EuGRZ 2000 |
1. August 2000
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27. Jg. Heft 9-10
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Informatorische Zusammenfassung
Ludwig Krämer, Brüssel, setzt seine Kommentierung der Rechtsprechung der EG-Gerichte zum Umweltrecht für die Jahre 1998 und 1999 fort
Zunächst untersucht der Autor die Bedeutung der verschiedenen Rechtsgrundlagen sowie die Dauer der Verfahren vor der Kommission und den EG-Gerichten. Materiellrechtlich gliedert er in Gewässerschutz, Luftreinhaltung, Naturschutz, Abfallbewirtschaftung, Chemikalien, Lärm, Umweltverträglichkeitsprüfung und allgemeine Fragen. Im Anhang folgt ein Überblick über die wichtigsten Maßnahmen der Gemeinschaft zum Umweltschutz 1998/99.
Herausgehoben sei die Kritik des Autors an EuGeI und EuGH, die Anwohner-Klage gegen den Bau zweier, von der Gemeinschaft subventionierter, Elektrizitätswerke auf den Kanarischen Inseln ohne die vom Gemeinschaftsrecht vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsprüfung mangels unmittelbarer Betroffenheit der Kläger als unzulässig zurückzuweisen:
«Ich halte die Entscheidung für rechtlich unrichtig und rechtspolitisch für bedauerlich. Rechtlich ist zunächst klarzustellen, dass die spanischen Behörden vor der Genehmigung des Baus der Elektrizitätswerke eine Umweltverträglichkeitsprüfung hätten durchführen müssen. (…) Die Kläger behaupteten jedenfalls im Verfahren vor den europäischen Gerichten, als Anwohner betroffene Öffentlichkeit zu sein. Damit erfüllten sie auf den Punkt das Erfordernis, aus dem Kreis aller übrigen Personen herausgehoben und anders, nämlich intensiver, von dem Bau der Elektrizitätswerke betroffen zu sein. (…) Da Spanien nach dem Vorbringen der Kläger eine solche Umweltverträglichkeitsprüfung nicht durchgeführt hatte, hätte die Kommission die Vorhaben nicht finanzieren dürfen. (…)
Rechtspolitisch ist das Urteil bedauerlich, weil es verhindert, dass die Finanzierung von umweltpolitisch und umweltrechtlich zweifelhaften Großprojekten durch die Kommission durch irgend jemand gerichtlich nachgeprüft wird.» (Seite 265)
Marius Baum, London / Hofheim a.Ts., stellt die Inkorporierung der EMRK in das nationale Recht des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland in rechtshistorische, dogmatische und politische Zusammenhänge
«Rights brought home» – unter diesem Stichwort bildet die Arbeit drei Schwerpunkte m.z.w.N.: (I) Individuelle Freiheit in der klassischen Theorie der englischen Verfassung; (II) Die Rechtsprechung zur EMRK vor Verabschiedung des Human Rights Act (HRA) 1998 und (III) die Besonderheiten des am 2. Oktober d.J. in Kraft tretenden Gesetzes.
