EuGRZ 2010 |
23. September 2010
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37. Jg. Heft 14-17
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Informatorische Zusammenfassung
Ralph Alexander Lorz und Heiko Sauer, Düsseldorf, setzen sich mit dem Problem auseinander: "Wann genau steht Art. 3 EMRK einer Auslieferung oder Ausweisung entgegen?"
Ihre Untersuchung gilt einer « Systematisierung der Rechtsprechung des EGMR zu den Beweisanforderungen für die Konventionswidrigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen».
Der Beitrag konturiert die Grundlagen der Straßburger Rechtsprechung anhandzahlreicher Beispiele, legt die Beweisanforderungen nach Fallgruppen und Kriterien geordnet dar und untersucht den Einfluss diplomatischer Zusagen auf die Frage des Misshandlungsrisikos.
Die Autoren halten als Ausblick u.a. fest: «Aus der Sicht der Vertragsstaaten mag es bis heute unbefriedigend sein, dass eine allgemeine Konventionsgarantie so tief in das Auslieferungs- und Ausweisungsrecht ausgreift. Die nähere Betrachtung der Rechtsprechungslinie zeigt aber, dass wir es nicht mit einem Gerichtshof zu tun haben, der bei seiner Aufgabe der Schutzgewähr jedes Maß verloren hat und den Problemen der Mitgliedstaaten nicht mehr hinreichend Rechnung trägt. Es ist vielmehr so, dass die Mitgliedstaaten der völkerrechtlichen Haftung sicher entgehen können, wenn sie sich mit den Einwänden des Bf. auseinandersetzen, den Sachverhalt und die zu erwartende Situation im Zielstaat sorgfältig aufklären und sich nicht auf allzu pauschale Zusicherungen verlassen. Daraus ergeben sich zwar durchaus strenge Anforderungen für aufenthaltsbeendende Maßnahmen. Das aber wird durch das Anliegen, den Schutz vor Folter und unmenschlicher Behandlung über den räumlichen Geltungsbereich der Konvention hinaus spürbar zu verbessern, nicht nur der Sache nach gerechtfertigt; vielmehr haben die Staaten die umfassende Absicherung des konventionsrechtlichen Menschenrechtsschutzes in Art. 1 EMRK zugesichert. Der Gerichtshof hat die widerstreitenden Interessen damit in eine insgesamt vernünftige Balance gebracht. Für die Missachtung einstweiliger Anordnungen durch die Mitgliedstaaten bietet diese Rechtsprechung deshalb keinen Anlass, und es bleibt zu hoffen, dass dieses Problem bald auf der politischen Ebene beigelegt werden kann.» (Seite 389)
Rebekka Wiemann, Cambridge, MA, kommentiert "die Rechtsprechung des EGMR zu sexueller Orientierung" sowie die "(Un-)Geeignetheit des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten, ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Konventionsrechten zu lösen"
«Das Urteil Schalk und Kopf gegen Österreich wirft durch die Einbeziehung gelebter gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Begriff des Familienlebens und die gleichzeitige Verneinung eines Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Partner aus Art. 12 EMRK die Frage auf, inwiefern Unterscheidungen zwischen "gleichgeschlechtlichen Familien" und "verschiedengeschlechtlichen Familien" angesichts des Nichtdiskriminierungsverbots aus Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK bestehen dürfen. Anstatt diese Frage zu diskutieren, flüchtet der EGMR jedoch in den Beurteilungsspielraum, den er nicht nur losgelöst von der gebotenen Rechtfertigungsprüfung anwendet, sondern auch unzureichend begründet.» (Seite 408)
Hans-Georg Franzke, Münster, behandelt die französische Verfassungsreform 2008, insbesondere die 2010 eingeführte gerichtliche Normenkontrolle
Die 2010 eingeführte konkrete Normenkontrolle durch Kassationshof, Staatsrat und Verfassungsrat hat bereits zu einer Vorabentscheidung des EuGH geführt (s.u. S. 452).
