EuGRZ 1998
30. Juni 1998
25. Jg. Heft 11-12

Informatorische Zusammenfassung

Ludwig Krämer, Brüssel, analysiert und bewertet die Rechtsprechung der EG-Gerichte (EuGH und EuGeI) zum Umweltrecht in den Jahren 1995 bis 1997
Die verschiedenen Bereiche der europäischen Umweltpolitik gliedern sich in: Abfall, Chemikalien, Gewässerschutz, Luftreinhaltung, Naturschutz und Umweltverträglichkeitsprüfung. Zuvor untersucht der Autor die Rechtsgrundlagen der Entscheidungen, die Dauer der Verfahren und Zulässigkeitsprobleme.
Krämer kritisiert in diesem Zusammenhang die Schwierigkeiten für Einzelne, Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht geltend zu machen: «Die Einführung einer Unionsbürgerschaft, die unmittelbaren Wahlen zum Europäischen Parlament durch diese Bürger, die Schaffung einer Währungsunion und die Vollendung des gemeinschaftlichen Binnenmarktes haben die Notwendigkeit, den Bürgern der Gemeinschaft auch Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten zu geben, erheblich verstärkt. Es bleibt widersprüchlich, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor innerstaatlichem Recht zu postulieren, dann aber den Schutz der Bürger durch dieses Gemeinschaftsrecht so gut wie ausschließlich den mitgliedstaatlichen Behörden zuzuweisen. (…)
Darüber hinaus ist es sicherlich erforderlich, erneut zu überlegen, wie und durch wen Entscheidungen der Kommission, finanzielle Unterstützung zu gewähren, auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht überprüft werden können. Mitgliedstaaten und wirtschaftliche Anbieter, die die Unterstützung erhalten, könnten nach Artikel 173 EG-Vertrag vorgehen, haben jedoch wenig oder kein Interesse, dies zu tun, da sie Empfänger oder Nutznießer der Unterstützung sind. Dritte, insbesondere Umweltorganisationen, sind bisher nie als unmittelbar und individuell betroffen angesehen worden. Dieser Zustand ist alles andere als befriedigend.»  (Seite 309)
Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR), Straßburg, weist Beschwerde eines Elternpaares und dessen beider Kinder gegen Aktivitäten der bayerischen Schulbehörde zur Bekämpfung der Scientology-Organisation mangels direkter Betroffenheit als unzulässig ab
Im Fall Keller gegen Deutschland stellt die EKMR fest, «daß der beanstandete Artikel [in der Zeitschrift „Schulreport“ vom April 1996] Informationen über Scientology und Mitglieder dieser weltweiten Organisation im allgemeinen enthält und sich nicht auf eine bestimmbare, dieser Organisation angehörende Person bezieht. Die Bf. verweisen zwar auf die negative Einstellung ihrer Umgebung und der Lokalpresse ihnen gegenüber, jedoch ist die Kommission der Auffassung, daß sich in den Akten keine Anhaltspunkte dafür finden lassen, daß diese Haltung das Ergebnis der über Scientology verbreiteten Information, insbesondere des beanstandeten Artikels ist. Die Kommission ist daher der Auffassung, daß die Auswirkungen der angegriffenen Maßnahmen zu indirekt und zu entfernt sind, als daß sie die Rechte der Bf. aus Artikel 9 der Konvention berühren würden.
Darüber hinaus gibt es in den Akten keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Kinder der Bf. zu 1.) und 2.) im Schulunterricht jemals mit dem beanstandeten Artikel konfrontiert wurden oder daß sie Gefahr laufen, einer Indoktrinierung ausgesetzt zu sein, die als nicht die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern achtend anzusehen wäre.»  (Seite 321)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erklärt krasse Ungleichbehandlung kleiner Parteien bei staatlicher Wahlkampfunterstützung für verfassungswidrig
Das BGer bestätigt seine Rechtsprechung, nach der Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot Bestandteil des ungeschriebenen Bundesverfassungsrecht der Stimm- und Wahlfreiheit sind. Die staatsrechtliche Beschwerde der Evangelischen Volkspartei (EVP) des Kantons Freiburg wird insoweit gutgeheißen, als sie sich dagegen wendet, von der Rückerstattung der Druckkosten für Wahllisten bei den Gesamterneuerungswahlen für den Großen Rat am 17. November 1996 ausgeschlossen worden zu sein. Den gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststimmenanteil von 7,5% hält das BGer für zu hoch und spricht sich für 1% der Listenstimmen als angemessene Schranke aus.
