EuGRZ 2009
14. August 2009
36. Jg. Heft 12-16

Informatorische Zusammenfassung

Eckhard Pache, Würzburg, analysiert, hinterfragt und bewertet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon ausgehend von der Frage: «Das Ende der europäischen Integration?»
Der Autor fasst zusammen: «Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht allein über die Vereinbarkeit des Vertrages von Lissabon mit den Vorgaben des Grundgesetzes für die europäische Integration entschieden. Es hat das Urteil [s.u. S. 339] darüber hinaus dazu genutzt, um weitreichende sehr grundsätzliche Anforderungen an die Ausgestaltung der künftigen Mitwirkung Deutschlands in der Europäischen Union aufzustellen, prinzipielle strukturelle und materielle Grenzen für die mögliche Fortentwicklung der Europäischen Union aus dem Grundgesetz herzuleiten und erneut eine eigene Kompetenz zur Überprüfung auch sekundären Gemeinschaftsrechts auf Einhaltung der Grenzen der der EU vertraglich übertragenen Zuständigkeiten sowie auf Wahrung des Kernbereichs der Verfassungsidentität des deutschen Grundgesetzes zu beanspruchen.
Soweit in dem Urteil über die erhobenen Verfassungsrechtsbehelfe entschieden worden ist, vermag die Entscheidung im Grundsatz zu überzeugen. (…)
Hinsichtlich der weitergehenden perspektivischen Wegweisungen und Grenzziehungen des Bundesverfassungsgerichts für die künftige Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration und für die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union dagegen fehlt es einerseits verfassungsprozessual in den konkret entschiedenen Verfahren an ihrer Entscheidungsrelevanz, andererseits im materiellen deutschen Verfassungsrecht an einer konkreten normativen Grundlage für verschiedene nunmehr vom Bundesverfassungsgericht entfaltete Begrenzungen der deutschen Integrationsgewalt und der Entwicklungsmöglichkeiten der Europäischen Union auf der Grundlage des Grundgesetzes. Bestimmte tatsächliche Grundannahmen sowie verfassungsrechtliche Ausgangspunkte und Herleitungen der entsprechenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts erscheinen keineswegs zwingend.»
Zur Außenwirkung des Urteils stellt Pache fest: «Mit der beanspruchten Prüfungskompetenz stellt das Bundesverfassungsgericht die Funktionsfähigkeit und damit die Existenz der EU insgesamt in Frage. (…)
Keine ausdrückliche Erwähnung findet in den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu seiner Kompetenz zur ultra-vires- und Identitätskontrolle das noch im Maastricht-Urteil ausdrücklich angesprochene Kooperationsverhältnis zum EuGH. (…) Zwar spricht das Bundesverfassungsgericht aus, dass seine ultra-vires- und Identitätskontrolle dann eingreifen soll, „wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist“, erläutert diese Voraussetzung seiner Prüfungskompetenz jedoch nicht näher. (…)
Sollte das Bundesverfassungsgericht sich bereitfinden, den Schutz der Verfassungsidentität des Grundgesetzes bei der von ihm beanspruchten ultra-vires- und Identitätskontrolle in tatsächlicher Kooperation (über eine Vorlage) mit dem EuGH zu leisten, so könnte daraus ein positiver Beitrag zur Fortentwicklung der Europäischen Union werden.» (Seite 285)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in undifferenzierter Speicherung von Fingerabdrücken, Zellproben und DNA-Profilen von strafrechtlich verdächtigten, aber nicht verurteilten Personen eine Verletzung von Art. 8 EMRK / S. und Marper gegen Vereinigtes Königreich
Der erste Bf. war im Alter von elf Jahren festgenommen und wegen versuchten Raubes angeklagt, schließlich aber freigesprochen worden. Der zweite Bf. war wegen Belästigung seiner Lebensgefährtin angeklagt worden. Nachdem er sich mit ihr versöhnt hatte, wurde das Verfahren eingestellt.
Beide Bf. wenden sich gegen die Speicherung ihrer Fingerabdrücke und DNA-Profile in einer nationalen Datenbank, dem „Police National Computer“.
