EuGRZ 2011 |
28. Juni 2011
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38. Jg. Heft 10-12
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Informatorische Zusammenfassung
Brun-Otto Bryde, Gießen, findet mahnende Worte zur „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie“
Nach zehnjähriger Amtszeit als Richter des Bundesverfassungsgerichts erklärte Bryde bei seiner feierlichen Verabschiedung am 25. März 2011 in Karlsruhe u.a.:
«In der Frage der Legitimation richterlicher Politik in einer Demokratie hat man versucht, die Rechtfertigung im Begriff der „least dangerous branch“, also der harmlosesten der drei Gewalten zu finden: Man kann einem Gericht die Kontrolle der anderen Gewalten anvertrauen, weil es ungefährlicher ist, weder über Polizei noch Armee verfügt. Das ist eine etwas schwache Verteidigung. Außerdem stimmt sie nicht: Verfassungsgerichte können sehr gefährlich werden: an der Elfenbeinküste haben unsere Kollegen gerade einen blutigen Bürgerkrieg ausgelöst und – wem das zu exotisch ist – der Supreme Court in Washington, lange Vorbild aller Verfassungsgerichte, hat in Bush v. Gore die korrekte Auszählung einer Präsidentenwahl verhindert. Verfassungsgeschichte und Verfassungsvergleichung würden es erlauben, die Liste von Entscheidungen, die nicht nur richtig falsch waren, sondern Unheil angerichtet haben, zu erweitern.
Es ist daher ziemlich mutig von einer Demokratie, sich ein Verfassungsgericht zu geben. Sie tut das, weil sie es mit guten Gründen für noch gefährlicher hält, öffentliche Gewalt unkontrolliert zu lassen und die Grundrechte der Menschen unverteidigt. Und sie setzt dafür letztlich auf das im Amtseid gegebene Ehrenwort des Richters, dass er in seinen Entscheidungen nur Recht und Gewissen verantwortlich sein wird. (…)
Der gesellschaftliche Diskurs darüber, was eine menschenwürdige Gesellschaft ist, darf sich nicht auf das beschränken, was ein mit Recht zurückhaltendes Verfassungsgericht dem Art. 1 GG als unantastbaren Kern entnimmt, und das Nachdenken darüber, wie sich unsere Demokratie verbessern lässt, darf sich nicht in den Grenzen einer verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie einmauern lassen. (…)
Unser Gericht ist zwar mächtig, kann aber die Probleme der deutschen Politik von der wachsenden Ungleichheit über globale Finanzkrisen bis zum Klimawandel nicht lösen. Das kann nur die Demokratie selbst. Und deshalb sollten die Bürgerinnen und Bürger sich auch nicht zu sehr auf ein Gericht zur Lösung der Zukunftsfragen verlassen, etwas weniger Verfassungsbeschwerden einlegen und sich stärker für die Demokratie engagieren.» (Seite 237)
Andreas von Arnauld, Hamburg, kommentiert „Konven“tionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik – Neujustierung durch das Urteil des EGMR im Fall M.S.S../. Belgien und Griechenland“
«Mit dem Urteil in Sachen M.S.S. ./. Belgien und Griechenland hat die Große Kammer des EGMR erstmals in folgenreicher Weise in einen menschenrechtlich sensiblen Bereich der EU-Politik eingegriffen. Die Beschwerde eines Asylbewerbers, der auf Grund der Zuständigkeitsregeln der Dublin-II-VO von Belgien nach Griechenland abgeschoben worden war, hatte gegenüber beiden betroffenen Staaten Erfolg. Der Gerichtshof sah sowohl in den Zuständen im griechischen Asylsystem als auch in der – unionsrechtskonformen – Abschiebung durch die belgischen Behörden Verstöße gegen Art. 3 und Art. 13 EMRK.»