Die Verfassungsänderungen betreffen die Befugnisse des Staatspräsidenten, des Parlaments und des Verfassungsrates. (Seite 414)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Gewaltandrohung durch vernehmenden Polizeibeamten zur Lebensrettung eines entführten Kindes nicht als Folter, wohl aber als unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK / Gäfgen gegen Deutschland (GK)
Entgegen dem Kammer-Urteil (EuGRZ 2008, 466) hält die Große Kammer (GK) die ausdrückliche und unmissverständliche Anerkennung der Konventionsverletzung durch die innerstaatlichen Gerichte und die Sanktionen gegenüber den betroffenen Beamten nicht für ausreichend, um dem Bf. den Opfer-Status i.S.v. Art. 34 EMRK zu entziehen, und stellt fest, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliegt.
Dagegen sieht der EGMR keine Verletzung der Verteidigungsrechte aus Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK: «(…) ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das zweite Geständnis des Bf. in der Hauptverhandlung ̶ für sich genommen oder bestätigt durch weitere makellose Sachbeweise ̶ die Grundlage für seine Verurteilung wegen Mordes in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub bildete. Die beanstandeten sachlichen Beweismittel waren nicht erforderlich und wurden auch nicht verwertet, um seine Schuld zu beweisen oder seine Strafe festzusetzen. Es kann daher gesagt werden, dass die Kausalkette zwischen den verbotenen Ermittlungsmethoden und der Verurteilung des Bf. in Bezug auf die beanstandeten sachlichen Beweismittel unterbrochen war.» (Seite 417)
Dem Urteil sind drei teilweise zustimmende, teilweise abweichende Sondervoten beigegeben. (Seiten 440, 441, 444).
EGMR verneint eine Verpflichtung der EMRK-Vertragsstaaten zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe / Schalk und Kopf gegen Österreich
«Obwohl, wie bereits im Fall Christine Goodwin festgehalten, das Institut der Ehe bedeutende gesellschaftliche Veränderungen seit der Verabschiedung der Konvention erfahren hat, stellt der Gerichtshof fest, dass kein europäischer Konsens hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Ehe besteht. Derzeit erlauben gerade einmal sechs von 47 Konventionsstaaten die gleichgeschlechtliche Ehe. (…)
In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die Ehe tief verwurzelte soziale und kulturelle Konnotationen hat, die von der einen zur anderen Gesellschaft weit auseinandergehen können. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nicht voreilig sein eigenes Urteil an die Stelle desjenigen der nationalen Behörden setzen darf, welche am besten in der Lage sind, die Bedürfnisse einer Gesellschaft zu beurteilen und darauf zu reagieren.» (Seite 445)
Zum vorstehenden Urteil siehe den Aufsatz von Rebekka Wiemann, EuGRZ 2010, 408 (in diesem Heft).
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, betont die uneingeschränkte und jederzeitige Vorlage-Freiheit jedes nationalen Richters an den EuGH gerade auch bei sich überschneidenden verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Prüfungszuständigkeiten / Rsn. Melki und Abdeli
Rechtlicher Hintergrund ist die Einführung einer konkreten Normenkontrolle vor dem französischen Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) nach Vorprüfung der Richtervorlage durch den Kassationshof (Cour de cassation) oder den Staatsrat (Conseil d'État) im Rahmen der Umsetzung der Verfassungsreform 2008 per 1. März 2010 (Art. 61-1 n.F. franz. Verfassung).
Im Ausgangsverfahren hatten zwei illegal in Frankreich sich aufhaltende algerische Staatsbürger, die bei einer Polizeikontrolle im grenznahen Bereich zu Belgien festgenommen worden waren, vor dem Haftrichter in Lille gegen die Rechtmäßigkeit ihrer Verwaltungshaft argumentiert. Sie machen geltend, die gem. Art. 78-2 Abs. 4 StPO durchgeführte Polizeikontrolle, bei der ihr illegaler Aufenthalt festgestellt wurde, verstoße gegen Unionsrecht und sei deshalb verfassungswidrig.
Der Haftrichter legte die genannte Rechtsfrage dem Kassationshof mit dem Antrag vor, dass dieser sie als vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit dem Verfassungsrat übermittle.
Der Kassationshof hingegen ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung.
Der EuGH antwortet auf die Vorlagefragen: «Soweit das nationale Recht die Verpflichtung vorsieht, ein Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit einzuleiten, das das nationale Gericht daran hindern würde, eine nationale gesetzliche Bestimmung, die es als unionsrechtswidrig ansieht, sofort unangewandt zu lassen, ist Voraussetzung für das Funktionieren des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Systems gleichwohl, dass es diesem Gericht freisteht, zum einen jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich ist, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und zum anderen nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens die betreffende nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen, wenn es sie als unionsrechtswidrig ansieht.
