EuGRZ 2003
14. Juli 2003
30. Jg. Heft 11

Informatorische Zusammenfassung

Der EU-Verfassungsvertrag / Entwurf i.d.F. von Thessaloniki besteht aus drei Teilen und drei Protokollen
Das abschließende Dokument des Verfassungskonvents wurde von dessen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing am 20. Juni 2003 dem Europäischen Rat auf seiner Tagung in Thessaloniki übergeben.
Konkret sind dies Teil I (Präambel, Art. I-1 bis I-59) mit den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Union, Teil II (Präambel, Art. II-1 bis II-54) mit der leicht modifizierten Charta der Grundrechte und die drei Protokolle zur (1) Rolle der nationalen Parlamente in der Union, zur (2) Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit und zur (3) Vertretung der Bürger im EP und Stimmengewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat mit einer beigefügten Erklärung über den gemeinsamen Standpunkt im Hinblick auf Beitrittskonferenzen mit Rumänien und/oder Bulgarien. (Seite 357)
Teil III über Politikfelder und Funktionsweise der Union soll vom Konvent bis zum 15. Juli abgeschlossen und dann den Staats- und Regierungschefs im Nachgang zu Thessaloniki zugestellt werden. Die EuGRZ wird den Text in einem der nächsten Hefte dokumentieren.
Das Europäische Parlament hat im Hinblick auf die für Mitte Oktober in Rom geplante Eröffnung der Regierungskonferenz eine ausführliche Stellungnahme zum Verfassungsentwurf bereits für seine September-Sitzung auf die Tagesordnung gesetzt. Co-Berichterstatter sind José Maria Gil-Robles (EVP-Fraktion) und Dimitris Th. Tsatsos (Sozialistische Fraktion).
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Die Präambel zu Teil I begreift den Kontinent Europa einleitend als einen «Träger der Zivilisation“, dessen Bewohner «im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltungder Vernunft.» (Seite 358)
Zu dem der Präambel vorangestellten Thukydides-Zitat cf. die Quellen-Nachweise am Ende der Informatorischen Zusammenfassungen dieses Heftes.
Teil I behandelt Definition und Ziele der Union (Titel I), Grundrechte und Unionsbürgerschaft (II), Zuständigkei ten (III), Organe (IV), Ausübung der Zuständigkeiten (V), das demokratische Leben der Union (VI), Finanzen (VII), das Verhältnis zu den Nachbarn (VIII) und die Bedingungen für die Zugehörigkeit zur Union (IX). (Seiten 358-368)
Titel I: Definition und Ziele der Union
Die Union definiert sich über ihre Werte und Ziele (Art. I-2 und I-3). Sie hat in ihrer Gesamtheit wie bislang nur die EG als erste Säule der EU Rechtspersönlichkeit (Art. I-6), achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten sowie deren grundlegende Funktionen (Wahrung der territorialen Unversehrtheit, der öffentlichen Ordnung, Schutz der inneren Sicherheit) und verpflichtet sich und die Mitgliedstaaten auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. I-5).
Als Werte werden genannt: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte in einer Gesellschaft von Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung (Art. I-2).
Das erste Ziel der Union ist es, «den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern» (Art. I-3).
Titel II: Grundrechte und Unionsbürgerschaft
Der Grundrechte-Artikel (Art. I-7) gliedert sich in drei Elemente: Verweis auf die Grundrechte-Charta als integralen Bestandteil der EU-Verfassung; Ziel des Beitritts der EU zur EMRK [vgl. hierzu die Anmerkung d. Red. in diesem Heft auf S. 388] und der ausdrückliche Bezug auf die Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehörend.
 Titel III: Zuständigkeiten der Union
Der Entwurf unterscheidet zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten, Maßnahmen zur Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, umreißt die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, nennt Möglichkeiten für Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen und umfasst eine, mit mehrfachen Kautelen versehene, Flexibilitätsklausel zur Erweiterung der für die Erreichung der verfassungsmäßigen Ziele ggf. erforderlichen Befugnisse.
 Titel IV: Organe
Hervorzuheben ist: Die Anzahl der Mitglieder des EP wird auf 736 begrenzt (Art. I-19). Der Europäische Rat tritt vierteljährlich zusammen und wird nicht gesetzgeberisch tätig. Ihm gehören neben den Staats- und Regierungschefs der (neue) Präsident des Europäischen Rates und der Präsident der Kommission an (Art. I-20). Der Präsident des Europäischen Rates wird mit qualifizierter Mehrheit auf zweieinhalb Jahre gewählt, kann einmal wiedergewählt und nach demselben Verfahren wie bei der Wahl im Falle schwerwiegender Hinderungsgründe oder Verfehlungen abberufen werden (Art. I-21).
Ferner werden in diesem Titel die Mehrheitsregeln (doppelte Mehrheit der Staaten und der Bevölkerung, Art. I-24), Zusammensetzung und Aufgaben des Ministerrats, der Kommission, des Gerichtshofs, der Zentralbank, des Rechnungshofs, des Ausschusses der Regionen sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses festgeschrieben.
Der (ebenfalls neue) Außenminister der Union wird vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit und mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt, er ist zugleich einer der Vizepräsidenten der Kommission (Art. I-27), deren Amtszeit fünf Jahre beträgt, und stellt sich zusammen mit den übrigen Mitgliedern dem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments (Art. I-26).
 Titel V: Ausübung der Zuständigkeiten
Als gemeinsame Bestimmungen
werden in Kapitel I die Rechtsakte der Union definiert und im einzelnen beschrieben: Europäisches Gesetz, Europäisches Rahmengesetz, Europäische Verordnung, Europäischer Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme (Art. I-32 ff.).