Den Ausschluß der beschwerdeführenden Partei von der teilweisen Erstattung der Wahlkampfkosten beanstandet das BGer nicht, weil die EVP inihren besten Wahlbezirken unter 2% der Stimmen und, bezogen auf das gesamte Gebiet des Kantons Freiburg, unter 0,5% der Stimmen erlangt hatte. Allerdings wird der kantonale Gesetzgeber zu bedenken haben, daß die gegenwärtige Regelung, derzufolge Wahlkampfkostenerstattung nur eine Partei beanspruchen kann, die im Großen Rat mit 130 Sitzen mindestens 5 Mandate erlangt hat, vom BGer für verfassungswidrig erachtet wird.  (Seite 323)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, wertet computergestützte Überwachung und Ausführung fristgerechter Zahlung von Patent-Aufrechterhaltungsgebühren als neuen rechtsberatungsfreien Beruf
«Unterstützt durch elektronische Datenverarbeitung können Personen ohne entsprechende Vorbildung solche Aufgaben wahrnehmen, vor allem wenn Daten gesammelt werden, und anhand dieser Daten Massengeschäfte aus eng abgrenzbaren Bereichen schematisiert abgewickelt werden können, weil die rechtlichen Grundlagen eindeutig sind und keine Ausnahmen kennen. In solchen Fällen ist für Anbieter und Nachfrager keine individuelle Beratung und kein Eingehen auf den Einzelfall erforderlich. Ob eine Beratung und Vertretung des Patentinhabers stattfindet, hängt nicht davon ab, ob auch Anwälte auf diese Weise tätig werden und hierfür Gebühren berechnen dürfen. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob die tatsächlich wahrgenommene Aufgabe eine substantielle Rechtsberatung erfordert. Letzteres ist hier nicht der Fall.»  (Seite 330)
BVerfG hält die Durchbrechung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots zur Verhinderung des Unterlaufens regierungsamtlich angekündigter und vom Parlament noch zu beschließender Streichung von Steuervergünstigungen (hier: Sonderabschreibungen bei Schiffen) für verfassungskonform
«Zwingende Gründe des gemeinen Wohls rechtfertigen hier eine Durchbrechung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots. Die weitere Schiffbausubvention war nach Einschätzung der Bundesregierung wirtschaftlich unsinnig und sollte deshalb aufgegeben werden. Die Bundesregierung war entschlossen, die Sonderabschreibungen alsbald entfallen zu lassen. Das rechtsstaatliche Gesetzgebungsverfahren erfordert aber eine gewisse Zeitdauer. Diese kann von den Steuerpflichtigen genutzt werden, um den bisherigen Subventionstatbestand noch vor dem Beschluß über die Änderung des Subventionsgesetzes zu erfüllen und damit dem drohenden Wegfall der Subvention zuvorzukommen. Deshalb benötigt der Gesetzgeber zur Verwirklichung des gemeinen Wohls einen Gestaltungsraum, um aufgetretenen Mißständen einer Gesetzeslage alsbald abzuhelfen, ohne daß Dispositionen der Gesetzesadressaten die Neuregelung kurz vor ihrem Erlaß durch Ausnutzung der bisherigen Regelung unterlaufen können. (…)
Das gesetzliche Angebot von Steuersubventionen ist keine durch Einsatz von Arbeit oder Kapital erworbene Rechtsposition und folglich kein Eigentum i.S. des Art. 14 Abs. 1 GG.»  (Seite 337)
BVerfG stärkt Grundrechtsschutz privater Rundfunkanbieter bei Bewerbung um Rundfunklizenz
«Die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG steht als Gewährleistung der Programmfreiheit allen Veranstaltern von Rundfunkprogrammen zu. Die privaten Rundfunkanbieter sind auch im Geltungsbereich des bayerischen Medienrechts Träger des Grundrechts der Rundfunkfreiheit. Auf das Grundrecht der Rundfunkfreiheit können sich auch Bewerber um eine Rundfunklizenz im Zulassungsverfahren vor der Landesmedienanstalt berufen.»  (Seite 343)
BVerfG bestätigt seine Rechtsprechung zum fortwirkenden effektiven Rechtsschutz gegenüber richterlicher Durchsuchungsanordnung trotz prozessualer Überholung