Zudem ist zu unterstreichen, dass die Vorrangigkeit eines Zwischenverfahrens zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit eines nationalen Gesetzes, dessen Inhalt sich auf die Umsetzung zwingender Bestimmungen einer Unionsrichtlinie beschränkt, nicht die alleinige Zuständigkeit des Gerichtshofs beeinträchtigen darf, eine Handlung der Union und insbesondere eine Richtlinie für ungültig zu erklären, da diese Zuständigkeit Rechtssicherheit gewährleisten soll, indem sie die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherstellt.»
Die in Art. 78-2 Abs. 4 StPO vorgesehenen anlasslosen polizeilichen Identitätskontrollen im grenznahen Raum (20 km) sind nicht mit Unionsrecht (Schengener Grenzkodex) vereinbar, wenn die gesetzliche Regelung ̶ wie hier ̶ keinen Rahmen vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der polizeilichen Kontrollbefugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. (Seite 452)
Französischer Kassationshof (Cour de cassation), Paris, lehnt Antrag eines Haftrichters auf Vorlage zur vorrangigen Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Polizeikontrollen nach Art. 78-2 StPO durch den Verfassungsrat ab
Auf die vorstehende Vorabentscheidung des EuGH (Rsn. Melki und Abdeli) gestützt, stellt der Kassationshof fest, dass die genannte Vorschrift den unionsrechtlichen Vorgaben nicht genügt, und beschränkt sich darauf, dem Haftrichter in Lille aufzugeben, die daraus folgenden Konsequenzen zu ziehen. (Anm.d.Red., Seite 461)
Zur Einführung der konkreten Normenkontrolle in Frankreich cf. Hans-Georg Franzke, EuGRZ 2010, 414 (in diesem Heft).
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert die Reichweite von Verursacherprinzip und Umwelthaftung nach der RL 2004/35/EG / Rs. ERG
Im Ausgangsverfahren geht es um die Sanierung von Umweltverschmutzungen, die von den italienischen Behörden den Betrieben eines petrochemischen Zentrums auf Sizilien zugerechnet werden.
Der EuGH stellt fest, die einschlägigen Vorschriften der maßgeblichen RL seien «dahin auszulegen, dass die zuständige Behörde, wenn sie beschließt, Betreibern, deren Tätigkeiten unter Anhang III der Richtlinie fallen, Maßnahmen zur Beseitigung von Umweltschäden aufzuerlegen, den Betreibern, deren Tätigkeiten für die Umweltschäden verantwortlich gemacht werden, weder vorsätzliches noch fahrlässiges Handeln, noch eine Schädigungsabsicht nachzuweisen braucht. Sie muss dagegen zum einen zuvor nach der Ursache der festgestellten Verschmutzung suchen, wobei sie über ein weites Ermessen in Bezug auf die Verfahren, die einzusetzenden Mittel und die Dauer einer solchen Untersuchung verfügt. Zum anderen ist sie verpflichtet, nach den nationalen Beweislastregeln einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Tätigkeiten der Betreiber, die die Sanierungsmaßnahmen durchführen sollen, und der betreffenden Verschmutzung nachzuweisen.» (Seite 462)
EuGH bestätigt Verweigerung des Zugangs zu bestimmten Teilen eines Gemeinschaftsdokuments aus einem Vertragsverletzungsverfahren gegen das Vereinigte Königreich / Rs. Bavarian Lager
Es geht um ein Treffen von Kommissionsbeamten mit dritten Personen, deren Identität nicht mitgeteilt wird. Dazu führt der EuGH aus: «Zunächst ist festzustellen, dass Bavarian Lager Zugang zu allen Informationen über das Treffen vom 11. Oktober 1996 einschließlich der von den Beteiligten in ihrer beruflichen Eigenschaft abgegebenen Meinungsäußerungen gewährt wurde. (…)
Es ist festzustellen, dass die Kommission durch die Weitergabe einer Fassung des streitigen Dokuments, in der die fünf Namen der Teilnehmer des Treffens vom 11. Oktober 1996 geschwärzt waren, nicht gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1049/2001 verstoßen und hinreichend die ihr obliegende Pflicht zur Transparenz beachtet hat. (…)
Da Bavarian Lager keine ausdrückliche rechtliche Begründung gegeben und kein überzeugendes Argument vorgetragen hat, um die Notwendigkeit der Übermittlung dieser personenbezogenen Daten darzutun, war es der Kommission nicht möglich, die verschiedenen Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen.» (Seite 469)
