EuGRZ 2006 |
31. August 2006
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33. Jg. Heft 12-16
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Informatorische Zusammenfassung
Die juristische Ordnung der Demokratie – mit dem Generalthema der zweiten Begegnung des, von Olivier Jouanjan und Johannes Masing ins Leben gerufenen, Deutsch-Französischen Arbeitskreises für Öffentliches Recht setzen sich sechs Autoren auseinander. (Seite 329)
Bodo Pieroth, Münster – Plurale und unitarische Strukturen demokratischer Legitimation
«Ein neuralgischer Punkt im grundgesetzlichen Bundesstaat ist das weit verbreitete Postulat der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“. Mobilität und Globalisierung, Industrie- und Informationsgesellschaft üben einen faktischen Sog zu größerer Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse aus. Durch die deutsche Einigung ist der entsprechende politische Druck nicht geringer geworden, wie der neue Bundespräsident Köhler feststellen musste, als er auf fortbestehende Unterschiede in den Lebensverhältnissen in Ost und West hinwies. Anfang der 90er Jahre hat ein Teil der juristischen Literatur (erneut) im Grundgesetz eine Staatszielbestimmung (oder ein Verfassungsgebot) „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ finden wollen, dies unter anderem unter Berufung auf Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG a.F. auch ungeachtet der Tatsache, dass der Begriff der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ im Rahmen der von der Gemeinsamen Verfassungskommission vorbereiteten Verfassungsänderung im Jahre 1994 bewusst aus Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG herausgenommen und durch den Begriff der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ ersetzt worden war. (…)
Während z. B. der amerikanische Föderalismus durch das Prinzip dualistischer Staatsgewalt gekennzeichnet ist, nach dem sich die Verwaltungskompetenz eines Gliedstaates und weitgehend auch die Finanzzuständigkeit aus der Gesetzgebungskompetenz ergeben, dominiert im Grundgesetz eine funktionale Zuständigkeitsverteilung. So liegt das Schwergewicht im Bereich der Gesetzgebung und Finanzautonomie eindeutig beim Bund, im Bereich der Verwaltung und Organisation der Rechtsprechung bei den Ländern.» (Seite 330)
Luc Heuschling, Lille – Die Struktur der demokratischen Legitimität im französischen Recht: zwischen Monismus und Pluralismus, zwischen Subjekt-Symbolik und Gewaltenmechanik
«Der Souveränitätsbegriff – eine (wenn nicht: die) tragende Säule des monistischen Modells – verliert allmählich an Normativität und Aussagekraft. (…) Kraft einer nicht abreißenden Serie von Verfassungsänderungen hat der, vom Verfassungsrat selbst als „souverän“ anerkannte Verfassungsgesetzgeber das Antlitz der Demokratie tiefgreifend erneuert. Davon zeugen Art. 88-1 Verf. (die Teilnahme Frankreichs an der Europäischen Union), Art. 3 Abs. 4 (Parität von Männern und Frauen), Art. 76 u. 77 (Neukaledonien) sowie der neue Art. 1 in fine (die sog. „dezentralisierte“ Organisation der französischen Republik), die durch den integral neugefassten Titel XII der Verfassung ergänzt wird. (…)
Das in einem tiefen Wandlungsprozess begriffene französische Recht offenbart ein chaotisches Bild des demokratischen Subjekts. Es geht von der klassischen, monistischen Vorstellung aus, wonach nur ein einziges Volk existiert. Angewandt auf die heutige Realität der Mehrebenen-Demokratie mündet diese Denkweise in eine logische Sackgasse. Dieses allgegenwärtige Volk leidet an dem Syndrom der „Persönlichkeitsvervielfältigung“: Es ist auf jeder Ebene und an jedem Ort das gleiche Volk, das aktiv wird, auch wenn der Inhalt seines Willens stets anders ist! Gleichzeitig jedoch schreitet das französische Recht auf dem Weg zur Anerkennung einer Pluralität von Völkern voran. So kann ein Individuum gleichzeitig einer Vielzahl von differenzierten politischen Gemeinschaften angehören (Martinique, Frankreich, Europa …), von denen jede zur Prägung einer Gesamtidentität beiträgt.» (Seite 338)
Christoph Gusy, Bielefeld – Verwaltung zwischen parlamentarischer Steuerung und Partizipation Privater / Von einem deutschen Standpunkt aus betrachtet
