde ein.
Auf Vorlage des spanischen Verfassungsgerichts erging das Melloni-Urteil des EuGH, EuGRZ 2013, 157. Das Folge-Urteil des Tribunal Constitucional vom 13.2.2014, das den Ausgangspunkt des vorstehenden Aufsatzes bildet, ist in englischer Übersetzung des Gerichts abgedruckt in HRLJ 2014, 475 ff.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, präzisiert Grenze zwischen verdeckten Ermittlungen und polizeilicher Tatprovokation (Agent provocateur) und Voraussetzungen für den Schutz von Polizei-Informanten und verdeckten Ermittlern, die bei Gefahr für Leib und Leben sich einer Zeugenbefragung durch den Angeklagten in der Hauptverhandlung nicht stellen müssen / Scholer gegen Deutschland
Der Gerichtshof kommt in dem konkreten Fall, bei dem es um verdeckte Ermittlungen im Drogen-Milieu und eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten geht, zu dem Ergebnis, dass das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK nicht verletzt worden ist.
Verdeckte Ermittlungen ./. Tatprovokation: «Bei der Differenzierung zwischen der rechtmäßigen Infiltrierung durch einen verdeckten Ermittler und der Provokation einer Straftat befasst sich der Gerichtshof ferner mit der Frage, ob auf den Bf. Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. In Betäubungsmittelfällen hat er festgestellt, dass sich die Ermittler unter anderem dann nicht mehr passiv verhalten, wenn sie von sich aus Kontakt zu dem Bf.aufnehmen, wenn sie ihr Angebot trotz einer anfänglichen Ablehnung seitens des Bf. erneuern oder darauf beharren, wenn sie den Durchschnittspreis überbieten oder wenn sie durch Vorspiegelung von Entzugserscheinungen das Mitleid des Bf. erregen (…).
Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien erlegt der Gerichtshof den Behörden die Beweislast auf. Soweit der vom Angeklagten erhobene Vorwurf nicht völlig unplausibel ist, hat die Staatsanwaltschaft zu beweisen, dass keine Tatprovokation stattgefunden hat.»
Zeugenschutz: Der Angeklagte hat nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK das Recht, jeden Belastungszeugen in der Hauptverhandlung oder sonst bei dessen Vernehmung zu befragen. Diese Regel gilt nicht absolut. Ausnahmen sind möglich. Hierzu führt der EGMR u.a. aus:
«Wenn Angst der Grund für die Abwesenheit eines Zeugen ist, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass es, soweit die Angst des Zeugen auf Drohungen oder sonstigen Handlungen des Angeklagten oder seiner Komplizen beruht, es angemessen ist, die Aussagen dieses Zeugen in das Verfahren einzuführen, ohne dass er vor Ort (live) aussagen muss oder durch den Angeklagten oder seine Rechtsvertreter befragt werden kann. Ein Angeklagter, der in dieser Weise gehandelt hat, muss so behandelt werden, als habe er auf seine Rechte nach Art. 6 Abs. 3 lit. d auf Befragung dieser Zeugen verzichtet (…). Ist die Angst des Zeugen auszusagen nicht unmittelbar auf Drohungen des Angeklagten oder auf Personen unter seinem Einfluss zurückzuführen, sondern darauf, dass diese Personen für derartiges Verhalten berüchtigt sind, muss das Tatgericht entsprechende Nachforschungen anstellen, um erstens festzustellen, ob es objektive Gründe für diese Angst gibt, und zweitens, ob diese objektiven Gründe durch Beweise untermauert werden (…). Schließlich ist in Fällen, in denen ein Zeuge zu keinem Zeitpunkt vor dem Verfahren vernommen wurde, die Zulassung der Verlesung seiner Aussage anstelle einer Aussage in der Hauptverhandlung nur als letztes Mittel zulässig. Bevor ein Zeuge, der sich auf Angst beruft, von der Aussage befreit werden kann, muss sich das Tatgericht vergewissern, dass alle verfügbaren Alternativen, etwa die Anonymität des Zeugen oder sonstige besondere Maßnahmen, unzureichend oder undurchführbar wären.»