Als besondere Bestimmungen enthält Kapitel II die Vorschriften zur Durchführung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. I-39), der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Art. I-40), zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. I-41) sowie eine Solidaritätsklausel bei Terroranschlägen oder Ka tastrophen (Art. I-42).
Das für einige Staaten heikle Thema der verstärkten Zusammenarbeit, ist in Kapitel III geregelt (Art. I-43): «Die Ermächtigung zur Einleitung einer verstärkten Zusammenarbeit wird vom Ministerrat als letztes Mittel gewährt, wenn im Ministerrat festgestellt worden ist, dass die mit ihr angestrebten Ziele von der Union insgesamt nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können, und sofern an der Zusammenarbeit mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligt ist.»
 Titel VI: Das demokratische Leben der Union
Dazu gehören u. a. die Grundsätze der demokratischen Gleichheit, der repräsentativen und partizipativen Demokratie, die Autonomie der Sozialpartner, der Schutz personenbezogener Daten und der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften.
Titel VII
regelt die Haushalts- und Finanzgrundsätze, Titel VIII die besonderen Beziehungen zu den Nachbarstaaten der Union, Titel IX die Kriterien und Verfahren für den Beitritt zur Union, die Sanktion der Aussetzung der mit der Zugehörigkeit zur Union verbundenen Rechte und die Modalitäten für einen Austritt aus der Union.
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Die in Teil II enthaltene Charta der Grundrechte der Union entspricht im wesentlichen der in Nizza verkündeten Fassung (EuGRZ 2000, 554 ff. mit Erläuterungen). Umformulierungen bzw. Änderungen betreffen in einer Vielzahl von Artikeln vor allem den Begriff „Person“, der durch „Mensch“ ersetzt wird (in Art. II-48: Angeklagter), und den Begriff „Gemeinschaft“, der durch „Union“ ersetzt wird. Art. II-51 betrifft den Anwendungsbereich. Art. II-52 (Tragweite und Auslegung) wird um drei Absätze ergänzt. (Seite 369)
Drei Protokolle werden der «Verfassung als Anhang beigefügt»: Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Union (Seite 373), Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Seite 374), Protokoll über die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger im Europäischen Parlament und die Stimmengewichtung im Europäischen Rat und im Ministerrat (Seite 375) mit einer Erklärung über einen gemeinsamen Standpunkt im Hinblick auf Beitrittskonferenzen mit Rumänien und/oder Bulgarien (Seite 376).
Europäischer Rat, Thessaloniki, nimmt zu folgenden Problemkreisen Stellung: Konvent, Regierungskonferenz, Grenz- und Asylfragen, Erweiterung, Zypern, Balkanstaaten, neue Nachbarstaaten, auswärtige Beziehungen, Terrorismusbekämpfung und Massenvernichtungswaffen. (Seite 376)
Unabhängigkeit des EGMR als Voraussetzung für den Beitritt der EU zur EMRK / Anmerkung d. Red. zu Art. I-7 Abs. 2 EU-Verfassungsentwurf
«In der weiteren Verfassungsdebatte sollte das EP darauf bestehen, dass der Europarat – als Voraussetzung für den Beitritt der EU zur EMRK – die volle Unabhängigkeit des EGMR nachzuweisen hat. (…) Andernfalls geriete durch die Unterwerfung der EU unter einen (durch den Generalsekretär des Europarats) partiell fremdbestimmten und – wegen des vergleichsweise minderen Status seiner Richter – qualitätsgefährdend geschwächten EGMR das bislang rechtlich stabile Loyalitätsgefüge der Union in Gefahr.» (Seite 388)
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Thukydides-Zitat in der Präambel von Teil I (o. S. 358)
Auf Initiative des Konventspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing wurde der Präambel von Teil I des Verfassungsentwurfs ein Zitat aus dem „Peloponnesischen Krieg“ des griechischen Geschichtsphilosophen Thukydides vorangestellt: «Die Verfassung, die wir haben … heißtDemokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.»
Entnommen dem II. Buch, 37. Kapitel, Rede des Perikles auf die Gefallenen, gehalten im Winter 331/330 v. Chr.
 In deutscher Sprache ist das Werk, herausgegeben und übersetzt von Georg Peter Landmann, in ansprechender Aufmachung bei Artemis und Winkler in der Reihe „Bibliothek der alten Welt“ erschienen. Dem Text des Thukydides hat Landmann ein Nachwort beigegeben, in dem er die Dimension des Autors und seiner Zeit entstehen lässt. Es folgen Erläuterungen zum besseren Verständnis einzelner Textstellen, ein Register historischer und mythischer Personen, der erwähnten Götter, Tempel und Feste sowie der Orte und Völker. Oktav-Format, 644 Seiten, Hardcover, Preis: 29.90 Euro. Bestell-Adresse: Am Wehrhahn 100, D-40211 Düsseldorf. ISBN 3-7608-4103-1. Im Miniformat (Klatsche) findet sich die Stelle in Band 331 des Bange-Verlags, Preis: 1.60 Euro, Marienplatz 12, D-96142 Hollfeld.
 Das griechische Original (Auswahl) ist bei Schöningh im Westermann Schulbuchverlag erschienen, ISBN 3-14-012713-8. Empfehlenswert ist auch das dazugehörige Heft mit Erläuterungen von Mosler und Stops wegen seiner Erklärungsdichte, ISBN 3-14-012813-4; beide Hefte zusammen 345 Seiten, Oktav, broschiert, Preis: 21,20 Euro. Bestelladresse: VSB Verlagsservice Braunschweig, Georg-Westermann-Allee 66, D-38104 Braunschweig.