EuGRZ 2004 |
6. August 2004
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31. Jg. Heft 13-15
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Informatorische Zusammenfassung
Deutsch-Französischer Gesprächskreis für Öffentliches Recht will dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis der unterschiedlichen Rechtsdiskurse zu vertiefen
„Gemeinsam über aktuelle Fragestellungen nachzudenken, mit denen die beiden Rechtssysteme auf den verschiedenen Gebieten des öffentlichen Rechts konfrontiert sind”, sehen die Professoren Olivier Jouanjan und Johannes Masing als Aufgabe. Dem Europarecht und seinem Einfluss auf die nationalen Rechtsordnungen werde Rechnung getragen, theoretische wie dogmatische Perspektiven seien gleichermaßen aufzugreifen – schreiben die beiden Initianten in dem Vorwort zu den vier Beiträgen der Gründungsveranstaltung 2002 in Straßburg.
(Seite 361)
Olivier Jouanjan, Straßburg/Freiburg i.Br., stellt sich aus französischer Sicht der Frage: Braucht das Verfassungsrecht eine Staatslehre?
Nach der Feststellung, dass es in Frankreich an einer eigenständigen Fachrichtung „Allgemeine Staatslehre“ fehlt, legt der Autor dar, «dass der Grund dieses Fehlens wohl in einer allgemeinen anti-deutschen Haltung zu suchen ist, die in den 30er Jahren eine „französische“ Weise, Verfassungsrecht zu begreifen, geprägt hat. In dieser französischen Sicht bildete die allgemeine Staatslehre einen methodisch kaum abgesicherten Fremdkörper, der einer grundsätzlichen Kritik unterzogen werden muss. Eine neuere starke Strömung will die allgemeine Staatslehre sogar ganz aus dem Verfassungsrecht verbannen».
U.a. gelangt der Beitrag zu der Frage, ob ein durch den Richter gesprochenes Verfassungsrecht von der Notwendigkeit einer Staatslehre entbindet:
«Man wird diese Frage bejahen, wenn man den Gegenstand der Disziplin nur darin sieht, Äußerungen des Richters zu beschreiben. Wenn hingegen der wissenschaftliche Zugriff auf Entscheidungen über die Auslegung zur Erforschung der Stichhaltigkeit von deren expliziten oder impliziten Grundlagen durchdringen soll, also zu einer Kritik der Vorgehensweise des Richters führen soll, dann erscheint es unmöglich, auf eine Theorie zu verzichten. Denn der Richter – man denke hauptsächlich, aber nicht nur an den Verfassungsrichter – entscheidet Streitigkeiten, die eine explizite oder implizite Theorie des Staates, der Verfassung, des politischen Systems, der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft voraussetzen.»
Zu den Anzeichen, dass die Globalisierung auf einen gewissen Verfall des Staates hindeutet, bemerkt Jouanjan: «Man kommt nicht umhin, sich klar zu machen, dass dieses komplexe Phänomen der Globalisierung den Staat in seinen traditionellen Grundelementen „angreift”: der territoriale Rahmen der sozialen Beziehungen wird relativiert, die Bevölkerung wird zu einer unwägbaren Größe, die Staatsgewalt erhält durch die Macht anderer öffentlicher Organismen wie durch die informelle Macht von gesellschaftlichen Gruppen und privaten Netzwerken Konkurrenz.» (Seite 362)
Oliver Lepsius, Bayreuth, schreibt die Problemstellung in einer deutschen Perspektive fort: Von der Staatstheorie zur Theorie der Herrschaftsformen
Zunächst erläutert der Beitrag zwei begriffliche Gegensatzpaare: Einerseits das Verhältnis von Verfassung und Staat, andererseits jenes von Recht und Theorie.