«Politische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis sind nicht einfach kommensurabel. Wer zur Entscheidung legitimiert ist, hat diese Entscheidung zu treffen bzw. für deren angemessene Findung zu sorgen. Dies hat in den Formen und unter Wahrung der Rechtfertigungs- und Verantwortungszusammenhänge zu geschehen, welche namentlich im demokratischen Staat für politische Entscheidungen gelten. In diesem Sinne ist die Übertragung politischer und administrativer Entscheidung auf Sachverständigengremien kein Legitimationsinstrument, sondern ihrerseits legitimationsbedürftig. Eine solche Legitimation kann nach der Rechtsordnung unter bestimmten Voraussetzungen gelingen. Als Grundsätze können festgehalten werden: Die Übertragung einer Entscheidung muss ausdrücklich geschehen; sie muss nach Inhalt und Grenzen deutlich bestimmt sein; die politische Verantwortung für die Entscheidung muss gewährleistet bleiben und das sachkundig entscheidende Personal selbst ausreichend qualifiziert sein und neutral handeln. Sofern dies nicht möglich ist, können in geeigneten Fällen pluralistisch zusammengesetzte Sachverständigengremien individuelle Neutralitätsdefizite ausgleichen.
In der Praxis wird dies regelmäßig auf eine grundsätzliche, aber nicht stets notwendige Trennung sachkundiger Beratung und politischer Entscheidung hinauslaufen.» (Seite 353)
Gérard Marcou, Paris – Verwaltung zwischen parlamentarischer Kontrolle und Partizipation Privater / Ein französischer Standpunkt
«Die parlamentarische Kontrolle der Verwaltung erfolgt durch die Unterordnung der Verwaltung unter die Exekutivgewalt. Jedoch hat die Geschichte des modernen öffentlichen Rechts einen Begriff geprägt, den des service public, der die öffentliche Verwaltung zum Inbegriff des Gemeinwohls gemacht hat. In diesem Sinne kann man sagen, dass das französische öffentliche Recht sehr wohl, unabhängig vom alleinigen Prinzip der Unterordnung, eine Legitimation der öffentlichen Verwaltung hervorgebracht hat. Dennoch hat die Entwicklung der Aufgaben des Staates sehr früh das Unvermögen dieser Konzeptionen aufgezeigt, die Kontrolle der Verwaltung und die Legitimation ihres Handelns sicherzustellen. (…)
Die concertation war einer der Leitbegriffe der Verwaltungsreform der sechziger Jahre. Hier hat es sehr wohl die Ausweitung der Aufgaben der öffentlichen Verwaltung begleitet. (…) Die Wahl des Wortes Dialog spiegelt die Zweideutigkeit dieser Politik gut wider. Einen Dialog führen bedeutet, eine Einigung suchen, aber der Dialog äußert sich nicht in förmlichen Einigungen, da der Staat seine Entscheidungsgewalt weder abgibt noch teilt. (…)
Die Partizipation kann sicher nicht die politischen Vertretungsorgane ersetzen, um die öffentliche Verwaltung zu kontrollieren und zu leiten. Darum bleibt die Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle über die Verwaltung, wie auch immer die Rechtsform der Verwaltungsbehörden gestaltet sein mag, von entscheidender politischer und verfassungsrechtlicher Bedeutung.» (Seite 362)
Jörg Gerkrath, Avignon – Die Bedingungen der Demokratie in der Europäischen Union / Ein französischer Standpunkt
«Mit der Europäischen Union öffnet sich für die Demokratie eine neue Dimension: Eine Demokratie, die zum Nutzen von 25 Völkern verwirklicht werden muss. Es handelt sich somit nicht um eine Demokratie „ohne demos“ und „ohne Staat“, sondern vielmehr um eine Demokratie also eine Viel-Völker-Herrschaft. (…)
Wenn die politische Verantwortlichkeit der Kommission (…) ausreichend gesichert zu sein scheint, so lässt diejenige der nationalen Regierungen noch zu wünschen übrig. Außer in Staaten wie Dänemark und Großbritannien ist die Art und Weise, wie die nationalen Regierungen ihren Parlamenten im Bereich der Europapolitik Rede und Antwort stehen, nicht wirklich zufriedenstellend. Einerseits tendieren sie zu sehr dazu, ihrer eigenen Verantwortung aus dem Weg zu gehen und sich hinter der Kommission zu verstecken, die so zum Sündenbock wird; andererseits lassen die Parlamentarier selbst den Problemen, die das Fortschreiten der Union hervorruft, nicht immer die Aufmerksamkeit angedeihen, die sie verdient hätten.»
