EuGRZ 2008 |
29. August 2008
|
35. Jg. Heft 12-15
|
Informatorische Zusammenfassung
Effektivität des Rechtsschutzes vor den Europäischen Gerichten / Anspruch, Wirklichkeit, Reformbedarf – diesem Themenkomplex war am 25./26. Januar 2008 ein Kolloquium an der Universität Münster gewidmet.
Reiner Schulze und Christian Walter begründen als Veranstalter Zielsetzung und Themenwahl
„Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass der Aspekt effektiven Rechtsschutzes als Kernbestandteil rechtsstaatlicher Anforderungen auf europäischer Ebene zu Unrecht vernachlässigt wurde. Auch beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) besteht natürlich ein sehr enger Zusammenhang zwischen der konkreten Ausgestaltung des Prozessrechts und dem Gebot effektiven Rechtsschutzes. Vor allem die Verfahrensdauer, bislang ein häufiger Kritikpunkt des EGMR gegenüber den Mitgliedstaaten, wird für beide europäischen Gerichte ein Problem.“ (Seite 341)
Vassilios Skouris, Luxemburg – Stellung und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens im europäischen Rechtsschutzsystem
Der Präsident des EuGH unterstreicht als entscheidendes Charakteristikum, dass die Initiative zur Vorlage nicht vom EuGH, sondern vom nationalen Richter ausgeht: „Wenn man diese Eigenheiten mit einem Instanzenzug vergleicht, wird deutlich, dass das Vorabentscheidungsverfahren zu Recht als Dialog des EuGH mit den nationalen Gerichten beschrieben wird. Hier agieren EuGH und einzelstaatliche Gerichte nicht in einem hierarchischen Verhältnis der Über- und Unterordnung, sondern als kooperierende Spruchkörper, die gemeinsam zu einer Entscheidung beitragen.“
Der Autor geht auf die beiden Sonderfälle des Vorabentscheidungsverfahrens ein: Die begrenzte Zuständigkeit des EuGH bei der Herausbildung des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, der gegenwärtigen dritten Säule der EU (Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) und die Einfügung des neuen Eilvorlageverfahrens in Asyl- und Familiensachen, um innerhalb kürzester Zeit entscheiden zu können. Im normalen Vorabentscheidungsverfahren ist die durchschnittliche Verfahrensdauer von 25,5 Monaten im Jahr 2003 auf 19,3 Monate im Jahr 2007 vom Gerichtshof substanziell verkürzt worden.
Die Osterweiterung der EU habe mit der Anhebung der Richterzahl von 15 auf 27 zwar eine Steigerung der richterlichen Arbeitskapazität gebracht, zugleich aber mit elf neuen Amtssprachen die Zahl der potenziellen Verfahrenssprachen auf 22 und die der möglichen Sprachkombinationen auf 462 erhöht und damit die Arbeit des Gerichtshofs erheblich erschwert. Da zudem Plenarentscheidungen mit 27 Richtern wenig realistisch seien, bestehe die Große Kammer aus 13 Richtern und das bedeute, „dass an Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung nicht mehr alle Richter des Gerichtshofs beteiligt sind“.
Für die Zukunft rät Skouris davon ab, ein neues, umfassendes und mehrgliedriges Modell zu entwerfen: „Einmal darf das Hauptziel des Vorabentscheidungsverfahrens, nämlich die Wahrung der Einheitlichkeit bei der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, nicht gefährdet werden, und zum anderen setzt die Kooperation zwischen dem nationalen und dem Unionsrichter auf der Ebene der Unionsgerichte klare Zuständigkeiten voraus.“ (Seite 343)
Oliver Dörr, Osnabrück – Das beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Der Beitrag rückt das europäische Grundrecht auf zügigen Rechtsschutz und dessen wesentliche normative Grundlage Art. 6 Abs. 1 EMRK in den Blick, dasEingang in die Rechtsprechung des EuGH zu den Unionsgrundrechten gefunden habe und von Art. 47 der EU-Grundrechtecharta abgerundet werde.