Zum konkreten Fall heißt es: «Der Gerichtshof nimmt insoweit zur Kenntnis, dass das Tatgericht die Begründung des rheinland-pfälzischen Innenministeriums bestätigte, dass es zum Schutz von Leib und Leben der Zeugen und ihrer Angehörigen notwendig gewesen sei, ihre Identität geheim zu halten und ihre Anwesenheit in der Hauptverhandlung nicht zu gestatten. Es bestehe eine erhebliche Gefahr, dass der Bf. gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen gegen sie veranlassen würde. Er sei Vollmitglied des Motorradclubs „Bandidos“, der gut organisiert und für sein gewalttätiges und rücksichtsloses Vorgehen gegen Personen, die als Verräter betrachtet würden, bekannt sei; ferner bestehe gegen Mitglieder des Clubs der Verdacht der Verstrickung in Tötungsdelikte. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Bf. dem S. Geld dafür geboten hatte, eine Person zusammenzuschlagen, die den Club angeblich hintergangen hatte, und er bereits selbst den S. mit einer geladenen Waffe bedroht hatte. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass das Gericht angesichts dieser Merkmale und der insoweit erfolgten Beweisaufnahme durch das Tatgericht vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass die Notwendigkeit, S. und C. zu schützen, sachlich gerechtfertigt war.»
Als kompensierenden Faktor wird auf die Möglichkeit der schriftlichen Befragung hingewiesen. (Seite 454)
Drei der sieben beteiligten Richter haben dem Urteil eine abweichende Meinung beigegeben. (Seite 463)
Der EGMR wertet Ausweisung eines in Deutschland geborenen Drittstaatsangehörigen nach Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe (5 J., 6 M.) wegen Drogendelikten nicht als Verletzung des Rechts auf Privatleben (Art. 8 EMRK) / Kerkez gegen Deutschland
«Der Gerichtshof bestätigt erneut, dass ein Staat das Recht hat, im Rahmen des Völkerrechts und nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort zu regeln. Die Konvention garantiert nicht das Recht eines Ausländers auf Einreise oder Aufenthalt in einem bestimmten Land, und die Vertragsstaaten sind in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, befugt, einen wegen Straftaten verurteilten Ausländer auszuweisen.»
Zu den hinsichtlich Art. 8 relevanten gesellschaftlichen Beziehungen stellt der Gerichtshof fest, «dass der Bf. abgesehen von der Erwähnung, in Deutschland zur Schule gegangen zu sein und Ausbildungen sowie andere Kurse begonnen zu haben, keine Nachweise einer Beteiligung am sozialen Leben vorgelegt hat. Es ist festzuhalten, dass er lediglich auf seinen langen Aufenthalt in Deutschland und Kontakte zu seiner Mutter und seiner Schwester konkret verwiesen hat, (…) und dass er während seines Erwachsenenlebens offenbar zu keinem Zeitpunkt in den deutschen Arbeitsmarkt integriert war.» (Seite 464)
EGMR weist Individualbeschwerde gegen Umwandlung des Bergwerks „Schacht Konrad“ in Salzgitter in ein Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle als offensichtlich unbegründet zurück / Traube gegen Deutschland
Der Gerichtshof betont den weiten Beurteilungsspielraum des Staates in Umweltfragen und kann materiell-rechtlich keinen Verstoß gegen das Recht auf Privatleben erkennen. Zum verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 8 EMRK stellt der EGMR fest: «Aus den vorgelegten Informationen geht hervor, dass die Öffentlichkeit an dem Planfeststellungsverfahren beteiligt war und der Bf. vor den Verwaltungsorganen und drei Instanzen der innerstaatlichen Gerichte in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens gekommen ist, bei dem sein Vorbringen berücksichtigt wurde. Er konnte in den verschiedenen Stadien dieses Verfahrens die Argumente vortragen, die er als entscheidungserheblich ansah. Die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für die Entscheidungen, mit denen seine Klage abgewiesen wurde, wurden in drei gerichtlichen Instanzen, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts [EuGRZ 2009, 676], ausführlich dargelegt. Die innerstaatlichen Gerichte haben die Beweisangebote des Bf. geprüft und Gründe für ihre Entscheidung angeführt, die beantragten Beweise nicht zu erheben. Folglich ist nicht ersichtlich, dass gegen den verfahrensrechtlichen Gesichtspunkt des Art. 8 der Konvention verstoßen wurde.» (Seite 467)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erklärt Integrationsprüfung (hier: in den Niederlanden) bei Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen grundsätzlich für zulässig / Rsn. K und A
Allerdings dürfen die Prüfung und deren Kosten die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung (RL 2003/86/ EG) nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren. (Seite 470)
EuGH zum Ende des Aufenthaltsrechts eines Drittstaatsangehörigen nach Ehescheidung von einer zuvor aus dem Aufnahmemitgliedstaat weggezogenen Unionsbürgerin / Rs. Singh, Njume und Aly
Auf Vorlage des irischen High Court betont der EuGH: «[Daraus folgt,] dass, wie die Generalanwältin in Nr. 27 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat, unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen das Aufenthaltsrecht des im Aufnahmemitgliedstaat zurückbleibenden Ehegatten mit dem Wegzug des Unionsbürgers bereits erloschen ist. Ein späterer Scheidungsantrag kann indessen nicht zum Wiederaufleben dieses Rechts führen, da Art. 13 der Richtlinie 2004/38 nur von der „Aufrechterhaltung“ eines bestehenden Aufenthaltsrechts spricht.» (Seite 476)
EuGH bestätigt Verbot der Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft (RL 2000/43/EG) / Rs. CHEZ Razpredelenie Bulgaria
Das Urteil bezieht sich auf eine seit 25 Jahren in Bulgarien bestehende Praxis, in Stadtvierteln mit überwiegender Roma-Bevölkerung die Stromzähler in sechs bis sieben Meter Höhe an den Betonmasten der Freileitungen außer Reichweite des Endverbrauchers anzubringen.