Baum zieht u. a. folgendes Fazit: «Der Vorteil der von der Regierung gewählten Umsetzungstechnik liegt darin, daß die englische Verfassung uneingeschränkt im common law verankert bleibt. Auf diese Weise ist es gelungen, in das englische Recht eine Garantie fundamentaler Rechte einzufügen, ohne – jedenfalls theoretisch – die Sovereignty of Parliament zu beschränken. Zweifelsfrei stärkt der HRA 1998 so die Position der bereits in den vergangenen Jahren selbstbewußter aufgetretenen Richter im Interesse des Schutzes individueller Freiheit. (…)
Nochmals hervorzuheben ist das Erfordernis von section 19 HRA, wonach das Parlament – d. h. die von der Mehrheitsfraktion getragene Regierung – sich künftig ggf. offen zum Verstoß gegen Konventionsrechte bekennen muß. In Anlehnung an die Diceysche Verfassungslehre läßt sich hierzu sagen, daß der HRA 1998 einen Regelungsmechanismus verfolgt, der die externen Grenzen der rechtlich unbegrenzten legislativen Macht des Parlaments wirksamer machen kann. So wird deutlich, daß die englische Verfassung hinsichtlich des Schutzes von Menschenrechten bei ihrer klassischen Grundannahme bleibt, nach der die Garantie individueller Freiheit letzten Endes alleine in der Verantwortung der Gesellschaft ruht, und sie wird auf diese Weise nicht grundlos modernen Strömungen geopfert.» (S. 281)
Christian Walter, Heidelberg, würdigt rechtsvergleichend die vom französischen Verfassungsrat festgestellten Hindernisse bei der Ratifikation des Statuts von Rom über die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs
Rechtspolitisch zusammenfassend hebt Walter folgendes hervor: «Die Entscheidungen des Verfassungsrats zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und zum Vertrag von Amsterdam, bei denen jeweils neben dem Präsidenten auch der Premierminister das Verfahren eingeleitet hat, zeigen, daß diese Form verfassungsgerichtlicher Kontrolle im Vorfeld einer Ratifikation weniger ein Instrument der politischen Opposition darstellt, mit dem diese von ihr abgelehnte Projekte der Regierung bekämpft. Vielmehr handelt es sich um ein im allseitigen Interesse betriebenes Verfahren, mit dem die Übereinstimmung des nationalen Verfassungsrechts mit völkerrechtlichen Verpflichtungen sichergestellt wird. In dem Maße, in dem der Einfluß völkerrechtlicher Verträge auf zentrale Verfassungsprinzipien (wie etwa in Frankreich das Souveränitätsprinzip oder der Grundsatz der Unteilbarkeit der Republik) steigt, wächst das Bedürfnis nach einem solchen Verfahren zur Harmonisierung von beabsichtigten völkerrechtlichen Verpflichtungen und bereits bestehenden verfassungsrechtlichen Bindungen. In der zunehmenden Anwendung des Verfahrens nach Art. 54 der Verfassung findet die Anpassung der französischen Verfassungsordnung an die Anforderungen der Globalisierung einen sichtbaren Ausdruck.» (Seite 303)
Übersetzung der besprochenen Entscheidung s.u. S. 319 ff.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sieht in ausschließlich lokalem Zweisprachigkeits-Nachweis in der deutschsprachigen Provinz Bozen (Italien) als Bewerbungsvoraussetzung für Sparkassen-Stelle einen Verstoß gegen EG-Freizügigkeit / Rs. Angonese
Das 1919 in der Folge des ersten Weltkriegs von Österreich zu Italien gekommene Südtirol genießt ein im europäischen Vergleich beachtliches Maß an Autonomie. Die Bedingungen für den Erwerb der im Ausgangsverfahren strittigen Zweisprachigkeits-Bescheinigung dienen nach Einschätzung des vorlegenden Gerichts, der Pretura Bozen, offensichtlich der Privilegierung der ständig Ortsansässigen.