Zu den negativen Referenden über die Europäische Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden bemerkt Gerkrath: «Untersuchungen der Ergebnisse zeigen allerdings, dass eine große Anzahl der Befragten die Abstimmung als eine Gelegenheit empfunden hat, die jeweilige Regierung abzustrafen. (…) Es wird jedenfalls offensichtlich, dass die Bürger die Vorstöße in Sachen Demokratie, die der ihnen vorgelegte Text unleugbar enthält, nicht wahrgenommen haben. Die politische Entscheidung, in solchen Fällen interne Referenden abzuhalten, wirft ihrerseits Fragen auf. Führt sie nicht letztlich dazu, dass sich die Bürger eines Mitgliedstaats zu einer europäischen Fragestellung äußern, ohne dass ihr „Vetorecht“ irgendeine Art von accountability – insbesondere gegenüber den anderen Europäern – mit sich bringt?» (Seite 371)
Stefan Kadelbach, Frankfurt am Main – Bedingungen einer demokratischen EU / Ein deutscher Standpunkt
«Da angesichts der geschwundenen Gestaltungsmöglichkeiten der staatlichen Parlamente einerseits, der ihnen nicht vergleichbaren Kompetenzausstattung des Europäischen Parlaments andererseits doch ein gewisser Machtzuwachs der im Rat vertretenen Regierungen zu verzeichnen bleibt, kann man vielleicht von einem demokratisch legitimierten Demokratiedefizit sprechen. (…)
Mit [der No-Demos-These] in der rechtswissenschaftlichen Diskussion umzugehen ist deshalb schwer, weil sie einen normativen Befund in ein empirisches Argument kleidet.
Man sollte verschiedene Schichten auseinander halten. Nicht alle eignen sich für die juristische Analyse:
– Ob es ein europäisches Volk gibt und – falls nicht – unter welchen Bedingungen es womöglich entstehen könnte, ist zunächst eine sozialpsychologische Frage. Von ihrer Beantwortung hängt es ab, ob das Recht dabei eine Rolle spielen kann und worin diese ggf. besteht.
– Ob ein europäisches Volk oder die Völker Europas eine europäische Öffentlichkeit hervorbringen können, die zur politischen Willensbildung geeignet ist, ist ein mit den Mitteln der Politikwissenschaft oder Sozialphilosophie zu bearbeitendes Problem.
– Verfassungsrechtliche Schlussfolgerungen etwa aus dem Demokratieprinzip zu ziehen, wäre erst der dritte Schritt.
Eine Möglichkeit, die Frage nach dem europäischen Volk zu beantworten, besteht darin, die Union als einen den Mitgliedstaaten komplementären Herrschaftsverband zu begreifen und die Anforderungen, die man an ein herrschaftskonstituierendes Volk stellen will, für die Zwecke der Union zu modifizieren. (…) Woran es fehlt, sind nicht die Diskurse selbst. Defizitär ist ihre Rückkoppelung an die Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger.» (Seite 384)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bestätigt gesetzliches Widerrufsrecht des Samenspenders bei künstlicher Befruchtung / Evans gegen Vereinigtes Königreich
Die Beschwerdeführerin macht geltend, das gesetzliche Widerrufsrecht, das es dem Samenspender noch nach der künstlichen Befruchtung ihrer Eizellen im Reagenzglas erlaubt, durch die Rücknahme seiner Einwilligungserklärung die Implantation des auf diese Weise gezeugten Embryos in ihre Gebärmutter zu verhindern, verletze dessen Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), ihr eigenes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8) sowie das Diskriminierungsverbot (Art. 14).