Der Autor setzt sich mit den Implikationen des Urteils für das Flüchtlingsrecht, das Verfahrensrecht des EGMR und für das Verhältnis von EMRK und Unionsrecht, inklusive Grund“rechte“charta, auseinander:
«Fundamentale Folgen hat das Urteil für „normative Vergewisserungen“ innerhalb der Rechtsgemeinschaft der EU – nicht nur im Asylrecht, sondern z. B. auch für Auslieferungen etwa auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls. Damit wird zugleich ein Fundamentalprinzip des Unionsrechts unter menschenrechtlichen Vorbehalt gestellt: Auch jenseits von Art. 7 EUV beruht die Union auf dem Vertrauen darauf, dass die Mitgliedstaaten sich nicht nur zu den gemeinsamen Werten bekennen, sondern diesen auch zu realer Wirksamkeit verhelfen. Das Vertrauen in die effektive Rechtstreue aller Mitgliedstaaten ist die unerlässliche Basis für Kooperation und Aufgabenteilung im EU-Verwaltungsverbund. Allzu lange hatte der Ausbau dieses Verbundes den Menschen mit seinen Rechten aus dem Blick verloren; nur so konnten die seit langem bekannten Zustände in Griechenland im Vollzug des Dubliner Rechts jahrelang ignoriert werden. Die EU bedurfte der Erinnerung durch den EGMR, dass auch in der Union Menschenrechte nicht bloß „theoretisch oder illusorisch […], sondern […] praktisch und effektiv“ sein müssen. Solange ein Mitgliedstaat die Einhaltung der menschenrechtlichen Standards nicht gewährleisten kann, stößt die Verwaltungskooperation in der EU an ihre Grenzen. Auf die anderen Mitgliedstaaten kommen hierdurch weitergehende Pflichten zu. Mittelbar werden die stärkeren Mitgliedstaaten somit zur Hilfe für schwächere Partner gedrängt. Der Charakter der Union als solidarischer Verbund beschränkt sich eben nicht allein auf die gegenwärtig intensiv diskutierte Staatsschuldenproblematik. Hierfür die Augen geöffnet zu haben, ist ein weiteres Verdienst des M.S.S.-Urteils. (…)
Einiges Potenzial dürfte schließlich der Umgang mit Beweislasten haben, wenn systemische Defizite in den Rechtsordnungen eines Konventionsstaates die Ursache gehäufter Beschwerden bilden. Der Gerichtshof hat sich hier ein Instrument geschaffen, um in Massenverfahren den eigenen Prüfungsaufwand zu reduzieren. In Verbindung mit dem Muster- oder Pilotverfahren könnte dies zu einer Entlastung des EGMR beitragen. Zugleich können auf diese Weise die Probleme dorthin verlagert werden, wo sie im Mehrebenensystem des europäischen Menschenrechtsschutzes vorrangig zu lösen sind.» (Seite 238)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in den unhaltbaren Missständen im griechischen Asylsystem eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK / M.S.S.gegen Belgien und Griechenland
Der EGMR (Große Kammer) beschreibt die für einen Mitgliedstaat der Europäischen Union im Grunde unglaublichen Verhältnisse in den griechischen Asylbewerber-Haftzentren ausführlich. Er stützt sich u.a. auch auf Berichte des Anti-Folter-Komitees des Europarates (CPT), des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge und einer Reihe von vertrauenswürdigen Nichtregierungsorganisation wie Amnesty International und Médecins sans Frontières, die von der griechischen Regierung nicht ausdrücklich bestritten werden:
«Der Gerichtshof bemerkt, dass gemäß den Befunden derjenigen Organisationen, welche die Haftanstalt am Flughafen [Athen] besucht haben, der Sektor für Asylsuchende selten aufgeschlossen wurde sowie dass die Inhaftierten keinen Zugang zu dem sich außerhalb befindenden Trinkbrunnen hatten und dass sie Wasser aus den Toiletten trinken mussten. Im Sektor für verhaftete Personen befanden sich 145 Inhaftierte auf einer Fläche von 110 m². In einigen Zellen befand sich nur ein Bett für vierzehn bis siebzehn Personen. Es gab nicht genug Matratzen und einige Inhaftierte schliefen auf dem Fußboden. Die Inhaftierten hatten nicht ausreichend Platz, um sich gleichzeitig hinzulegen und zu schlafen. Durch die Überbelegung fehlte es an ausreichender Belüftung und in den Zellen wurde es unerträglich heiß. Der Zugang der Inhaftierten zu den Toiletten wurde stark beschränkt und sie beschwerten sich darüber, dass die Polizei sie nicht auf die Flure ließ. (…) In allen Sektoren wurde beobachtet, dass es keine Seife und kein Toilettenpapier gab, dass die Sanitär- und sonstigen Anlagen schmutzig waren, dass die Sanitäranlagen keine Türen hatten und dass den Inhaftierten jeglicher Ausgang an der frischen Luft verwehrt wurde.»