Der Gerichtshof stellt im Ergebnis fest, «dass die pauschale und unterschiedslose Befugnis zur Aufbewahrung von Fingerabdrücken, Zellproben und DNA-Profilen verdächtiger, aber keiner Straftat schuldig gesprochener Personen, wie sie auf die Bf. in der vorliegenden Rechtssache angewandt wurde, keinen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden öffentlichen und privaten Belangen erzielt, und der betroffene Staat diesbezüglich jeden akzeptablen Beurteilungsspielraum überschritten hat. Daher stellt die in Rede stehende Aufbewahrung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens dar und kann nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden. Aufgrund dieser Schlussforderung erübrigt sich, dass der Gerichtshof die Rüge der Bf. hinsichtlich der Angemessenheit bestimmter Schutzvorkehrungen, wie ein zu weit gefasster Zugang zu den betreffenden personenbezogenen Daten und ein unzureichender Schutz gegen die falsche oder missbräuchliche Verwendung solcher Daten, prüft.» (Seite 299)
EGMR erklärt Beschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer (vor dem Landessozialgericht Berlin, fast 7 Jahre) für unzulässig, weil die Verfahrensdauer in erster Linie vom Bf. verursacht wurde / Peterke gegen Deutschland
«Unter diesen Umständen war die Verfahrensdauer nicht wesentlich von dem Landessozialgericht Berlin zu verantworten. Deshalb überschritt weder die Dauer des Verfahrens vor diesem Gericht noch die Gesamtdauer des Verfahrens die angemessene Frist.» (Seite 315)
EGMR beurteilt Irreführung des Gerichtshofs als Missbrauch des Beschwerderechts (Art. 35 Abs. 3 EMRK) / Berger gegen Deutschland
«Unvollständige und daher irreführende Angaben können insbesondere dann einen Missbrauch des Beschwerderechts darstellen, wenn sie den eigentlichen Kern der Rechtssache betreffen und nicht hinreichend erläutert worden ist, warum diese Auskunft nicht erteilt worden ist.»
Der Bf. war wegen Beihilfe zum Subventionsbetrug vor dem LG Mühlhausen angeklagt. Das Verfahren wurde dann jedoch wegen überlanger Dauer (9 Jahre) vom Gericht selbst eingestellt. Der Bf. hat in Straßburg die Verfahrensdauer gerügt, ohne dem EGMR die Einstellung des Verfahrens mitzuteilen. (Seite 316)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bestätigt Fremdbesitzverbot von Apotheken nach deutschem Recht als EG-konform / Rs. Apothekerkammer des Saarlandes u.a.
Der EuGH sieht in dieser Regelung keine Verletzung der Niederlassungsfreiheit ausländischer Handelsgesellschaften (Art. 43, 48 EG). Im Ausgangsverfahren war der niederländischen Aktiengesellschaft „DocMorris“, die auch einen Versandhandel mit Arzneimitteln betreibt, eine Filial-Apotheke in Saarbrücken durch das zuständige Ministerium genehmigt worden. Dagegen klagt vor dem Verwaltungsgericht des Saarlandes neben anderen die Apothekerkammer.
In dem Urteil heißt es: «Für den Betreiber, der Apotheker ist, lässt sich nicht leugnen, dass er ebenso wie andere Personen das Ziel verfolgt, Gewinne zu erwirtschaften. Als Berufsapotheker ist bei ihm aber davon auszugehen, dass er die Apotheke nicht nur aus rein wirtschaftlichen Zwecken betreibt, sondern auch unter einem beruflich-fachlichen Blickwinkel. Sein privates Interesse an Gewinnerzielung wird somit durch seine Ausbildung, seine berufliche Erfahrung und die ihm obliegende Verantwortung gezügelt, da ein etwaiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder berufsrechtliche Regeln nicht nur den Wert seiner Investition, sondern auch seine eigene berufliche Existenz erschüttert. (…)
Folglich kann ein Mitgliedstaat im Rahmen seines (…) Wertungsspielraums der Ansicht sein, dass der Betrieb einer Apotheke durch einen Nichtapotheker im Unterschied zu einer von einem Apotheker betriebenen Apotheke eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung, insbesondere für die Sicherheit und Qualität des Einzelhandelsvertriebs der Arzneimittel, darstellen kann, weil das Gewinnstreben im Rahmen eines derartigen Betriebs nicht mit mäßigenden Faktoren wie den in Randnr. 37 des vorliegenden Urteils angeführten einhergeht, die die Tätigkeit der Apotheker kennzeichnen.»