Der Autor setzt sich detailliert mit den zeitintensiven Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens auseinander und schlüsselt sodann den neuen Ansatz des Eilvorlageverfahrens (Art. 104b VerfO-EuGH) auf.
Er kommt u.a. zu folgender Bewertung: „In einem komplexen und sensiblen Sachbereich, der mit „Freiheit, Sicherheit und Recht“ umschrieben ist, drohte das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH, die europäische „Verfahrensikone“ schlechthin, marginalisiert zu werden. Nicht nur ist es bislang durch eine primärrechtliche Gestaltungsentscheidung der Mitgliedstaaten nur für wenige nationale Gerichte zugänglich gewesen. Aufgrund der rechtsstaatlichen Vorgaben für die gerichtliche Verfahrensdauer, die in vielen spezialgesetzlichen Fristen zum Ausdruck kommen, ist zudem die Bedeutung des herkömmlichen Vorabentscheidungsverfahrens in den Materien von Titel IV EGV und Titel VI EGV von Auszehrung bedroht. Gerade in diesen Materien aber, welche die Entwicklung der Europäischen Union von einem Instrument der Wirtschaftsintegration zu einem politischen Gemeinwesen deutlich machen, ist die kohärenzsichernde und rechtsgestaltende Funktion der EuGH-Rechtsprechung von besonderer Bedeutung.“ (Seite 349)
Bernhard W. Wegener, Erlangen-Nürnberg: Der Numerus Clausus der Klagearten – Eine Gefahr für die Effektivität des Rechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht?
Der Autor demonstriert die „eklatanten Schwächen eines auf Nichtigkeits-, Untätigkeits- und Schadensersatzklage beschränkten Rechtsschutzsystems. Effektiver Rechtsschutz ist in diesem System vielfach nicht zu erreichen. So fehlt es nicht nur an der Möglichkeit, die Gemeinschaftsorgane auf ein bestimmtes zukünftiges Handeln oder auf eine sonstige Leistung zu verpflichten. Auch das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses lässt sich nicht gerichtlich feststellen. Allein die Einführung einer allgemeinen Leistungs-/Verpflichtungsklage könnte hier Abhilfe schaffen“.
„Das Gebot effektiven Rechtsschutzes [ist] als ein konstitutionelles Prinzip der europäischen Rechtsgemeinschaft anerkannt. Der EuGH hat aus diesem Gebot darüber hinaus konkrete Forderungen für die Bereitstellung effektiver Klagearten im mitgliedstaatlichen Prozessrecht abgeleitet. Nach dieser durch den Reformvertrag aufgegriffenen Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten, um die Gewährleistung der durch das Gemeinschaftsrecht begründeten Rechte Einzelner sicherzustellen, ggfs. auch neue, ihren Prozessrechten bislang unbekannte Rechtsschutzmöglichkeiten schaffen. Was hiermit von den Mitgliedstaaten verlangt wird, müsste – so ließe sich vertreten – im Bereich der Direktklagen auch das Gemeinschaftsrecht selbst zu leisten in der Lage sein.“
Wegener hält eine richterrechtlichen Erweiterung des Systems der Direktklagen durch den EuGH nicht für ausgeschlossen. Die bessere Lösung wäre jedoch eine Vertragsänderung durch die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. (Seite 354)
Martina Keller, Straßburg – 50 Jahre danach: Rechtsschutzeffektivität trotz Beschwerdeflut? Wie sich der EGMR neuen Herausforderungen stellt
Die Beschwerdeflut: „Zur Zeit sind insgesamt 103.850 Beschwerden vor dem Gerichtshof anhängig – hiervon sind 79.400 Beschwerden bereits einer Kammer oder einem Ausschuss zur Entscheidung zugewiesen (sogenannte allocated applications), bei weiteren 24.450 Beschwerden wurde zumindest erster Schriftverkehr geführt (sogenannte new applications). Und während die Zahl der allocated applications in den letzten Jahren kontinuierlich stieg – allein 2007 waren es 41.700 Beschwerden –, blieb die Zahl der Urteile und Entscheidungen zumindest in den letzten drei Jahren eher konstant – 2007 ergingen insgesamt 28.792 Urteileund Entscheidungen. Entsprechend hat sich der Rückstand in den letzten Jahren kontinuierlich weiter aufgestaut – allein 2007 um 19%, was rund 13.000 Beschwerden entspricht.“