Im Ausgangsverfahren klagt das Elektrizitätsunternehmen CHEZ Razpredelenie Bulgaria gegen eine Entscheidung der innerstaatlichen Kommission für den Schutz vor Diskriminierung, die diese Praxis auf Betreiben einer dort ansässigen Ladenbesitzerin beanstandet hat. (Seite 482)
EuGH beanstandet den Ausschluss von Beamten, deren Ehefrau nicht erwerbstätig ist, vom Elternurlaub / Rs. Maïstrellis
Im Ausgangsverfahren machte ein griechischer Richter unter Berufung auf RL 96/34/EG diesen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen erfolgreich geltend. (Seite 493)
EuGH mahnt bei Sanktionen wegen Nichtanmeldung von Bargeldbeträgen ab 10.000,– Euro beim Überschreiten einer EU-Außengrenze die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an / Rs. Chmielewski
Danach ist eine von der ungarischen regionalen Zoll- und Finanzhauptdirektion verhängte Geldbuße in Höhe von 60 % der nicht angemeldeten Barmittel im Wert von mehr als 50.000,– Euro unverhältnismäßig. (Seite 497)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, verneint einen Anspruch auf öffentliche Verhandlung im Vollstreckungsverfahren der definitiven Rechtsöffnung / Art. 6 Ziff.1 EMRK nicht anwendbar
Im Ausgangsverfahren geht es um die Rückzahlung eines Studiendarlehens an den Kanton Zürich in Höhe von Fr. 15.100,– (Restschuld) zzgl. Fr. 8.997,10 an Zinsen.
In dem Urteil heißt es: «Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der EGMR jedenfalls diejenigen Vollstreckungsverfahren, denen ein ordentliches, gerichtliches Verfahren vorausgegangen ist und in welchen nicht über die Begründetheit der zu vollstreckenden Forderung entschieden wird, nicht als Teil der „contestation sur un droit de caractère civil“ versteht, weshalb Art. 6 Ziff. 1 EMRK in solchen Verfahren grundsätzlich keine Anwendung findet.» (Seite 500)
Gerold Steinmann hält in seiner Anmerkung die Nicht-Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff.1 vor dem Hintergrund neuerer Rechsprechung des EGMR für fragwürdig und bedauert, dass Art. 30 Abs. 3 Bundesverfassung (Garantie der öffentlichen Verhandlung und Verkündung) im vorliegenden Fall nicht angerufen wurde; denn dies hätte dem Bundesgericht Anlass und Gelegenheit bieten können, die Tragweite des verfassungsmäßigen Anspruchs auf öffentliche Verhandlung im Allgemeinen zu vertiefen. (Seite 502)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bekräftigt Grundsatz der Gewaltenteilung im Hinblick auf die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts / hier: an die Zeugen Jehovas
Der Beschluss bietet Gelegenheit, Grundzüge des Verhältnisses zwischen Kirchen und Staat ausführlich darzulegen. Zum Anspruch auf Verleihung des Körperschaftsstatus führt das BVerfG aus: «Art. 61 Satz 2 LV-Bremen verstößt gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), weil er der Bremischen Bürgerschaft die Möglichkeit eröffnet, Einzelpersonengesetze zu erlassen. Hierdurch wird zugleich der Anspruch der antragstellenden Religionsgemeinschaft auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verletzt.
Die in Art. 61 Satz 2 LV-Bremen vorgesehene Zuweisung der ausschließlichen Entscheidungskompetenz über die Verleihung des Körperschaftsstatus im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV an die Bremische Bürgerschaft steht im Widerspruch zu dem von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG garantierten Zuständigkeitsbereich der Exekutive. Die Norm weist eine funktional der Verwaltung vorbehaltene Tätigkeit ohne zwingende Gründe in die ausschließliche Kompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers, der Bremischen Bürgerschaft.» (Seite 503)
Richter Voßkuhle, Richterin Hermanns und Richter Müller geben dem Beschluss des Zweiten Senats eine abweichende Meinung bei. (Seite 518)
BVerfG betont den Richtervorbehalt gegenüber der Eilkompetenz von Ermittlungsbehörden / hier: Hausdurchsuchungen
Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «1. Aus Art. 13 GG ergibt sich die Verpflichtung des Staates, eine effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten.