Der EuGH stellt u. a. fest: «[Daher] kann es zwar legitim sein, von einem Bewerber um eine Stelle Sprachkenntnisse eines bestimmten Niveaus zu verlangen, (…), es muß aber als in bezug auf das angestrebte Ziel unverhältnismäßig angesehen werden, wenn es unmöglich ist, den Nachweis dieser Kenntnisse auf andere Weise, insbesondere durch andere in anderen Mitgliedstaaten erlangte gleichwertige Qualifikationen, zu erbringen.» (Seite 306)
EuGH qualifiziert Bevorzugung von Aktionären inländischer Unternehmen bei der Dividendenbesteuerung in den Niederlanden als Behinderung des freien Kapitalverkehrs / Rs. Verkooijen
Dem Argument, die umstrittene Regelung sei durch die Absicht gerechtfertigt, die Wirtschaft des Landes zu fördern, hält der EuGH entgegen:
«Dem ist nicht zu folgen. Nach ständiger Rechtsprechung kann ein rein wirtschaftliches Ziel keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen könnte.» (Seite 309)
EuGH bekräftigt Vorlagepflicht eines nationalen Gerichts bei Unregelmäßigkeiten im nationalen Teil des Genehmigungsverfahrens für die Freisetzung genetisch veränderter Organismen (hier: Mais in Frankreich) / Rs. Greenpeace France
«Der gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Rechtsschutz umfaßt in den Fällen, in denen die verwaltungsmäßige Durchführung einer Gemeinschaftsentscheidung nationalen Behörden obliegt, das Recht der Bürger, vor dem nationalen Gericht die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung inzident zu bestreiten und zu beantragen, den Gerichtshof im Vorlageverfahren zur Prüfung der Gültigkeit dieser Entscheidung zu befassen. In einem solchen Fall ist allein der Gerichtshof befugt, die Ungültigkeit einer Gemeinschaftshandlung festzustellen. (Seite 314)
Verfassungsrat, Paris, definiert essentielle Bedingungen der Ausübung nationaler Souveränität und die Komplementarität zwischen Ständigem Internationalem Strafgerichtshof und innerstaatlicher Strafgerichtsbarkeit
Nach der vom Verfassungsrat in seiner Entscheidung vom 22.1.99 für notwendig befundenen Verfassungsänderung hat Frankreich das Statut am 9. Juni 2000 ratifiziert. Zu den Einzelheiten siehe den Anmerkungs-Aufsatz von C. Walter, in diesem Heft S. 303 ff. (Seite 319)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt starre vierwöchige Frist der StPO zur Ausführung einer Nichtigkeitsbeschwerde für verfassungswidrig, da sie auch in Extremfällen nicht verlängerbar ist
In dem Erkenntnis heißt es: «Die in Art. 6 Abs. 3 EMRK formulierten Verfahrensgarantien sind in jedem einzelnen Fall zu gewährleisten. Dem Erfordernis einer ausreichenden Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung kann daher nicht damit begegnet werden, daß es sich beim hier in Rede stehenden Strafverfahren um einen besonderen Extremfall [Hauptverhandlungsprotokoll und Urteilsausfertigung jeweils nicht unter tausend Seiten] und damit Einzelfall handelt. (…) Eine (an sich zulässigerweise) am Regelfall orientierte gesetzlicheBestimmung ist vielmehr unter diesen Aspekten auch dann wegen Verstoßes gegen Art. 6 EMRK verfassungswidrig, wenn sie für einen solchen besonderen Extremfall keine Ausnahmemöglichkeit zur Sicherstellung der in Rede stehenden Verfahrensgarantie bereithält.»
Dem Gesetzgeber setzt der VfGH eine Reformfrist bis zum 30. Juni 2001 und eröffnet im konkreten Fall die Möglichkeit zur richterlichen Festlegung einer den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 lit b EMRK genügenden Frist. (Seite 324)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bekräftigt Zusammenwirken von EuGH und nationalem Verfassungsgericht beim Grundrechtsschutz / Bananenmarktordnung
«Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange II-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 [378 bis 381] = EuGRZ 1987, 10 [20 f.]) unter den erforderlichen Standard abgesunken sei.
Deshalb muß die Begründung der Vorlage oder einer Verfassungsbeschwerde im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in BVerfGE 73, 339 (378 bis 381 = EuGRZ 1987, 10 [20 f.]) geleistet hat.»
Im konkreten Fall hat das VG Frankfurt am Main in einem, von 19 Bananen-Importeuren der Atlanta-Gruppe angestrengten, Verfahren das BVerfG im Wege der Richtervorlage mit dem Argument angerufen, die Rechtsprechung des EuGH gewährleiste den Grundrechtsschutz der Klägerinnen im Bereich des Marktordnungsrechts nicht.
