EuGRZ 2005 |
30. Juni 2005
|
32. Jg. Heft 11-12
|
Informatorische Zusammenfassung
Ernst Benda (1971-1983 Präsident des Bundesverfassungsgerichts) wurde aus Anlass seines 80. Geburtstags im Januar 2005 mit einem Kolloquium an der Universität Trier geehrt
Eingeladen hatten zu der Veranstaltung am 22. Januar 2005 drei von Bendas ehemaligen Mitarbeitern am BVerfG: die Professoren Gerhard Robbers (Universität Trier), Dieter Umbach (Universität Potsdam), Klaus-Eckart Gebauer (Direktor beim Landtag von Rheinland-Pfalz) und das von Robbers geleitete Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier.
Dieter C. Umbach schreibt in der Einleitung: «Mit seiner berühmten Bundestagsrede hat er 1965 wesentlich dazu beigetragen, dass schwere NS-Verbrechen nicht verjährten, was auch Zustimmung von linker Seite brachte, während er sich anschließend als einer der Väter der Notstandsgesetzgebung wiederum herbe Kritik zuzog. Unter den gestandenen Politikern, Praktikern, Regierungsbeamten und Professoren waren ersichtlich einige, die „damals“ dem Slogan „Benda, wir kommen“ in Richtung Bonn gefolgt waren. Jetzt waren sie – einschließlich Otto Schily – wieder gekommen, um einen Mann zu ehren, der in seiner Zeit als einer der wohl verfassungs- wie rechtspolitisch markantesten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts an landläufig-oberflächlich betrachtet ebenso konservativen (z.B. Grundlagenvertrag 1970; Fristenlösung bei Schwangerschaftsunterbrechung 1975), wie progressiven Entscheidungen (z.B. Mitbestimmung 1979; Volkszählungsurteil 1983) entscheidend mitgewirkt hat.»
Es folgen Stichworte zum Lebenslauf des am 15.1.1925 in Berlin geborenen und dort aufgewachsenen Ernst Benda mit Abitur 1943, Reichsarbeitsdienst, Kriegsmarine und Kriegsgefangenschaft, Studium in Berlin (ein Jahr Wisconsin/USA) und Zulassung zum Rechtsanwalt. Die politische Laufbahn beginnt in der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Spandau, führt über Abgeordnetenhaus und Bundestag zum Bundesinnenminister und Präsidenten des BVerfG, danach war Benda Rechtsprofessor an der Universität Freiburg i.Br., Präsident des Evangelischen Kirschentages und ist (seit 1992) Vorsitzender der jetzigen Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg.
Abschließend macht Umbach deutlich: «Ernst Benda hat als Rechtsanwalt, Politiker, Richter, Hochschullehrer genügend Spuren hinterlassen, so dass es nicht verwundert, wenn zwei seiner Nachfolger im Amt des Bundesinnenministers, Wolfgang Schäuble und Otto Schily, mit zu den Referenten und lebhaften Diskutanten des Kolloquiums gehörten.» (Seite 289)
Otto Schily – Das Notstandsrecht des Grundgesetzes und die Herausforderungender Zeit
«Auch ich habe damals auf dem Wittenbergplatz in Berlin gegen die Notstandsgesetze protestiert. Es erschien uns damals sicher: Jetzt kommt das Ende der Demokratie. In der Rückschau erweisen sich Befürchtungen dieser Art als übertriebene Angstphantasien ohne reale Grundlage. (…)
Das „17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes”, wie die Notstandsverfassung amtlich hieß, trägt nicht nur im Bundesgesetzblatt die Unterschrift Ernst Bendas als damaligem Bundesinnenminister, sondern auch seine juristische Handschrift. Sein besonderes Anliegen war es, dass der Notstand nicht nur zur sprichwörtlichen Stunde der Exekutive werde, sondern dass auch das Parlament im Zustand der äußeren Gefahr seine Verantwortung wahrnehmen müsse und wahrnehmen könne. (…) In dem sog. Benda-Entwurf, den Ernst Benda schon 1965 als Berichterstatter des Rechtsausschusses vorgelegt hatte, fand er dieses Mittel im Gemeinsamen Ausschuss, dem Notparlament von Bundestag und Bundesrat. (…)
Gerade durch die Schaffung von konkreten Regelungen für den Notstandsfall wird verhindert, dass es in der Krise zu einer unbegrenzten Befugniserweiterung und zum Rückgriff auf unscharfe und umstrittene Rechtsfiguren wie das „ungeschriebene Staatsnotrecht“ oder den „übergesetzlichen Notstand“ kommt.»