Demnach: «(…) erweist sich die in den Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung als geeignet, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über dasjenige hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Die aus dieser Regelung folgenden Beschränkungen lassen sich daher durch dieses Ziel rechtfertigen.» (Seite 318)
EuGH weist Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Italien wegen des Fremdbesitzverbots von Einzelhandelsapotheken und der Zulässigkeit kommunaler Apotheken ab / Rs. Kommission/Italien
Die Kommission sah die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EG) und den freien Kapitalverkehr (Art. 56 EG) als verletzt an. Der EuGH argumentiert ähnlich wie in der vorstehenden Vorabentscheidung zum deutschen Recht: Die Beschränkungen der genannten Marktfreiheiten seien aus Gemeinwohlgründen der Sicherheit und der Qualität der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln verhältnismäßig. (Seite 323)
EuGH erkennt in der Nicht-Anrechnung der vor Vollendung des 18. Lebensjahres erworbenen Berufserfahrung bei der Festlegung des Entgelts (von Vertragsbediensteten in Österreich) eine Altersdiskriminierung / Rs. Hütter
«Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 (…) sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die, um die allgemeine Bildung nicht gegenüber der beruflichen Bildung zu benachteiligen und die Eingliederung jugendlicher Lehrlinge in den Arbeitsmarkt zu fördern, bei der Festlegung der Dienstaltersstufe von Vertragsbediensteten des öffentlichen Dienstes eines Mitgliedstaats die Berücksichtigung von vor Vollendung des 18. Lebensjahrs liegenden Dienstzeiten ausschließt.» (Seite 331)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zum Begriff der „ausreichenden finanziellen Mittel“ i.S.d. Freizügigkeitsabkommens (FZA) Schweiz/EG
Dieses Kriterium bezieht sich auf Personen, die in der Schweiz keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Als Quelle der notwendigen Existenzmittel kommen auch Drittmittel wie die Unterstützungsleistungen von Kindern in Betracht.
Das BGer kommt zu dem Ergebnis: «Da die [aus Deutschland stammende] Beschwerdeführerin zusammen mit den Mitteln, welche ihr von Tochter und Schwiegersohn zur Verfügung gestellt werden, ihren Existenzbedarf befriedigen kann, und sich aus den bei den Vorakten befindlichen Bescheinigungen ergibt, dass sie über den erforderlichen Krankenversicherungsschutz verfügt, sind die Voraussetzungen der Aufenthaltserteilung nach Art. 24 Abs. 1 und 2 Anhang I FZA erfüllt, dies jedenfalls solange, als sie nicht dennoch Sozialhilfe oder aber Ergänzungsleistungen beansprucht.» (Seite 335)
BGer zu den Anforderungen an die Unterhaltsgewährung vor dem Familiennachzug im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens Schweiz/EG
Die Beschwerdeführerin stammt aus der Türkei und lebt wegen Eheproblemen seit Anfang 2006 bei ihrer Tochter und dem italienisch-schweizerischen Schwiegersohn, die ihr Kost und Logis gewähren. Dies ist nach dem Urteil zu dem Unterhaltsbeitrag ihres inzwischen geschiedenen Ehemanns in Höhe von 1.400,- Franken hinzuzurechnen. Die Bf. ist nicht, wie von den kantonalen Behörden verlangt, gezwungen, erst auszureisen, um dann bei einer erneuten Einreise diese hinreichende finanzielle Situation geltend zu machen. (Seite 338)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe – Zweiter Senat zum Vertrag von Lissabon
► Zustimmungsgesetz zum Vertrag und Begleitgesetz zur Änderung von Art. 23, 45 und 93 GG sind verfassungsgemäß;
► Das Begleitgesetz zur Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union genügt den Anforderungen des BVerfG (im Urteil unter C.II.3., S. 386, RdZiff. 406 ff.) nicht und ist verfassungswidrig.
► Die Ratifikationsurkunde darf vor Inkrafttreten einer verfassungsgemäßen Neufassung des Gesetzes nicht hinterlegt werden.
Der Senat fasst die Summe seiner verfassungsrechtlichen Anforderungen in folgende Leitsätze:
«1.
Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.