Der Zweite Senat des BVerfG erklärt die Vorlage einstimmig für unzulässig: «Die Begründung der Vorlage verfehlt die besondere Zulässigkeitsvoraussetzung bereits im Ansatz, weil sie auf einem Mißverständnis des Maastricht-Urteils beruht. Das vorlegende Gericht meint, das Bundesverfassungsgericht übe seine Prüfungsbefugnis nach dem Maastricht-Urteil entgegen der Solange II-Entscheidung ausdrücklich wieder aus, wenn auch in Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof. Diese Aussage kann dem Maastricht-Urteil nicht entnommen werden.»
Der Senat geht auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH sowie auf einen Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats ein und kommt zu dem Schluß: «Der Europäische Gerichtshof hat die aus der Eigentumsgewährleistung folgende Notwendigkeit einer vorläufigen Härteregelung ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht beurteilt. Beide Entscheidungen verdeutlichen damit ein Ineinandergreifen des gerichtlichen Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene durch nationale Gerichte und Gerichte der Gemeinschaft.» (Seite 328)
Europarat – Rußland: Drei Beamte des Europarats haben Mitte Juni die vertraglich vereinbarte Arbeit (EuGRZ 2000, S. 188 Ziff. 2) im „Büro des Sonderbeauftragten des russischen Präsidenten für Menschenrechte in Tschetschenien“ aufgenommen. (Seite 334)
EGMR-Präsident Luzius Wildhaber kündigt wegen ständig wachsender Überlastung des Gerichthofs für die Anfang November zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der EMRK in Rom geplante Justizministerkonferenz ein Krisen-Memorandum an. Außerdem solle der Europarat einen „Rat der Weisen“ einsetzen, um die Reformen einzuleiten, die für eine effektive Bewältigung der Aufgaben des EGMR notwendig sind. (Seite 334)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, stellt Beschwerde einer deutschen Reederei gegen alle 15 EU-Staaten wegen Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch die EG-Gerichte zu / Senator Lines ./. EU-Staaten
Die Beschwerdeführerin (Bf.), eine GmbH mit Sitz in Bremen, ist 1994 aus einer Fusion der Senator Linie GmbH in Bremen (Nordseehafen) mit der im ca. 400 km entfernten Rostock (Ostseehafen) ansässigen Deutschen Seereederei Rostock, die auf ein früheres Staatsunternehmen der DDR zurückgeht, entstanden.
Sie rügt eine Verletzung von Art. 6 und 13 EMRK (faires Verfahren, Unschuldsvermutung, rechtliches Gehör), weil ihr bei einer Klage gegen die EG-Kommission wegen einer Kartell-Geldbuße in Höhe von 13,75 Mio. Euro weder EuGeI noch EuGH vorläufigen Rechtsschutz gewährt haben. Die Bf. argumentiert, die von der EG-Kommission betriebene sofortige Vollstreckung zwinge sie wegen der Unmöglichkeit, eine Bankbürgschaft beizubringen oder ihre Gesellschafter zu finanzieller Hilfe zu veranlassen, vor Abschluß des Hauptverfahrens in den Konkurs – und zwar ohne daß ein Gericht über die Stichhaltigkeit der von der EG-Kommission gegen die Bf. erhobenen Vorwürfe und über die Rechtmäßigkeit der festgesetzten Strafe entschieden hätte.
Die Entscheidung des EGMR (3. Sektion) vom 4. Juli 2000, die Beschwerde den Regierungen der 15 EU-Staaten zuzustellen, ist keine Zulässigkeitsentscheidung. Die Regierungen haben üblicherweise 12 Wochen Zeit, um schriftlich Stellung zu nehmen. Die Bf. kann erwidern, bevor über die Zulässigkeit und ggf. über das weitere Verfahren entschieden wird. (Seite 334)