EuGH bestätigt Verweigerung des Zugangs zu einem Gemeinschaftsdokument aus einem Verfahren zur Kontrolle staatlicher Beihilfen / Technische Glaswerke Ilmenau (TGI)
Bestimmte Kommissionsakten sind geschützt, um den Zweck der Untersuchungshandlung zu gewährleisten. (Seite 477)
EuGH wertet die nach deutschem Recht uneingeschränkt zulässige Befristung von Arbeitsverträgen mit Arbeitnehmern ab 52 Jahren in § 14 Abs. 3 Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG) als eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung / Rs. Mangold
Grundsatzurteil aus dem Jahr 2005, das hier wegen des Sachzusammenhangs mit dem Ultra-vires-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (s.u. S. 497) nachgetragen wird.
«Das Gemeinschaftsrecht und insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen, nach der der Abschluss befristeter Arbeitsverträge mit Arbeitnehmern, die das 52. Lebensjahr vollendet haben, uneingeschränkt zulässig ist, sofern nicht zu einem vorhergehenden unbefristeten Arbeitsvertrag mit demselben Arbeitgeber ein enger sachlicher Zusammenhang besteht, entgegenstehen.
Es obliegt dem nationalen Gericht, die volle Wirksamkeit des allgemeinen Verbotes der Diskriminierung wegen des Alters zu gewährleisten, indem es jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt, auch wenn die Frist für die Umsetzung der Richtlinie noch nicht abgelaufen ist.» (Seite 483)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Immunität einer internationalen Organisation / hier: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel
Wegen der Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung durch schweizerische Behörden haben Gläubiger der Republik Argentinien keinen Zugriff auf Guthaben dieses Staates bei der BIZ.
Das BGer führt aus: «Nach herrschender Auffassung geniesst ein Staat für seine Hoheitsakte (acta iure imperii) Immunität und unterliegt er für seine nichthoheitlichen Akte (acta iure gestionis) der Gerichtsbarkeit und Zwangsgewalt des anderen Staates. Hingegen geniessen internationale Organisationen für alle ihre Handlungen Immunität. Die grundsätzlich absolute Immunität erklärt sich daraus, dass infolge des funktionellen Charakters der Rechtspersönlichkeit einer internationalen Organisation alle ihre Handlungen eng mit ihrem Organisationszweck in Verbindung stehen müssen (…).
Die BIZ verwaltet in ihrer Funktion als Bank der Zentralbanken Teile der Währungsreserven zahlreicher Länder und internationaler Finanzinstitutionen. Würden schweizerische Gerichte und Zwangsvollstreckungsorgane darüber entscheiden, ob und inwieweit Zentralbanken-Einlagen währungspolitisch gerechtfertigt sind, wäre die Beschwerdegegnerin in ihrer statutarisch vorgesehenen Funktion als internationale Zahlungsdrehscheibe für die Zentralbanken in entscheidender Weise behindert.» (Seite 489)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, weist Antrag von Nationalratsabgeordneten der FPÖ auf Anfechtung des Vertrags von Lissabon als unzulässig zurück
«Die Antragsteller stützen ihreAusführungen zur Antragslegitimation auf ihre Funktion als Nationalratsabgeordnete und auf die Behauptung, jeder Normunterworfene habe ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Mitwirkung an einer Gesamtänderung der Bundesverfassung. Die Antragsteller haben damit nicht im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen jede einzelne der Regelungen des ua. zur Gänze angefochtenen Vertrags von Lissabon bzw. jede einzelne angefochtene Bestimmung des Vertrags von Lissabon, des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union unmittelbar in ihre Rechtssphäre eingreift.» (Seite 493)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, grenzt seinen Anspruch auf Ultra-vires-Kontrolle europäischer Organe ein und sieht das Mangold-Urteil des EuGH nicht ultra vires
Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «1. a) Eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht kommt nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist. Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt.
b) Vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts ist dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlungen zu geben, soweit er die aufgeworfenen Fragen noch nicht geklärt hat.
2. Zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes ist zu erwägen, in Konstellationen der rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union innerstaatlich eine Entschädigung dafür zu gewähren, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat.
3. Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht.»
In der Begründung heißt es: «Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenz- ausweitung hinausliefe. Dass in den ̶ wie nach den institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen des Unionsrechts zu erwarten ̶ seltenen Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (…). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen.» (Seite 497)
Richter Landau fasst seine abweichende Meinung zum vorstehenden Urteil zusammen:«Die Senatsmehrheit überspannt die Anforderungen an die Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Gemeinschafts- oder Unionsorgane durch das Bundesverfassungsgericht und weicht insofern ohne überzeugende Gründe von dem Senatsurteil zum Vertrag von Lissabon ab (I.). Zu Unrecht verneint sie eine Kompetenzüberschreitung seitens des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold (II.). Auch das Bundesarbeitsgericht hat diese Kompetenzüberschreitung und die hieraus resultierenden Handlungsoptionen verkannt (III.).» (Seite 506)
BVerfG erklärt in Übereinstimmung mit dem EGMR den generellen Ausschluss des nichtehelichen Vaters von der Sorgeübertragung für sein Kind ohne Zustimmung der Mutter für verfassungswidrig und ordnet eine Übergangsregelung an
«Wenn sich aber damit die Annahme des Gesetzgebers nicht bestätigt, vielmehr davon auszugehen ist, dass in nicht unbeträchtlicher Zahl Mütter allein deshalb die Zustimmung zur gemeinsamen Sorge verweigern, weil sie ihr angestammtes Sorgerecht nicht mit dem Vater ihres Kindes teilen wollen, hängt der Zugang zur Sorgetragung von Vätern nichtehelicher Kinder in nicht zu vernachlässigender Zahl vom dominierenden Willen der Mutter ab und bleibt verschlossen, wenn sie hierzu nicht bereit ist, ohne dass damit feststeht, ob eine gemeinsame Sorge der Eltern dem Kindeswohl zu- oder abträglich ist. Dass Vätern bei Weigerung der Mutter, einer gemeinsamen Sorge zuzustimmen, gesetzlich nicht die Möglichkeit eingeräumt ist, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob eine gemeinsame Sorgetragung in ihrem Einzelfall nicht doch aus Kindeswohlgründen angezeigt sein könnte, beeinträchtigt deshalb das Elternrecht des Vaters gegenüber dem der Mutter in unverhältnismäßiger und damit nicht gerechtfertigter Weise.» (Seite 510)
BVerfG beanstandet die Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz in der bis Ende 2008 geltenden Fassung als gleichheitswidrig. (Seite 520)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde gegen Nichtgewährung von Hinterbliebenenrente an eingetragenen Lebenspartner wegen der zwischenzeitlich (1. Januar 2005) erfolgten Gesetzesänderung nicht zur Entscheidung an. (Seite 529)
BVerfG betont Rechtsschutz auch gegen kurzzeitige Unterbringung eines Strafgefangenen in einem Haftraum (Hannover) mit gewaltverherrlichenden und rassistischen Schmierereien
«Die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderte Achtung der Würde, die jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt (…), verbietet es grundsätzlich, Gefangene grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen auszusetzen (…). Dies gilt auch insoweit, als die Unerträglichkeit der Verhältnisse im Haftraum durch Verhaltensweisen anderer Gefangener bedingt ist, und betrifft auch mit physischem oder verbalem Kot beschmierte Haftraumwände.» (Seite 531)
BVerfG bestätigt nächtliches Alkohol-Verkaufsverbot (in der Zeit von 22 bis 5 Uhr) in Baden-Württemberg. Betroffen sind Ladengeschäfte aller Art sowie unter anderem auch Tankstellen, Bahnhöfe, Kioske und Basare. (Seite 534)
Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (EuGöD), Luxemburg, legt erste Fünfjahresbilanz vor. (Seite 535)BVerfG lehnt einstweilige Anordnung gegen nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung ab. (Seite 536)