Der Bf. war aus Afghanistan geflohen, weil er wegen seiner Tätigkeit als Dolmetscher für die in Kabul stationierten internationalen Luftstreitkräfte Repressalien der Taliban ausgesetzt sei. Nachdem der Bf. zunächst in Griechenland angekommen war, versuchte er den Verhältnissen dort zu entgehen, indem er sich nach Belgien durchschlug und dort Asyl beantragte. Belgien schickte ihn nach Griechenland zurück. Hierin sieht der EGMR, auch wenn dies mit den relevanten Vorschriften der EU vereinbar war, ebenfalls eine Verletzung von Art. 3 bzw. von Art. 13 i.V.m. Art 3. (Seite 243)
Siehe zu diesem Urteil im Einzelnen den Kommentar von Andreas von Arnauld, EuGRZ 2011, 238.
EGMR bestätigt seine Rechtsprechung, wonach eine nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die zur Tatzeit geltende Höchstdauer von zehn Jahren hinaus gegen das Verbot rückwirkender Strafgesetze (nulla poena sine lege, Art. 7 Abs. 1 EMRK) verstößt und eine nicht gerechtfertigte Freiheitsentziehung (Art. 5 Abs. 1 EMRK) ist / Kallweit gegen Deutschland
Der EGMR (Fünfte Sektion) setzt sich mit der zum Teil divergierenden innerstaatlichen Rechtsprechung auseinander, die nach dem Grundsatz-Urteil des EGMR im Fall M. gegen Deutschland (EuGRZ 2010, 25) und vor dem Urteil des BVerfG vom 4. Mai 2011 (Zweiter Senat, in diesem Heft S.297) zur Sicherungsverwahrung insgesamt erging. (Seite 255)
EGMR streicht Beschwerde im Register nach „Lösung“ des Falles i.S.d. Art 37 EMRK / hier: nichtehelicher Vater erhält das Sorgerecht, und das Kind lebt bei ihm / Görgülü und Fischer gegen Deutschland
Die Rüge der überlangen Verfahrensdauer bzgl. des Umgangsrechts (2 J., 3 M. über drei Instanzen) und bzgl. des Sorgerechts (3 J., 7 M. über vier Instanzen) ist in Anbetracht der Besonderheiten des innerstaatlichen Verfahrens (u.a. mehrfache Einwirkung des BVerfG auf OLG Naumburg) offensichtlich unbegründet und demzufolge unzulässig. (Seite 264)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, zieht den Rechten aus Unionsbürgerschaft bei rein innerstaatlichem Sachverhalt Grenzen / Rs. McCarthy
«Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG (…) über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (…) ist dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Unionsbürger, der noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, der sich stets in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufgehalten hat und der sich im Übrigen im Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats befindet, nicht anwendbar ist.» Dasselbe gilt für Art. 21 AEUV.
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs und besitzt auch die irische Staatsangehörigkeit. Sie ist im Vereinigten Königreich geboren und hat stets dort gelebt, ohne jemals geltend gemacht zu haben, eine Arbeitnehmerin, Selbständige oder wirtschaftlich unabhängige Person zu sein. Sie bezieht staatliche Sozialleistungen. Nach ihrer Eheschließung mit einem jamaikanischen Staatsangehörigen, der nach den zuwanderungsrechtlichen Vorschriften des Vereinigten Königreichs in diesem Mitgliedstaat nicht aufenthaltsberechtigt ist, beantragte sie zum ersten Mal überhaupt einen irischen Reisepass, der ihr ausgestellt wurde. Sie beantragte sodann in England zusammen mit ihrem Ehemann eine Aufenthaltserlaubnis und eine Aufenthaltsurkunde nach Unionsrecht für sie als Unions“bürgerin bzw. für ihn als Ehegatte einer Unionsbürgerin. Die genannten Anträge wurden abgelehnt. Der nunmehr befasste Supreme Court legte an den EuGH vor. (Seite 268)
EuGH bestätigt nichtstaatlichen Umweltorganisationen Klagerecht zur Durchsetzung unionsrechtlicher Umweltschutzvorschriften / Rs. Trianel Kohlekraftwerk Lünen
Dieses aus den einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften hergeleitete Klagerecht ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil nach innerstaatlichem (deutschen) Recht ein Verwaltungsakt nur vor Gericht angegriffen werden kann, wenn der Kläger in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten betroffen ist, nicht aber, wenn es (nur) um die Interessen der Allgemeinheit geht. (Seite 273)
EuGH zu versorgungsrechtlicher Diskriminierung wegen sexueller Ausrichtung / Rs. Römer
Es geht um Schlechterstellung bei eingetragener Lebenspartnerschaft gegenüber Verheirateten. Ein Kläger kann sich allerdings auf Art. 2 RL 2000/78 frühestens ab Ablauf der Umsetzungsfrist für diese RL berufen, d.h. ab dem 3. Dezember 2003, wobei er nicht abwarten muss, dass der nationale Gesetzgeber das innerstaatliche Recht mit dem Unionsrecht in Einklang bringt. (Seite 278)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, setzt stattgebendes Urteil des EGMR im Fall Schlumpf zur Kostenübernahme einer Geschlechtsanpassungsoperation durch die obligatorische Krankenversicherung um / Kritik am EGMR
In der Sache wendet sich die (zum maßgeblichen Zeitpunkt 67 Jahre alte) Klägerin dagegen, dass ihr die Krankenkasse die Kostenerstattung in Höhe von 42.730,– SFr. mit der Begründung verweigert, der operative Eingriff sei vor Ablauf der – nach der Rechtsprechung des (damaligen) Eidgenössischen Versicherungsgerichts vorausgesetzten – zweijährigen Beobachtungszeit vorgenommen worden.