2. a) Sofern die Mitgliedstaaten das Vertragsrecht so ausgestalten, dass unter grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung eine Veränderung des Vertragsrechts ohne Ratifikationsverfahren herbeigeführt werden kann, obliegt neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung, die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss (Integrationsverantwortung) und gegebenenfalls in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren eingefordert werden kann.
b) Ein Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht erforderlich, soweit spezielle Brückenklauseln sich auf Sachbereiche beschränken, die durch den Vertrag von Lissabon bereits hinreichend bestimmt sind. Auch in diesen Fällen obliegt es allerdings dem Bundestag und – soweit die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, dem Bundesrat – seine Integrationsverantwortung in anderer geeigneter Weise wahrzunehmen.
3. Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.
4. Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 2 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon [EUV-Lissabon]) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten (…). Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (…). Die Ausübung dieser verfassungsrechtlich radizierten Prüfungskompetenz folgt dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, und sie widerspricht deshalb auch nicht dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV-Lissabon); anders können die von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkannten grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration nicht gewahrt werden.Insoweit gehen die verfassungs- und die unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität im europäischen Rechtsraum Hand in Hand.» (Seite 339)
Zum Lissabon-Urteil des BVerfG cf. den Aufsatz von Eckhard Pache, EuGRZ 2009, 285 ff. (in diesem Heft); zum Vertrag selbst cf. Peter Schiffauer, EuGRZ 2008, 1 ff. sowie die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Vertrag, EuGRZ 2008, 230-234 und den, die Entschließung vorbereitenden, Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen, Berichterstatter: Richard Corbett und Íñigo Méndez de Vigo, EuGRZ 2008, 234-256.
BVerfG präzisiert die verfassungsrechtlichen Anforderungen bei der Gewährung staatlicher Mittel an Religionsgesellschaften / hier: Jüdische Gemeinde
§ 1 des Gesetzes zum Vertrag zwischen dem Land Brandenburg und der „Jüdischen Gemeinde – Land Brandenburg“ vom 11.1.2005 ist nichtig. Beschwerdeführer zu 1. ist der mit der begünstigten Gemeinde konkurrierende eingetragene Verein „Gesetzestreue Jüdische Landesgemeinde Brandenburg“.
Der Zweite Senat sieht eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 und 2 i.V.m. dem aus Art. 20 Abs. 3 abzuleitenden Rechtsstaatsprinzip:
«Die Betrauung des Landesverbandes mit der Vergabe der Landesmittel an die übrigen jüdischen Religionsgesellschaften in Brandenburg durch Art. 8 Abs. 1 des Vertrages schafft Strukturen, die sich im Hinblick auf das Ziel einer gleichmäßigen Verwirklichung der Religionsfreiheit gefährdend auswirken können (…) und ist unvereinbar mit dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität.» (Seite 388)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde gegen Abschiebung bzw. Überstellung aus den USA an Deutschland nicht zur Entscheidung an / Fall Demjanjuk
Die Begründung lautet: «Akte ausländischer Staaten sind mit der Verfassungsbeschwerde nicht angreifbar.»
Der in der Ukraine geborene und zurzeit staatenlose Beschwerdeführer befindet sich seit dem 12. Mai 2009 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 10. März 2009 in Untersuchungshaft in der Münchener Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Dem Beschwerdeführer, der am Tage seiner Inhaftierung von den USA nach Deutschland abgeschoben beziehungsweise überstellt wurde, wird vorgeworfen, sich im Jahre 1943 im deutschen Vernichtungslager Sobibor im damals besetzten Polen in mindestens 29.000 Fällen der Beihilfe zum Mord gemäß § 211, § 27, § 52 StGB strafbar gemacht zu haben, indem er als Aufseher die Menschen in die Gaskammern getrieben habe. (Seite 399)
BVerfG wertet Ablehnung eines Antrags auf Rehabilitierung wegen der Unterbringung des Bf. in Kinderheimen und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe der DDR durch das OLG Naumburg als Willkür