Die 1. Kammer des Ersten Senats gibt den Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der Durchsuchung von Räumen einer Fernseh- und einer Tageszeitungs-Redaktion in Bremen nach einem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Bericht des Landesrechnungshofes statt: «Gemäß §§ 304 ff. StPO ist gegen die richterliche Durchsuchungsanordnung ebenso wie gegen den Beschlagnahmebeschluß die Beschwerde statthaft. Die Zulässigkeit einer solchen Beschwerde ist vom angerufenen Fachgericht unter Beachtung der dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beurteilen. Danach darf die Beschwerde nicht allein deswegen, weil die richterliche Anordnung vollzogen sei und die Maßnahme sich deshalb erledigt habe, unter dem Gesichtspunkt prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden. Bei Durchsuchungen von Wohn- oder Redaktionsräumen ist vielmehr schon wegen des Gewichts des Eingriffs in das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 sowie des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ein Rechtsschutzinteresse des Betroffenen zu bejahen.»  (Seite 349)
BVerfG verneint verfassungsmäßigen Anspruch auf ein bestimmtes Beweismittel (hier: Lügendetektor)
Die 2. Kammer des Zweiten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde eines Bf. nicht zur Entscheidung an, der wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden war und glaubte, durch ein Gutachten eines Sachverständigen zu den Ergebnissen einer auf seinen Wunsch an ihm vorgenommenen polygraphischen Untersuchung sich entlasten zu können.  (Seite 351)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, nimmt zu Orientierungsrichtlinien für die Aushandlung neuer Kooperationsabkommen mit den Ländern Afrikas, des karibischen Raums und des Pazifischen Ozeans (AKP-Länder) Stellung
Das EP weist nachdrücklich auf seinen Standpunkt hin, «daß die Unterstützung und der Schutz der universellen Menschenrechte, wie sie in den völkerrechtlichen Abkommen von Wien, Kopenhagen und Peking verankert sind, und insbesondere die Rechte der Frau die Grundlage für die AKP-EU-Zusammenarbeit darstellen sollten»; und es bekräftigt seinen Vorschlag an die Kommission, «Bestimmungen in das Abkommen aufzunehmen, die die Beschränkung und Kontrolle des Waffenverkaufs vorsehen; sie könnte sich dabei von dem von der britischen Regierung vorgeschlagenen Verhaltenskodex leiten lassen; [das EP weist ferner darauf hin,] daß viele AKP-Staaten für eine wirksame Kontrolle des Waffenhandels Hilfe von außen benötigen werden.» Schließlich spricht sich das Parlament für die schrittweise Budgetisierung des Europäischen Entwicklungsfonds aus, d.h. die finanziellen Aufwendungen für die Kooperationsabkommen sollen nicht mehr in einem Sonderhaushalt geführt, sondern im allgemeinen Haushalt beschlossen und parlamentarisch kontrolliert werden.   (Seite 353)
Michel Rocard führt in seinem AKP-Bericht u.a. aus: «Mit der Entscheidung, seine Beziehungen zu den AKP-Ländern fortzuführen und sie einer Wandlung zu unterziehen, nimmt Europa einen Vorgriff auf die multipolare Welt von morgen vor.»   (Seite 359)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, hat über die Gerichtsqualität der Unabhängigen Verwaltungssenate in Österreich zu entscheiden
Im Ausgangsverfahren, das die HI / Hospital Ingenieure Krankenhaustechnik Planungs-Gesellschaft mbH gegen die Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft in Kärnten wegen eines nicht erteilten Auftrags bei der Errichtung eines Kinderkrankenhauses in Klagenfurt angestrengt hat, geht es u.a. um die Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie (hier: RL 92/50/EWG des Rates über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge) und um die Frage, ob der Unabhängige Verwaltungssenat für Kärnten die in dieser Vorschrift niedergelegten Anforderungen an eine mit der Durchführung von Nachprüfungsverfahren bei der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge betraute Instanz erfüllt. Die mündliche Verhandlung hat am 17. Juni stattgefunden. Ein Verkündungstermin steht noch nicht fest.  (Seite 368)