2. Mit der Befassung des zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichters durch die Stellung eines Antrags auf Erlass einer Durchsuchungsanordnung und der dadurch eröffneten Möglichkeit präventiven Grundrechtsschutzes durch den Richter endet die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden.
3. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden kann nur dann neu begründet werden, wenn nach der Befassung des Richters tatsächliche Umstände eintreten oder bekannt werden, die sich nicht aus dem Prozess der Prüfung und Entscheidung über diesen Antrag ergeben, und hierdurch die Gefahr eines Beweismittelverlusts in einer Weise begründet wird, die der Möglichkeit einer rechtzeitigen richterlichen Entscheidung entgegensteht.
4. Auf die Ausgestaltung der justizinternen Organisation kann die Eilzuständigkeit der Ermittlungsbehörden nicht gestützt werden.» (Seite 520)
BVerfG sieht in der Pflicht zur (betreuungs-)gerichtlichen Genehmigung zusätzlicher Freiheitsbeschränkungen (§ 1906 Abs. 5 BGB) einer pflegebedürftigen Person (Pflegestufe III) trotz Vorliegens einer Vorsorgevollmacht keine Grundrechtsverletzung der Betroffenen.
Der bevollmächtigte Sohn (Bf. zu 2) der in einem Seniorenheim lebenden Bf. zu 1. hatte, nachdem diese mehrfach aus einem Stuhl bzw. aus dem Bett gefallen war und sich dabei verletzt hatte, in Ausübung der Vollmacht eingewilligt, die Bf. zu 1. mit einem Beckengurt am Rollstuhl zu fixieren und Gitter an ihrem Bett anzubringen. Die nicht zur Entscheidung angenommene Vb. wendet sich gegen das Erfordernis der zusätzlichen gerichtlichen Genehmigung. (Seite 531)
BVerfG zur strafrechtlichen Verurteilung zweier Anwälte wegen Geldwäsche (§ 261 StGB) durch Annahme bemakelten Geldes als Rechtsanwaltshonorar
Die 2. Kammer des Zweiten Senats nimmt die Vb. nicht zur Entscheidung an: «Die Art. 12 Abs. 1 GG betreffenden Rügen verhalten sich zwar zur Rechtslage (…), jedoch fehlt es ersichtlich an einer schlüssigen Sachverhaltsschilderung und einer zureichenden Auseinandersetzung mit den angegriffenen Entscheidungen.»
Zur Rechtslage teilt die Kammer allerdings ausführliche Erwägungen mit: «Die Gefahr möglicher eigener Strafbarkeit ist mit der Gefahr eines Interessenkonflikts verbunden, der die professionelle Arbeit des Strafverteidigers erheblich erschweren oder sogar unmöglich machen kann. Ein Strafverteidiger, der sich durch die Annahme eines Honorars der Gefahr eigener Strafverfolgung ausgesetzt sieht, kann die von ihm gewählte berufliche Tätigkeit nicht mehr frei und unabhängig ausführen und ist nicht in der Lage, die ihm von Verfassungs wegen anvertraute Aufgabe der Interessenwahrnehmung für den Beschuldigten zu erfüllen. (…)
Dem Verteidiger kann nicht uneingeschränkt angesonnen werden, der aufgezeigten Gefahrenlage mit Niederlegung des Wahlmandats und Pflichtverteidigerbeiordnung zu begegnen.» (Seite 534)
EGMR – Vier neue Richter und der künftige Kanzler in den EGMR gewählt: Armen Harutyunyan (Armenier), Mārtiń Mits (Lette), Georges Ravarani (Luxemburger) und Stéphanie Mourou-Vikström (Monegassin) / Kanzler: Roderick Liddell (Brite).
Liste der Regierung von Aserbaidschan wegen Ungeeignetheit aller drei Kandidaten für das Richteramt zurückgewiesen. (Seite 544)
EGMR stellt Beschwerde gegen verweigerte Offenlegung der Namen von aus der DDR-Justiz übernommenen Richtern in Brandenburg trotz deren Verbindung zur Staatssicherheit (Stasi) der ehemaligen DDR der Bundesregierung zur Stellungnahme zu / Saure gegen Deutschland
Die Fragen an die Parteien lauten: «(1.) Liegt ein Eingriff in das Recht des Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung vor, insbesondere in sein Recht aus Art. 10 Abs. 1 der Konvention, Informationen zu empfangen?
(2.) Für den Fall, dass dem so ist, war dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen, verfolgte der Eingriff ein oder mehrere legitime Ziele und war er i.S.v. Art.10 Abs. 2 „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“?» (Seite 546)