Zum Kernproblem – Die Urteile müssen klar und verständlich und überzeugend begründet sein: „Diesen Anforderungen kann der Gerichtshof nur gerecht werden, wenn er auch die Zeit hat, die Beschwerden angemessen zu bearbeiten, was angesichts der Zahl der Beschwerden immer schwieriger wird. Verschärft wird die Situation dadurch, dass der Gerichtshof auch in qualitativer Hinsicht – gerade durch den Beitritt der ost- und mitteleuropäischen Staaten – vor neue Herausforderungen gestellt wurde und rechtsstaatliche Strukturen in diesen Staaten weitgehend noch im Aufbau begriffen sind. Dabei weisen gegen diese Staaten gerichtete Beschwerden nicht nur eine zunehmende Komplexität auf, sondern sie haben oft auch eine politische Dimension.“
Zur Überlebensstrategie: Die Autorin legt in der gebotenen Ausführlichkeit nicht nur die Antworten des Europarates auf die neuen Herausforderungen dar, sondern vor allem auch die des EGMR sowohl in der Rechtsprechung als auch in der internen Verfahrensorganisation. (Seite 359)
Stefanie Schmahl, Würzburg – Piloturteile als Mittel der Verfahrensbeschleunigung beim EGMR
Die Herausforderungen massenhafter Parallelverfahren bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung: „Die rechtstechnische Konstruktion des europäischen Menschenrechtsschutzes, die historisch ganz auf den Individualrechtsschutz zugeschnitten ist, darf freilich nicht dazu führen, dass der EGMR sich in unzähligen Einzelprüfungen gegenüber einem Staat mit strukturell defizitärem Rechtssystem verliert und dadurch das gesamte Beschwerdesystem lähmt.“
Die Autorin zeichnet die Entwicklung zum ersten Piloturteil im Fall Broniowski gegen Polen (EuGRZ 2004, 472-484) nach, geht auf richterrechtliche und rechtspolitische Wegbereiter ein sowie auf Vertiefung und Fortentwicklung in Folgeurteilen: „Das vom EGMR in Broniowski erstmals praktizierte Verfahren versteht sich als „Notverfahren“, das sich den bestehenden Konventionsvorgaben so weit wie möglich annähert. (…) Schließlich ist das Piloturteilsverfahren ein probates Mittel, um in den Ländern mit strukturellen Defiziten grundlegende Reformen einzuleiten und das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip in Europa insgesamt zu stärken. (…) Die primäre Pflicht der Konventionsstaaten besteht darin, Verfahren einzuführen und anzuwenden, die es ermöglichen, auf nationaler Ebene das fragliche Recht durchzusetzen.“ (Seite 369)
Moritz Lumma, Berlin: Verfahrensbeschleunigung und Kohärenz beim EuGH – Die Perspektive des Bevollmächtigten der Bundesregierung beim EuGH
„Die faktische erga-omnes-Wirkung von Urteilen des Gerichtshofs in Vorabentscheidungen ist der Transmissionsriemen, mit dessen Hilfe die Interpretation des Gemeinschaftsrechts über den konkreten Ausgangsfall hinaus übertragen wird. (…) [Sie] ist damit Schlüsselfunktion der Kohärenz des Gemeinschaftsrechts. Sie erklärt auch, warum die Verfahrensart der Vorabentscheidung für die Praxis der Prozessführung der Regierungen – und eben auch für die Prozessführung der Bundesregierung – eine so zentrale Rolle spielt. In jedem Vorabentscheidungsersuchen – von welcher nationalen Jurisdiktion es auch kommt – können nämlich auch eigene Interessen verhandelt werden.“
Beim neuen Eilvorlageverfahren setzt sich der Autor mit der Erschwernis für die Prozessführung der nationalen Regierungen auseinander, die darin liegt, dass ihre Beteiligungsmöglichkeiten prinzipiell in die mündliche Verfahrensphase „hineinkondensiert“ und damit limitiert werden.