Die 2. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Die Annahme des Oberlandesgerichts, nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz seien nur Maßnahmen rehabilitierungsfähig, die durch eine strafrechtlich relevante Tat veranlasst worden seien, führt – im Hinblick auf § 2 StrRehaG sinnwidrig und im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der Unvereinbarkeit mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung in § 1 Abs. 1 StrRehaG auch über den Wortlaut des Gesetzes hinaus – zu einer Beschränkung der Rehabilitierung von Freiheitsentziehungen auf Fälle, denen eine von der DDR-Justiz als strafrechtlich relevant eingeordnete Tat zugrunde gelegen hat. Mit dieser Auslegung wird die gesetzgeberische Intention, durch die Erweiterung des § 2 StrRehaG auch außerhalb eines Strafverfahrens angeordnete Freiheitsentziehungen, auch über Einweisungen in psychiatrische Anstalten hinaus, rehabilitierungsfähig zu machen, zunichte gemacht. Der Anwendungsbereich des Gesetzes wird dadurch in nicht vertretbarer, weil dem gesetzgeberischen Willen entgegenstehender Weise verengt. Es handelt sichum eine krasse Missdeutung des Inhalts der Norm, die auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.» (Seite 401)
BVerfG billigt Beschlagnahme von E-Mails beim Provider im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen
Beschluss des Zweiten Senats: «Die Sicherstellung und Beschlagnahme von E-Mails auf dem Mailserver des Providers sind am Grundrecht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses aus Art. 10 Abs. 1 GG zu messen. §§ 94 ff. StPO genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an eine gesetzliche Ermächtigung für solche Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis zu stellen sind.» (Seite 404)
BVerfG zu den gesteigerten Anforderungen an die Zügigkeit des Verfahrens und die Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung über die Fortdauer der U-Haft
«Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat, das auch in der Höhe der nicht rechtskräftigen Verurteilung zum Ausdruck kommt, kann die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz kleinerer Verfahrensverzögerungen gerechtfertigt sein. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden (…). Dabei ist nicht entscheidend, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß einnimmt, sondern ob die vorliegenden Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit eine Schwelle erreichen, die im Rahmen der Abwägung die Anordnung einer weiteren Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt. (Seite 414)
Verfahrensbeschleunigung beim EGMR / Umgehung der russischen Blockade-Politik / Vorläufige Anwendung der Art. 4, 6, 7 und 8 des Protokolls Nr. 14
Nachdem die organisatorischen und strukturellen Verbesserungen für den EGMR in Protokoll Nr. 14 (Text in EuGRZ 2005, 278 ff.) an der überraschenden Blockade-Politik Russlands (EuGRZ 2007, 241 und 507 f.) gescheitert waren, hat der Europarat für die loyalen Vertragsstaaten der EMRK einen teilweisen Ersatz (Protokoll Nr. 14bis) in der vorläufigen Anwendung organisatorischer Bestimmungen (Einzelrichter-Entscheidungen) gesucht.
Die strukturelle Verbesserung zur Unabhängigkeit der Richter durch eine längere Amtszeit (9 Jahre, ohne Möglichkeit der Wiederwahl, statt bisher 6 Jahre, mit Möglichkeit der Wiederwahl) bleibt weiterhin blockiert.
Zur vorläufigen Anwendbarkeit der oben genannten Artikel haben folgende Staaten Annahmeerklärungen abgegeben: Deutschland und Schweiz (mit Wirkung zum 1. Juni 2009), Luxemburg, Niederlande und Vereinigtes Königreich (zum 1. Juli 2009) und Irland (zum 1. August 2009). (Seite 417)
Italienischer Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale), Rom, legt erstes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vor / Rs. Presidente del Consiglio dei Ministri gegen Regione autonoma della Sardegna / Schlussanträge GAin Kokott
Im Ausgangsverfahren geht es um eine temporäre Regionalsteuer auf Sardinien auf bestimmte Landungen von Privatflugzeugen und Freizeitboten, deren Eigner ihren Steuerwohnsitz nicht auf Sardinien haben.
Generalanwältin Juliane Kokott stellt fest: «Der italienische Verfassungsgerichtshof hat Zweifel an der Vereinbarkeit dieser sardischen Steuerregelung mit dem Gemeinschaftsrecht, genauer gesagt mit dem freien Dienstleistungsverkehr (Art. 49 EG) und dem Verbot staatlicher Beihilfen (Art. 87 EG). Eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Steuer wäre auch für das Normenkontrollverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof von Bedeutung, weil das Gemeinschaftsrecht nach italienischem Verfassungsrecht Teil des dort anzuwendenden Prüfungsmaßstabs ist.»
Im Ergebnis teilt die Generalanwältin die Bedenken des italienischen Verfassungsgerichtshofs. (Seite 418)