Nach einer Bestandsaufnahme (Was hat die Staatstheorie geleistet?) entwirft der Autor ein Pflichtenheft seiner Alternative, wonach die Theorie der Herrschaftsformen fünf prinzipielle Aspekte behandelt:
«Legitimation, Handlungsformen, Institutionen, Mehrebenen und Freiheit. Damit sind Kriterien entwickelt, die Verfassungsgrundsätze aufnehmen, sie jedoch nicht einfach widerspiegeln, sondern auf einer Theorieebene abstrahieren. Dies bietet die Gewähr dafür, dass die Rezeption im Verfassungsrecht möglich ist. Auch erhielte das Bundesverfassungsgericht jene theoretische Unterstützung und Kritik, die es braucht, weil es durch die richterliche Bindung an die konkreten Rechtsfragen der Einzelfälle nicht als theoretische Instanz wirken darf. Als Instanz theoretischer Reflektion ist das Gericht institutionell unzuständig und ungeeignet. Eine Staatsrechtslehre, die sich nur mit der Verfassungsrechtsprechung beschäftigt, müsste dieses Manko perpetuieren.
Mit einer Theorie der Herrschaftsformen wird hingegen der Gefahr auf eine Verengung auf die Judikatur vorgebeugt, ohne dass der Wissenschaft die Einflusschance auf die Anwendung und Fortbildung des Verfassungsrechts verloren ginge. Die Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit sollte daher nicht als Theoriebremse verstanden werden („Verfassungsgerichtspositivismus”), sondern gerade als Chance begriffen werden. Nur die Wissenschaft, nicht die Judikatur kann Theorieinstanz sein. (…)
Der Beitrag einer rechtlichen Theorie der Herrschaftsformen ermöglicht denjenigen, die an anderen Kontrollformen interessiert sind (Politologen, Soziologen, Ökonomen) die Leistungsfähigkeit des Rechts zu beurteilen und abzuschätzen und daraus Chancen und Grenzen des eigenen Zugriffs auf Herrschaftsverhältnisse aus ihrer disziplinären Perspektive zu erkennen.» (Seite 370)
Gabriel Eckert, Straßburg, lenkt aus französischer Perspektive den Blick auf die Verfolgung öffentlicher Interessen durch Teilnahme des Staates am Wirtschaftsverkehr
«Sicherlich kann man nicht glauben, dass der service public, oder genauer die Unternehmen, denen diese Aufgaben übertragen wurden, stets ein untadeliges Verhalten an den Tag gelegt hätten, indem sie ausschließlich nach einer Befriedigung des Gemeininteresses gestrebt hätten. Dies wäre unbestritten nicht richtig. Es bleibt jedoch, dass sich der service public auf einer grundlegenden Ethik, die des „Maximaldienstes“ (…) gegründet hat, d.h. die Überlegung, dass das Interesse der Benutzer allen anderen Erwägungen vorgeht.
Die gegenwärtige Entwicklung kann diese Erwägungen, indem sie den service public dem Wettbewerb unterwirft, nur zunichte machen. Die Veränderung des Verhaltens der staatlichen Anbieter, deren Tätigkeiten mehr und mehr dem Wettbewerb unterliegen, zeigt dies deutlich. Diese zögern nicht länger, sich wie normale Unternehmen zu verhalten und insbesondere gegenüber ihren Kunden eine ähnliche Preispolitik wie ihre Konkurrenten zu betreiben, die nicht mehr auf eine angemessene und transparente Entschädigung, sondern auf die Verwirklichung eines maximalen Gewinns zielt.