Schily setzt sich sodann ausführlich mit der «Tiefendimension der neuen Bedrohung durch den globalen Terrorismus» auseinander («Es ist ein Kampf ohne Fronten, ohne Armeen und ohne Regeln») hält an der Trennung polizeilicher und militärischer Aufgaben fest und geht auf die Kernfrage des Luftsicherheitsgesetzes ein, ob und unter welchen Voraussetzungen ein entführtes Passagierflugzeug zur Verhinderung einer Katastrophe abgeschossen werden darf. (Seite 290)
Wolfgang Schäuble – Neue Bedrohungen und die Antwort des Notstandsrechts
«Beim Einsatz der Streitkräfte geht es um Verteidigung, übrigens auch bei der humanitären Intervention, und dabei gelten die völkerrechtlichen Regeln des ius in bello zumindest entsprechend. Das eben entspricht den neuen Bedrohungen. Das Gebot möglichster Schonung unschuldigen Lebens der Zivilbevölkerung gilt auch insoweit, und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch. Aber unter diesen Voraussetzungen kann die Inkaufnahme der Tötung Unschuldiger rechtmäßig sein. Es gibt keinen anderen rechtlich einwandfreien Weg. In der polizeilichen Gefahrenabwehr ist die Abwägung Leben gegen Leben nicht möglich, und die größere oder kleinere Zahl Betroffener hilft am Ende so wenig wie die Prognose, dass das Leben der Passagiere eines entführten Flugzeuges, das zur Waffe gegen das World Trade Center oder ein Kernkraftwerk missbraucht werden soll, so oder so verloren sei. (…)
Das Grundanliegen unserer Notstandsgesetzgebung, und daran hat Ernst Benda maßgeblichen Anteil, war, auch in den äußersten Fällen von Gefahren und Bedrohung rechtliche Klarheit zu schaffen und die Fundamente unserer Verfassungsordnung nicht einem Prinzip „Not kennt kein Gebot“ zu opfern. Wer daran auch angesichts der neuen Weltlage festhalten will, kommt um entsprechende Vorsorge nicht herum, bei der Reform der Bundeswehr nicht, bei der Zusammenarbeit zwischen Polizei, Zivil- und Katastrophenschutz und Bundeswehr auch nicht und bei der Schaffung eindeutiger verfassungsrechtlicher Grundlagen schon gar nicht. Aber, je besser wir vorsorgen, um so geringer ist am Ende die Wahrscheinlichkeit, dass die Gefahr sich verwirklicht oder um so größer jedenfalls die Chance, dass wir auch die Herausforderung einer großen Bedrohung ohne Übermaß, ohne Hysterie und ohne Chaos meistern.» (Seite 294)
Maria Böhmer – Wissenschaft, Ethik, Recht und Politik – Die Quadratur der Gentechnik in Deutschland
«Wir erleben in jüngster Zeit den Versuch, Art. 1 GG umzuinterpretieren. Begründet wird dies auch mit einer Ethik des Heilens, dem Plädoyer, schwerstkranken Menschen eine Perspektive zu geben und dafür menschliche Embryonen zu verbrauchen. Tatsächlich aber steht hier das Leben des Embryos gegen vage Hoffnungen. Das kann nicht sein. Über das Stammzellgesetz hinaus stellt sich die Frage, ob man Embryonen nicht gezielt erzeugen sollte. (…) Die Fragestellung geht also weit über das hinaus, was wir unter dem Gesichtspunkt überzählige Embryonen diskutieren. Die Herstellung von Forschungsembryonen würde immer weitere Begehrlichkeiten wecken. Es besteht die Gefahr, das der Mensch zum Material wird. Diese Grenze wollen wir nicht überschreiten. Das ist Konsens im Deutschen Bundestag. (…)
Gleichzeitig müssen wir immer – und darin ist uns Albert Einstein ein Vorbild – Grenzen ziehen. In unserem Zusammenhang bedeutet das, die Menschenwürde zu wahren, und das, was den Embryo ausmacht, und Begriffsvernebelungen nicht zulassen. Das geht nur in einer engen Vernetzung von Naturwissenschaft, Ethik, dem Verfassungsrecht und der Politik. Wir können es nur gemeinsam leisten. Das schärft den Blick dafür, was Art. 1 des Grundgesetzes für uns bedeutet. Es schärft aber auch den Blick dafür, dass man der Wissenschaft Raum geben muss, bis zu dieser Grenze und nicht darüber hinaus.» (Seite 297)
Winfried Hassemer – Über den argumentativen Umgang mit der Würde des Menschen
«Nur wenn das Prinzip der Menschenwürde argumentatorisch aufbewahrt wird für die extremen Konstellationen, in die es die Ewigkeitsgarantie der Verfassung stellt, kann es seine Kraft retten, die es im Notfall braucht.