Der EGMR erinnert an seine im Fall Vo gegen Frankreich (EuGRZ 2005, 568) vertretene Auffassung, «dass die Beantwortung der Frage, wann das Recht auf Leben beginnt, in Anbetracht des Fehlens eines europäischen Konsenses über die wissenschaftliche und rechtliche Definition des Lebensbeginns innerhalb des Beurteilungsspielraums liegt, der den Staaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs auf diesem Gebiet zukommt. Nach englischem Recht ist ein Embryo kein Rechtssubjekt und kann daher weder selbst behaupten noch an seiner Stelle behaupten lassen, Träger eines Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK zu sein. Das haben die nationalen Gerichte im vorliegenden Fall zutreffend klargestellt.»
Insgesamt stellt der EGMR fest, « dass das Vereinigte Königreich durch die im Gesetz von 1990 verankerte Grundsatzregel, die es erlaubt, die Einwilligung zur Implantation eines Embryos zu widerrufen, über deren Existenz die Bf. und J. aufgeklärt wurden und die zudem deutlich in jenen Formblättern, die beide unterschrieben haben, dargestellt war, weder den ihm eingeräumten Beurteilungsspielraum überschritten noch den von Art. 8 EMRK gebotenen fairen Interessenausgleich verletzt hat.» (Seite 389)
Erwin Bernat, Graz, stellt in seiner rechtsvergleichenden Anmerkung zum Kammer-Urteil des EGMR im Fall Evans die Interessen des Mannes an einem Widerrufsrecht und die der Frau an einer vorrangigen Entscheidungsmacht über die Verwendung der im Reagenzglas gezeugten Embryonen gegenüber: «Weder die eine noch die andere Lösung ist aus konventionsrechtlicher Sicht also geboten, um einen Ausgleich i.S.v. praktischer Konkordanz der konfligierenden Schutzbereiche zu erzielen.» (Seite 398)
Der Fall Evans ist seit 3.7.2006 vor der Großen Kammer anhängig.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, präzisiert Kriterien für die Haftung des Staates bei offensichtlichem Verstoß eines letztinstanzlichen Gerichts gegen Gemeinschaftsrecht / Rs. Traghetti del Mediterraneo
Das Urteil befasst sich mit der Nichtvorlage des italienischen Obersten Kassationshofs. Im Ausgangsverfahren klagt eine Reederei wegen einer staatlichen Beihilfe mit der Behauptung, diese habe einer Konkurrenz-Reederei eine wettbewerbswidrige Niedrigpreispolitik ermöglicht und sie (die Klägerin) in den Ruin getrieben.
Der EuGH führt u.a. aus: «In diesem Bereich jegliche staatliche Haftung auszuschließen, weil sich der von einem nationalen Gericht begangene Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht aus einer Sachverhaltswürdigung ergibt, könnte zu einer Schwächung der dem Einzelnen gebotenen Verfahrensgarantien führen, da die Wahrung der Rechte, die dieser aus den einschlägigen Vorschriften des EG-Vertrags ableitet, weitgehend von einer Schritt für Schritt erfolgenden rechtlichen Qualifizierung des Sachverhalts abhängt. Würde jedoch die Haftung des Staates aufgrund der Sachverhaltswürdigung eines Gerichts vollständig ausgeschlossen, genösse der betreffende Einzelne keinerlei gerichtlichen Schutz, wenn ein letztinstanzliches nationales Gericht einen offensichtlichen Fehler bei der Kontrolle dieser rechtlichen Qualifizierung des Sachverhalts beginge.» (Seite 401)
EuGH erklärt Ratsbeschluss und Kommissionsentscheidung zum Abschluss des Abkommens zwischen EG und USA zur elektronischen Übermittlung personenbezogener Fluggastdaten (PNR) aus kompetenzrechtlichen Gründen für nichtig / EP gegen Rat und Kommission
In seiner Klage gegen die Angemessenheitsentscheidung der Kommission (2004/535/EG) hat das Europäische Parlament vier Nichtigkeitsgründe vorgetragen: Die Entscheidung sei ultra vires ergangen, sie verstoße gegen wesentliche Grundsätze der Richtlinie 95/46/EG zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (RL), sie verletze Grundrechte und verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der EuGH gibt bereits dem ersten Klagegrund statt, ohne die anderen Klagegründe prüfen zu müssen, und stellt fest: «Es trifft zwar zu, dass die PNR-Daten von den Fluggesellschaften ursprünglich im Rahmen einer unter das Gemeinschaftsrecht fallenden Tätigkeit erhoben worden sind, nämlich im Rahmen des Verkaufs eines Flugscheins, der zu einer Dienstleistung berechtigt; die Datenverarbeitung, die in der Angemessenheitsentscheidung Berücksichtigung findet, ist jedoch von ganz anderer Art. Denn diese Entscheidung bezieht sich, (…) auf eine Datenverarbeitung, die nicht für die Erbringung einer Dienstleistung erforderlich ist, sondern zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und zu Strafverfolgungszwecken als erforderlich angesehen wird.»