Eine solche Entwicklung bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die ohnehin bröckelnde Solidarität unserer sich mehr und mehr individualisierenden Gesellschaften. Die Sorge um den sozialen Zusammenhalt muss mahnend im Bewusstsein halten, dass sich der Staat nie ganz in den Markt auflösen kann und darf.» (Seite 382)
Johannes Masing, Augsburg, misst die Verfolgung öffentlicher Interessen durch Teilnahme des Staates am Wirtschaftsverkehr an den Kriterien einer deutschen Perspektive
Die Beurteilung der skizzierten Rechtsgrundlagen fällt ambivalent aus. Die große Flexibilität des deutschen Verwaltungsrechts birgt die Chance, «nach Maßgabe politischer Entscheidungen» wirtschaften zu können. Zu den Gefahren der Flexibilität führt Masing u.a. aus:
«Mit der fehlenden Strukturierung geht – und zwar unabhängig noch von den Problemen der Gemeinwirtschaftlichkeit selbst – ein Rationalitätsdefizit einher: Schon die Frage, ob ein Unternehmen nur seinen Primärzweck oder auch andere Gemeinbelange verfolgen soll, braucht im Einzelfall weder entschieden noch reflektiert zu werden. Ob zu verfolgende Gemeinbelange dann nur nach Maßgabe betriebswirtschaftlicher Effizienz oder auch unter Inkaufnahme von Kosten zu berücksichtigen sind, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob und in welcher Form eine politische Einflussnahme auf das Unternehmen stattfindet. Erst recht fehlt es an Festlegungen, welche öffentlichen Interessen zu berücksichtigen sind. Dies kann zu uferlosen Verknüpfungen führen. So bestellte die Deutsche Bahn zur Sicherung von Arbeitsplätzen 5000 Güterwagons, die sie gar nicht brauchte. (…) Das Geschäftsführergehalt einer kommunalen GmbH erklärt sich dann vielleicht weniger durch den Versorgungsauftrag des Unternehmens als durch die Versorgung eines verdienten Parteimitglieds.»
Die Impulse des Europarechts bewertet der Autor als Chance: «Es geht hierbei nicht um die Umsetzung bestimmter Rechtsvorgaben, sondern um eine Fortentwicklung des Verwaltungsrechts, die die europarechtliche Perspektive aufnimmt und verarbeitet. Gerade wenn auch bei den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume bleiben, müssen Schnittpunkte geschaffen werden, an denen sich die Rechtsordnungen an das Bausystem der Europäischen Union anschließen. Diese Schnittpunkte müssen damit auch zwischen den Mitgliedstaaten kompatibel sein: Es ist der Weg zu einer Konvergenz der Rechtsordnungen, die nicht Nivellierung, sondern ein abgestimmtes Ineinander von nationaler und europarechtlicher Gestaltung ermöglicht.» (Seite 395)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, zieht bei Personen im Focus der Regenbogenpresse die Grenzen der Pressefreiheit gegenüber dem Recht auf Achtung des Privatlebens anders als das Bundesverfassungsgericht / Caroline von Hannover gegen Deutschland
Streitpunkt des Ausgangsverfahrens sind heimlich aufgenommene Fotos aus Freizeit und Alltagsleben, gegen deren Veröffentlichung in der deutschen Regenbogenpresse sich die Bf. wehrt. Das BVerfG hatte in einer abgestuften Begründung (EuGRZ 2000, 71) auch unterhaltende Beiträge der meinungsbildenden Funktion der Presse zugeordnet, zumal diese die Meinungsbildung u.U. «sogar nachhaltiger anregen oder beeinflussen als ausschließlich sachbezogene Informationen».
Der EGMR kommt zu dem Ergebnis, «dass bei der Gewichtung des Schutzes des Privatlebens und der Freiheit der Meinungsäußerung als bestimmender Faktor der Beitrag zu gelten hat, den die veröffentlichten Fotos und Artikel zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen. In der vorliegenden Sache ist aber festzustellen, dass ein solcher Beitrag fehlt, weil die Bf. keine offiziellen Funktionen erfüllt und die streitgegenständlichen Fotos und Artikel sich ausschließlich auf Einzelheiten aus ihrem Privatleben beziehen».
«Außerdem hat die Öffentlichkeit dem Gerichtshof zufolge kein legitimes Interesse daran zu erfahren, wo die Bf. sichaufhält und wie sie sich allgemein in ihrem Privatleben verhält, selbst wenn sie sich an Orte begibt, die nicht immer als abgeschieden bezeichnet werden können, auch wenn sie eine bekannte Persönlichkeit ist.