Insgesamt beurteilt Lumma das Eilvorlageverfahren positiv, weil es dem nationalen Richter in der Spannungslage zwischen der knappen Zeit für die Entscheidungsfindung in manifest grundrechtssensiblen Fragen wie Haft, Auslieferung, Visa, Asyl und Kindesentzug und dem Interesse an der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine neue Handlungsmöglichkeit eröffnet. (Seite 381)
Klaus Rennert, Leipzig: Effektivität des Rechtsschutzes in Vorabentscheidungsverfahren– die Perspektive der nationalen Gerichtsbarkeit
Der Autor, Richter am Bundesverwaltungsgericht, legt zunächst dar, warum sich das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht in möglichster Verfahrensbeschleunigung erschöpft: „Daneben tritt das Gebot inhaltlicher Richtigkeit und Verlässlichkeit, oder umgekehrt: das Verbot nur oberflächlicher Rechtsprechung.“
Als eine Maßnahme zur Beschleunigung des Verfahrens auf nationaler und europäischer Ebene insgesamt empfiehlt Rennert den, im Einzelfall begründeten, Verzicht auf die Vorabentscheidung durch den EuGH.
Allerdings: „Angesichts der Vielfalt der nationalen Rechtskulturen und deren bislang noch unterschiedlichen Vertrautheit mit europarechtlichen Fragen (…) sollte der EuGH die Entscheidung über die Erforderlichkeit oder die Entbehrlichkeit einer Vorabentscheidung selbst in der Hand behalten. (…) Jedoch sollte dem EuGH die Befugnis eingeräumt werden, eine Vorabentscheidung für entbehrlich zu erklären und die Sache an das vorlegende Gericht zurückzugeben – faktisch mit der Ermächtigung, die Vorlagefrage selbst zu beantworten, natürlich mit Wirkung nur für seinen Ausgangsfall. Der Gerichtshof sollte imstande sein, diese verfahrensrechtliche Weichenstellung rasch und ohne große Einarbeitung in den Fall zu treffen. (…) Zur weiteren Erleichterung und Beschleunigung könnte sogar das nationale Gericht verpflichtet werden, in seiner Vorlage zugleich zur Frage der Vorabentscheidungswürdigkeit Stellung zu nehmen und obendrein mitzuteilen, wie es die Vorlagefrage im Falle der Rückgabe der Sache zu entscheiden gedenkt.“ (Seite 385)
Bedeutung der Gerichts- und Verfahrensorganisation für den effektiven Rechtsschutz – Podiumsdiskussion (Seite 390)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, akzeptiert einseitige Erklärung der Regierung nach Zurückweisung des Vorschlags zu gütlicher Einigung durch den Beschwerdeführer und streicht den Fall im Register¼/ Feldhaus gegen Deutschland
Der Bf. hatte die Dauer eines Zivilverfahrens (inkl. Verfassungsbeschwerde: 8 Jahre, 10 Monate) wegen einer Forderung von ursprünglich knapp 44.000,– DM (ca. 21.500,– Euro) als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK gerügt. Er lehnte den von der Bundesregierung angenommenen Vorschlag des EGMR für eine gütliche Einigung ab und forderte als Entschädigung gem. Art. 41 EMRK mindestens 700.000,– Euro.
Daraufhin hat die Bundesregierung beim Gerichtshof mit einseitiger Erklärung die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannt und die Zahlung von 7.500,– Euro zum Ausgleich sämtlicher Ansprüche des Bf. angeboten sowie die Streichung der Beschwerde auch ohne Zustimmung des Bf. nach Art. 37 Abs. 1 lit. c beantragt. Der Gerichtshof hat dem stattgegeben. (Seite 394)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, entscheidet im ersten Eilvorlageverfahren zu einem Streit um die Rückgabe eines widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes / Rs. Rinau
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der VO (EG) Nr. 2201/2003 über Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und Verfahren betr. die elterliche Verantwortung.