Da diese Tätigkeiten nach Art. 3 Abs. 2 der RL ausdrücklich von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen sind, fällt die Kommissionsentscheidung nicht in den Anwendungsbereich der RL. Dasselbe gilt für die Nichtigkeit des angegriffenen Ratsbeschlusses.
Da das Abkommen eine Kündigungsfrist von 90 Tagen enthält, lässt das am 30. Mai verkündete Urteil die Wirkung der für nichtig erklärten Kommissionsentscheidung aus Gründen der Rechtssicherheit bis zum 30. September 2006 fortgelten. (S. 406)
EuGH sieht grenzüberschreitende Nachbarschaftsklage wegen der Gefahr schädlicher Einwirkungen des tschechischen Atomkraftwerks Temelin vor einem österreichischem Gericht außerhalb des Brüsseler Zuständigkeitsabkommens / Rs. Oberösterreich gegen ČEZ
«Wie ČEZ [Betreibergesellschaft], die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission zu Recht vorgetragen haben, erfordert eine solche Beurteilung [der Einwirkungen oder der Gefahr von Einwirkungen] offensichtlich Nachprüfungen, die zum großen Teil am Belegenheitsort dieses Atomkraftwerks vorzunehmen sind.» (Seite 413)
EuGH bestätigt Richtlinie zur Familienzusammenführung minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen (RL 2003/86/ EG) als grundrechtskonform / EP gegen Rat
Das EP greift mit seiner Klage Ausnahmebestimmungen an, die den Staaten einen gewissen abwehrenden bzw. einschränkenden Ermessensspielraum zubilligen. Der EuGH prüft diese Vorschriften ausführlich nach den vom EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) entwickelten Kriterien.
Zur Grundrechtecharta stellt der EuGH fest: «Auch wenn es sich dabei nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handelt, wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber doch ihre Bedeutung anerkennen, indem er in der zweiten Begründungserwägung der [zu prüfenden] Richtlinie ausgeführt hat, dass diese nicht nur die in Artikel 8 EMRK, sondern auch die in der Charta anerkannten Grundsätze beachtet.» (Seite 417)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, prüft konkurrierende Auslieferungsersuchen Russlands und der USA zur Strafverfolgung eines ehemaligen russischen Atomenergieministers wegen Korruption / Fall Adamov
Dem russischen Ersuchen kommt nach dem Urteil des BGer international-strafrechtliche Priorität zu: «Nach den allgemeinen Prinzipien des internationalen Strafrechts wäre es grundsätzlich nicht Sache der USA oder eines anderen Drittstaates, eine angebliche ungetreue Amtsführung eines ausländischen Ministers zum Nachteil des ausländischen Staates auf dem Wege der internationalen Rechtshilfe selbständig zu verfolgen. Dies umso weniger, wenn der direkt betroffene ausländische Staat gegen eine solche Strafverfolgung durch den Drittstaat protestiert und selbst ein Rechtshilfeersuchen zur Abklärung der erhobenen Vorwürfe stellt.» (Seite 425)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, qualifiziert Ausschluss gleichgeschlechtlicher Lebensgefährten von Mitversicherung in gesetzlicher Krankenversicherung trotz Führung des gemeinsamen Haushalts als diskriminierend
Der VfGH ändert im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 14 EMRK seine Rechtsprechung. Er hebt die entsprechenden Vorschriften zur Gänze auf, um dem Gesetzgeber die erforderlichen rechtspolitischen Entscheidungen vorzubehalten. (Seite 432)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt die Rücknahme einer durch täuschende Angaben zur Person erschlichenen Einbürgerung
«Eine Auslegung des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG, nach der das Verbot der Inkaufnahme von Staatenlosigkeit sich auch auf den Fall der erschlichenen Einbürgerung erstreckte, entspricht nicht dem Willen des Verfassungsgebers; sie liegt außerhalb des Schutzzwecks der Norm. (…)
Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten (…) und untergräbt damit die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit.»