Da es freilich stabiler argumentationspraktischer Erfahrung entspricht, dass guter Rat zur Umkehr absolut folgenlos ist, weil fast jeder, der mit der Menschenwürde argumentiert, bloß den Splitter im Auge des Kontrahenten sieht, sollte man stattdessen Zurückhaltung üben und alle Diskutanten bloß dringlich auffordern, Falschspieler zu markieren. Das reicht für's Erste. (…)
Argumentation ist Arbeit. Sie kann mehr oder weniger professionell erledigt werden, mehr oder weniger kundig, vorausschauend und erfahrungsbelehrt. Immer aber gilt, dass sie, wenn es um das Verständnis von Regeln, Prinzipien, Normen geht, dieses Verständnis nur dann wird erarbeiten können, wenn sie zugleich den Teil der Welt, auf den diese Regeln sich richten, mit in den Blick nimmt, um die Welt mit den Regeln in ein passendes und fruchtbares Verhältnis zu bringen, Regeln und Welt aneinander zu entwickeln. Und immer gilt auch, dass sowohl die Regeln als auch die Welt nach der argumentativen Arbeit anders aussehen als zuvor: dass die argumentative Arbeit Wahrheit generiert. Das heißt beispielsweise, dass man vor der argumentativen Arbeit an Regel und Welt über beide nur Vorläufiges sagen kann und dass man, was immer man sagt, nicht für alle Ewigkeiten sagen kann. (…)
Nota bene: Das ist kein Argument gegen die Ewigkeitsgarantie der Verfassung; es ist ein Argument gegen die Erwartung einer auf Dauer gestellten Semantik der dort geschützten Prinzipien. Es bleibt dabei, dass wir den Schutz der Menschenwürde von Verfassungs wegen niemals aufgeben werden; diese Entschlossenheit schenkt uns aber nicht zugleich die Gewissheit, dass unsere Einsicht in Status und Semantik von „Menschenwürde“ morgen dieselbe sein wird wie heute – morgen, wenn wir neue Lebenserfahrungen gemacht haben werden.» (Seite 300)
Ernst Benda – seine Dankesworte schließt er mit einer heiteren Begebenheit: „Wie ich De Gaulle beschützte”; doch zuvor berichtet er ein Erlebnis, wie 1942 an einem heißen Sommertag ein junger Soldat in Uniform vor der Tür steht, der ein oder zwei Jahre vorher als Handwerker Reparaturarbeiten im Hause der Eltern ausgeführt hatte, und jetzt die Mutter sprechen wollte:
«Er erzählte, ein junger Soldat, der im Urlaub aus Russland war, und der in Russland gesehen hat, wie Juden ermordet worden sind. Durch Erschießung mit Maschinengewehren an einem Waldstück. Es blieb und bleibt für mich bis zum heutigen Tage offen, ob er zufälliger Zeuge dieses Vorgangs war, ob er selber geschossen hat, ob er bei den Absperrungen war, als einer der Wachposten, die dieses Gelände abgesperrt haben. Was war sein konkreter Tatbeitrag? Darüber hat er nichts sagen wollen, und wir haben ihn nicht gefragt. Ich habe sowieso nichts gesagt und meine Mutter hat ihn nicht gefragt.