Im Ausgangsverfahren vor den litauischen Gerichten beantragt eine Mutter die Nichtanerkennung der Entscheidung eines deutschen Gerichts auf Rückgabe eines von ihr widerrechtlich in Litauen zurückgehaltenen Kindes an ihren geschiedenen deutschen Ehemann und Vater des Kindes.
In der Sache betont der EuGH den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gegenüber den Entscheidungen der zuständigen Gerichte in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten und kommt nach ausführlicher Begründung zu dem Ergebnis, dass die sofortige Rückgabe des Kindes zu veranlassen sei.
Zur Dauer des Verfahrens: Der Streit um das am 11. Januar 2005 in Deutschland geborene Mädchen vor den Gerichten verschiedener Instanzen in Deutschland und in Litauen begann am 14. August 2006, als das AG Oranienburg dem Vater das vorläufige Sorgerecht zusprach; Frau Rinau war am 21. Juli 2006 mit der Tochter und einem aus einer früheren Beziehung stammenden Sohn nach Litauen gereist. Entgegen ihrer Zusage war sie nach zwei Wochen Ferien nicht zurückgekommen und hatte die Tochter auch nicht zum Vater zurückgebracht. Am 20. Juni 2007 wurde die am 27. Juli 2003 in Deutschland geschlossene Ehe der Eheleute Rinau vom AG Oranienburg geschieden und das Sorgerecht für das Kind endgültig dem Vater übertragen. Frau Rinau wurde verpflichtet, das Kind zurückzubringen.
Das Vorabentscheidungsersuchen des litauischen Gerichts ging am 14. Mai 2008 beim EuGH ein, der sein Urteil (Dritte Kammer) nach acht Wochen am 11. Juli 2008 verkündete.
(Seite 396)
Zum neuen Eilvorlageverfahren cf. Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10 (12f.); Skouris, EuGRZ 2008, 343 (346); Lumma, ebd. S. 381 (383f.).
EuGH beanstandet Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit / Rs. Wood
James Wood ist Brite und mit einer Französin verheiratet. Er wehrt sich dagegen, von einer staatlichen Entschädigungsleistung nur deshalb ausgeschlossen zu sein, weil er nicht wie seine Ehefrau und die beiden jüngsten Kinder die französische Staatsangehörigkeit besitzt. Und dies, obwohl er seit über 20 Jahren in Frankreich lebt, arbeitet und Steuern zahlt.
Die älteste Tochter des Ehepaares war während eines Praktikums in Australien bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Der französische Garantiefonds für die Entschädigung von Opfern von Straftaten hat der Ehefrau des Klägers als der Mutter des Opfers und den beiden jüngeren Geschwistern jeweils eine Entschädigung zugesprochen, dem Vater jedoch mit der Begründung verweigert, dass er eine fremde Staatsangehörigkeit habe. Der EuGH sieht hierin eine unmittelbare Diskriminierung. (Seite 404)
EuGH erklärt Weigerung des Rates, öffentlichen Zugang zu bestimmten Dokumenten (hier: Stellungnahme des Juristischen Dienstes) zu gewähren, für nichtig / Rs. Turco
Konkret geht es um ein kritisches Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des Rates zum Vorschlag für eine RL zur Festsetzung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern.
Der EuGH argumentiert u.a.: „Erstens ist zu der vom Rat geäußerten Befürchtung, die Verbreitung einer Stellungnahme seines Juristischen Dienstes zu einem Gesetzesvorhaben könne Zweifel an der Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsakts hervorrufen, festzustellen, dass gerade Transparenz in dieser Hinsicht dazu beiträgt, den Organen in den Augen der europäischen Bürger eine größere Legitimität zu verleihen und deren Vertrauen zu stärken (…).