Im konkreten Fall wird § 48 Landesverwaltungsverfahrensgesetz Baden-Württemberg von den vier Richtern des Zweiten Senats, die den Entscheidungsausspruch (Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde) tragen, als ausreichende Ermächtigungsgrundlage angesehen. Es sind dies die Richter Vizepräsident Hassemer, Di Fabio, Mellinghoff und Landau. Dagegen haben gestimmt Richter Broß, Richterinnen Osterloh, Lübbe-Wolff, Richter Gerhard. (Seite 435)
BVerfG setzt einer präventiven polizeilichen Rasterfahndung Grenzen vor dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und präzisiert das Kriterium der konkreten Gefahr für hochrangige Rechtsgüter
Die Verfassungsbeschwerde ist erfolgreich. Der Erste Senat stellt fest: «Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung der in § 31 PolG NW 1990 geregelten Art ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) nur vereinbar, wenn eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Im Vorfeld der Gefahrenabwehr scheidet eine solche Rasterfahndung aus.
Eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie im Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen reichen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa für die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt.» (Seite 448)
BVerfG hält eine gesetzliche Grundlage für den Jugendstrafvollzug für erforderlich und setzt Frist bis Ende 2007
Im Urteil des Zweiten Senats heißt es: «Für eine begrenzte Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Regelungen müssen jedoch eingreifende Maßnahmen hingenommen werden, soweit sie zur Aufrechterhaltung eines geordneten Jugendstrafvollzuges unerlässlich sind.» (Seite 465)
BVerfG gibt dem Schutz der Privatsphäre Prominenter Vorrang gegenüber den Belangen der Unterhaltungspresse
Die 1. Kammer des Ersten Senats bestätigt ein Veröffentlichungsverbot von Luftaufnahmen eines Privathauses mit Wegbeschreibung und Aufforderung zum Besuch. (Seite 473)
BVerfG erklärt Presse-Bericht über exorbitante Geschwindigkeitsüberschreitung (211 statt generell 130 km/) auf französischer Autobahn für zulässig / Prinz von Hannover
Die 1. Kammer des Ersten Senats bestätigt Kammergericht (EuGRZ 2005, 271) und BGH. In dem Beschluss heißt es: «Keiner Entscheidung bedarf, unter welchen Voraussetzungen ein Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend machen kann, die innerstaatlichen Gerichte seien von einer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Auslegung der Gewährleistungen der EMRK abgewichen. (…) Für eine solche Abweichung ist nichts erkennbar. (Seite 475)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde wegen unterlassener Vorlage an EuGH nicht zur Entscheidung an
Die 1. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Der Bundesgerichtshof hat sich hinsichtlich des europäischen Rechts hinreichend kundig gemacht, die seine Entscheidung tragenden Gesichtspunkte in nachvollziehbarer Weise in der Entscheidung dargelegt und den ihm zukommenden Beurteilungsspielraum damit nicht überschritten.» (Seite 477)
Bundesregierung, Berlin, beschließt Gesetzentwurf zur Einführung eines besonderen Wiederaufnahmegrunds auch im Zivilprozess bei vom EGMR festgestellten EMRK-Verletzungen
Die Regelung entspricht der in der StPO und wirkt sich auch auf die Verfahrensordnungen vor den Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichten sowie in der Freiwilligen Gerichtsbarkeit aus. (Seite 479)
Gericht Erster Instanz der EG (EuG), Luxemburg, zu den Anti-Terrormaßnahmen des UN-Sicherheitsrats
Vertiefung der Rspr. zum Einfrieren von Geldern – Folgeverfahren zu EuG (Yusuf), EuGRZ 2005, 592. (Seite 480)