Die zweite genauso schwierig zu beantwortende Frage: Warum geht er zu einer Frau – damals war meine Mutter etwa 50 Jahre alt – mit der er außer einer früheren zufälligen Bekanntschaft nichts zu tun hat? Er hat doch gewiss Eltern gehabt, wahrscheinlich eine Freundin, sonstige Menschen aus seinem Kreise. Das ist die Geschichte von jemandem, der so Fürchterliches gesehen hat, wie man sagt, dass er es seiner eigenen Mutter nicht erzählen kann.» (Seite 304)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, weist Beschwerden gegen die Ost-Enteignungen in der SBZ 1945-1949 und danach in der DDR als unzulässig ab / von Maltzan u.a. gegen Deutschland
«Die Bundesrepublik Deutschland ist weder für die von der sowjetischen Besatzungsmacht veranlassten Handlungen noch für die eines anderen Staates gegenüber dessen eigenen Staatsangehörigen verantwortlich, selbst wenn die Bundesrepublik später die Rechtsnachfolge der DDR angetreten hat, denn es handelt sich dabei um sogenannte politische Verpflichtungen. Der Gerichtshof ist demnach ratione temporis und ratione personae nicht zuständig, die Begleitumstände der Enteignungen und die bis zum heutigen Tage fortwirkenden Folgen dieser Enteignungen zu würdigen. (…)
Die Bf. haben die Verfassungsmäßigkeit der nach der Wiedervereinigung erlassenen Gesetze in der Hoffnung bestritten, ihre Vermögenswerte zurück zu erhalten oder eine dem Verkehrswert angeglichene Entschädigung oder einen Ausgleich zu bekommen. Die Überzeugung, dass die geltenden Gesetze zu ihren Gunsten verändert werden würden, kann aber nicht als eine berechtigte Erwartung im Sinne des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 angesehen werden. Daraus folgt, dass diese Rügen ratione materiae unzulässig sind. Die Rüge der überlangen Verfahrensdauer (5 J., 5 M.) wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. (Seite 305)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, wertet gerichtliche Rechtsbehelfe gegen Aufenthaltsverbote für straffällige EU-Ausländer als unzureichend / Rs. Dörr und Ünal
Kläger der Ausgangsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof sind ein Deutscher (Dörr) und ein unter dem Assoziierungsabkommen EWG-Türkei aufenthaltsberechtigter Türke. (Seite 319)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht Unabhängigkeit der Eidgenössischen Untersuchungsrichter gewährleistet
Die Anforderungen an eine haftanordnende unabhängige Justizperson gem. BV und EMRK sind erfüllt. (Seite 325)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, bestätigt Verbot einer rechtsradikalen Demonstration wegen nationalsozialistischer Elemente
Bei einer früheren Veranstaltung hatten sich einige Teilnehmer mit „Sieg-Heil”-Rufen bemerkbar gemacht. (Seite 327)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, zur Grenze der Leistungsfähigkeit von Kindern bei der Pflicht zu Unterhaltszahlungen an die eigenen Eltern
Die Erstattungspflicht für an Eltern geleistete Sozialhilfe an den Sozialhilfeträger entfällt bei einer Gefährdung der eigenen Alterssicherung der Kinder. Das Landgericht Duisburg hatte die Bf. verpflichten wollen, ein vom Sozialhilfeträger aufgedrängtes zinsloses Darlehen mit Sicherungshypothek auf den für die eigene Altersicherung angesparten Anteil an einem Mehrfamilienhaus anzunehmen.
In der Begründung heißt es: «Mit seiner rechtsschöpferischen Annahme eines Unterhaltsanspruchs, die dem Wortlaut sämtlicher für die Entscheidung maßgeblicher Gesetzesnormen und deren Normkontext sowie den anerkannten Auslegungsmethoden entgegensteht, hat das Landgericht den Boden des geltenden Rechts verlassen.» (Seite 330)
BVerfG lehnt Organklage und Verfassungsbeschwerde gegen die Terminierung der zweiten und dritten Lesung des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag über eine Verfassung für Europa als unzulässig ab. (Seite 337)
Folterverbot – 25 Verfassungsrechtler haben in einer Berliner Erklärung vom 20. Mai 2005 zur Verteidigung des Folterverbots aufgerufen. (Seite 339)
BVerfG – Organklage und Verfassungsbeschwerde gegen Ratifizierung der EU-Verfassung erneut anhängig
Nachdem der CSU-Abgeordnete Dr. Peter Gauweiler mit Organklage und Verfassungsbeschwerde vor der parlamentarischen Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes in Karlsruhe gescheitert war (s.o. S. 337), hat er nach Verabschiedung in Bundestag und Bundesrat das BVerfG abermals angerufen. (Seite 340)