Ferner würde die Gefahr, dass bei den europäischen Bürgern Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines vom Gemeinschaftsgesetzgeber erlassenen Rechtsakts aufkommen, weil der Juristische Dienst des Rates eine ablehnende Stellungnahme zu diesem Rechtsakt abgegeben hat, meist nicht eintreten, wenn dessen Begründung so verbessert würde, dass deutlich würde, warum der ablehnenden Stellungnahme nicht gefolgt wurde.“ (Seite 406)
Oberstes Gericht der Russischen Föderation (RussOG), Moskau, sieht in der, in äußerster Not erfolgten, Flucht vor Kameradenschinderei (Dedowschtschina) in der Armee keine Fahnenflucht mehr / Änderung der Rechtsprechung
Besonders grausame Vorfälle haben erhebliche Empörung in der Bevölkerung hervorgerufen und eine Debatte ausgelöst. Der Plenarbeschluss des Obersten Gerichts der Russischen Föderation ist in Form einer Erläuterung an die Instanzgerichte ergangen. Die entscheidende Stelle lautet:
„Das eigenmächtige Verlassen der Einheit (des Dienstorts) infolge des Zusammentreffens schwerer Umstände kann im Zustand der äußersten Notwendigkeit (Art.39 StGB) begangen worden sein. Dies gilt z.B. bei einem eigenmächtigen Verlassen der Einheit (des Dienstorts) infolge der Anwendung von Gewalt seitens der Kameraden und Befehlshaber gegenüber dem Militärdienstleistenden, wenn der Betroffene in der konkreten Situation nicht die Möglichkeit hatte, auf andere Weise sein Leben oder seine Gesundheit zu bewahren. In diesem Fall erlässt das Gericht angesichts des Nichtvorliegens von Straftatmerkmalen ein freisprechendes Urteil.“ (Seite 413)
S.a. die Vorbemerkung von Carmen Schmidt auf S.413 in diesem Heft.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht in Nichteinbürgerungs-Beschluss wegen Tragens des islamischen Kopftuchs einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot / Gemeinde Buchs (AG)
„Der Umstand, dass eine Gesuchstellerin ein Kopftuch trägt, könnte lediglich mitberücksichtigt werden, wenn darin vor dem Hintergrund der konkreten Verhältnisse eine Haltung zum Ausdruck kommt, die mit unsern grundlegenden rechtsstaatlichen und demokratischen Wertvorstellungen im Widerspruch stünde. Ein derartiger konkreter Bezug wird im kommunalen Verfahren weder behauptet noch nachgewiesen. Die Diskussionsteilnehmer im Einwohnerrat haben es bei einer allgemeinen Behauptung bewenden lassen, das Tragen des Kopftuches bringe eine generelle Herabminderung der Frauen gegenüber Männern zum Ausdruck. Sie haben keinen Bezug genommen auf die konkrete Situation der Gesuchstellerin und brachten nicht im Einzelnen vor, dass diese grundlegende Prinzipien und Werte unserer Gesellschaft missachten würde, die vorgehaltene Haltung im Alltagsleben tatsächlich manifestiere und aus solchen Überlegungen nicht als integriert gelten könnte. Schliesslich deuten die Akten nicht daraufhin, dass die eigenständig auftretende Beschwerdeführerin eine Haltung der Unterwerfung der Frauen vertreten würde.“ (Seite 419)
BGer bestätigt Ablehnung des Einbürgerungsgesuchs wegen mangelnder Deutsch- und Staatskundekenntnisse / Gemeinde Birr (AG)
„In Anbetracht mangelnder Deutsch- und Staatskundekenntnisse hält die Abweisung des Einbürgerungsgesuchs ungeachtet der Tatsache, dass die Gesuchstellerin das Kopftuch trägt, vor der Verfassung stand.“