Und selbst wenn ein solches Interesse der Öffentlichkeit bestünde, ebenso wie ein kommerzielles Interesse der Zeitschriften an der Veröffentlichung von Fotos und Artikeln, so haben diese Interessen nach Auffassung des Gerichtshofs im vorliegenden Fall hinter dem Recht der Bf. auf wirksamen Schutz ihres Privatlebens zurückzutreten.» (Seite 404)
In den beiden zustimmenden Sondervoten kommen die Richter Cabral Barreto (Portugiese) und Zupančič (Slowene) zwar zum selben Ergebnis wie die Mehrheit, allerdings mit anderen Begründungen. (Seite 414, 415)
Zu Pressefreiheit und Privatleben cf. die Anm. d. Red. auf S. 416.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, gegen Diskriminierung bei Pfändungsfreigrenzen für Rentenempfänger mit Wohnsitz im EU-Ausland / Rs. Pusa
«Eine nationale Regelung, die bestimmte Inländer allein deshalb benachteiligt, weil sie von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, würde zu einer Ungleichbehandlung führen, die den Grundsätzen widerspräche, auf denen der Status eines Unionsbürgers beruht, nämlich der Garantie der gleichen rechtlichen Behandlung bei der Ausübung seiner Freizügigkeit.»
Allerdings hat der Unionsbürger die Pflicht, behauptete Steuerzahlungen im Gastland (Spanien) seinen Heimatbehörden (Finnland) gegenüber nachzuweisen. (Seite 416)
EuGH bestätigt seine restriktive Rechtsprechung zur Ausweisung von Straftätern aus anderen EU-Staaten / Rsn. Orfanopoulos und Oliveri
Im Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Ordnung und der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheit der Freizügigkeit betont der EuGH die gebotene Prüfung des jeweiligen persönlichen Verhaltens und spricht sich erneut gegen das Kriterium der Generalprävention aus.
Außerdem verweist der EuGH auf die EMRK: «Es steht fest, dass die Entfernung einer Person aus dem Land, in dem ihre nahen Verwandten leben, einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellt, wie es durch Art. 8 EMRK geschützt wird und das zu den Grundrechten gehört, die nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden.“ (Seite 422)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt die von Gemeinderat und Regierungsrat ausgesprochene Ungültigkeit einer in Zürich geplanten Volksinitiative „SchweizerInnen zuerst!”
«Die Initiative kann nur so verstanden werden, dass sie auch ohne sachliche Gründe, die eine Ungleichbehandlung erlauben würden, die Schweizer gegenüber den Ausländern bevorzugen und damit die Letzteren gegenüber den Ersteren benachteiligen will, damit Zürich – gemäss dem Ziel der Initiative – eine schweizerisch geprägte Stadt bleibe. Das verstösst gegen das Diskriminierungsverbot der Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 1 und 2).» (Seite 431)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, lehnt vorläufigen Rechtsschutz gegen Einberufung zum Grundwehrdienst ab
Die 3. Kammer des Zweiten Senats: «Würde man im Hinblick auf die behauptete gleichheitswidrige Einberufungspraxis es jedem Wehrpflichtigen freistellen, ob er den Grundwehrdienst antritt, wäre die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit Deutschlands in hohem Maße gefährdet.» (Seite 434)
BVerfG stellt Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit unter den Schutz von Art. 6 Abs. 4 GG
Reichweite im Strafverfahren. (Seite 437)
BVerfG billigt Ausschluss italienischer Militärinternierter von Entschädigungszahlungen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”. (Seite 439)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, setzt Verfassungsdebatte mit einer Entschließung zu den Grundwerten der Union fort. (Seite 442)
Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg – Hintergrund zu der vom EGMR bei der Gewichtung von Pressefreiheit und Achtung des Privatlebens mehrfach herangezogenen Entschließung 1165 (1998). (Seite 444)
Neuer Straftatbestand „Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“
§ 201a StGB tritt in Kürze in Kraft. (Seite 444)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, lehnt Antrag Sadam Husseins auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung gegen Großbritannien ab
Der Gewaltherrscher wollte Garantien, dass die Überstellung an die irakische Interimsregierung ihn nicht dem Risiko der Todesstrafe aussetzt. (Seite 444)