Allerdings: „Einen negativen Einbürgerungsentscheid auf den Umstand abzustellen, dass die Ehefrau des Gesuchstellers das Kopftuch als religiöses Symbol trägt, ist geeignet, den einbürgerungswilligen Ehemann unzulässig zu benachteiligen. Hierfür fehlt eine qualifizierte Rechtfertigung: Das blosse Tragen des Kopftuches bringt für sich keine gegen rechtsstaatliche und demokratische Wertvorstellungen verstossende Haltung zum Ausdruck.“ (Seite 422)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erachtet Abberufung eines Universitätsrates wegen unkritischer Haltung zum Nationalsozialismus als verfassungskonform
„Es kann „im Interesse¼… des Schutzes¼… der Rechte anderer“, hier also der Universität als einer juristischen Person des öffentlichen Rechts (vgl. §¼4 UniversitätsG) auch „in einer demokratischen Gesellschaft¼… unentbehrlich“ sein, gesetzlich vorzusehen, dass ein Mitglied des Universitätsrates wegen einer Meinungsäußerung, die eine „schwere Pflichtverletzung“ iSd §21 Abs. 14 UniversitätsG darstellt, von seiner Funktion abberufen werden kann. Insoferne bestehen gegen die genannte gesetzliche Bestimmung auch unter dem Gesichtspunkt des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf freie Meinungsäußerung iSd Art.10 EMRK keine verfassungsrechtlichen Bedenken.“ (Seite 424)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Transsexuellengesetz für teilweise verfassungswidrig
„§8 Abs. 1 Nr. 2 des Transsexuellengesetzes ist mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar, weil er einem verheirateten Transsexuellen, der sich geschlechtsändernden Operationen unterzogen hat, die Möglichkeit, die personenstandsrechtliche Anerkennung seiner neuen Geschlechtszugehörigkeit zu erhalten, nur einräumt, wenn seine Ehe zuvor geschieden wird.“
„Wie [der Gesetzgeber] sicherstellt, dass die Verantwortungsgemeinschaft eines verheirateten Transsexuellen mit seinem Ehegatten ohne Beendigung Fortsetzung findet, ist dem Gesetzgeber überlassen. So kann er sie mit Rechtskraft der Anerkennung der geänderten personenstandsrechtlichen Geschlechtszugehörigkeit des transsexuellen Ehegatten in eine Eingetragene Lebenspartnerschaft überführen, muss dabei aber Sorge dafür tragen, dass die erworbenen Rechte und auferlegten Pflichten aus der Ehe einem solchen Paar in der Eingetragenen Lebenspartnerschaft ungeschmälert erhalten bleiben. Er kann zu diesem Zweck aber auch eine rechtlich abgesicherte Lebensgemeinschaft sui generis schaffen, die dem Paar die erworbenen Rechte und Pflichten aus der Ehe sichert, und die Ehe mit Anerkennung der geänderten Geschlechtszugehörigkeit des transsexuellen Ehegatten in dieser Form fortbestehen lassen. (…)
Angesichts der geringen Zahl der betroffenen verheirateten Transsexuellen (…) kann der Gesetzgeber sich aber auch dafür entscheiden, verheirateten Transsexuellen die Möglichkeit der rechtlichen Anerkennung ihres geänderten Geschlechts bei Fortführung ihrer Ehe zu eröffnen.“ (Seite 428)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde der Stadt Salzgitter gegen atomrechtlichen Planfeststellungsbeschluss (Endlager „Schacht Konrad“) nicht zur Entscheidung an
Hinsichtlich der vorgetragenen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ist die Stadt nicht beschwerdefähig. Die weiteren Rügen sind nicht hinreichend begründet. (Seite 436)
Ratifikationsliste zur EMRK – die 47 Vertragsstaaten in der Reihenfolge ihres Beitritts zum Europarat und zur Konvention. (Seite 439)
EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott zur Abwägung des Schutzes der Privatsphäre gegenüber der Medienfreiheit bei Steuerdaten
In dem vom Obersten Verwaltungsgericht Finnlands vorgelegten Verfahren geht es um die Auflistung personenbezogener Steuerdaten nach Wohnort und Namen in Form einer Zeitung und als Abfrage per SMS. (Seite 440)