Der EGMR hatte in seinem Urteil vom 8. Januar 2009 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) festgestellt und Ersatz für immateriellen Schaden zugesprochen.
Das BGer kritisiert die offensichtlich aktenwidrige Sachverhaltsfeststellung des EGMR, die Bf. habe keinen materiellen Schaden geltend gemacht, und gleicht diesen Nachteil verfahrensrechtlich aus. Das BGer führt aus: «Die Revision des EVG-Urteils kann ihr mithin nicht mit der formalen Begründung verweigert werden, ein materieller Schaden sei im EMRK-Verfahren nicht behauptet worden; letztere offensichtlich aktenwidrige Sachverhaltsfeststellung des EGMR bindet das Bundesgericht nicht.»
Zum Zweiten beanstandet das BGer, der EGMR habe in seinem Urteil eine Betrachtungsweise verlangt, die allenfalls eine Ausnahme von der „Zweijahres-Regel“ zu begründen vermöchte und damit «in concreto über eine (juristische) Frage der Rechtserheblichkeit entschieden, deren Beantwortung im versicherungsrechtlichen Kontext von den massgebenden innerstaatlichen Rechtsnormen abhängt. Im Ergebnis hat er damit (…) materiellrechtlich Einfluss genommen auf die landesrechtliche Ausgestaltung einer obligatorischen Sozialversicherungsleistung, auf welche die EMRK selbst keinen Anspruch gibt. Man könnte sich fragen, ob der EGMR damit nicht seine ihm in den Art. 19 und 34 EMRK übertragenen Zuständigkeiten überschritten hat.»
Das BGer stellt in seinem Revisionsurteil die der Bf. günstige Entscheidung der ersten Instanz (Versicherungsgericht Aargau) wieder her, in dem der Versicherung aufgegeben wird, zusätzliche Abklärungen vorzunehmen. (Seite 284)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, sieht in einer landesrechtlichen (Niederösterreich, NÖ) Vorschrift zum Anbringen eines Kreuzes in Kindergärten mit mehrheitlich christlichen Kindern weder eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) nichtchristlicher Kinder noch eine Verletzung des Erziehungsrechts atheistischer Eltern (Art. 2 des 1. ZP-EMRK)
Der VfGH führt u.a. aus: «Das Kreuz ist ohne Zweifel zu einem Symbol der abendländischen Geistesgeschichte geworden. Darüber hinaus war es stets und ist es auch heute ein religiöses Symbol christlicher Kirchen. Das bedeutet vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund, vor dem die angefochtene gesetzliche Regelung insgesamt zu beurteilen ist, aber nicht, dass dem Gesetzgeber bei systematischer und verfassungskonformer Auslegung des Gesetzes eine – von der Zweit“antragstellerin angenommene – staatliche Äußerung einer Präferenz für eine bestimmte Religion oder gar einer Glaubensüberzeugung zugesonnen werden könnte: (…)
Schließlich spricht dagegen zum einen der Umstand, dass die Anbringung des Kreuzes (allein) davon abhängig gemacht wird, dass die Mehrzahl der Kindergartenkinder einem christlichen Religionsbekenntnis angehört. Zum anderen bestätigt eine systematische, das Regelungsumfeld des § 12 Abs. 2 NÖ Kindergartengesetz und die verfassungsrechtlichen Zielbestimmungen berücksichtigende Sicht die Annahme, dass die Anbringung von Kreuzen in Kindergärten nicht staatliche „Glaubensüberzeugungen“ zum Ausdruck bringt, sondern vielmehr die Deutungshoheit über das Kreuz beim einzelnen Kind bzw. bei dessen Eltern belässt.» (Seite 291)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die Sicherungsverwahrung de lege lata für verfassungswidrig und verpflichtet den Gesetzgeber zu einer umfassenden Neuregelung bis Ende Mai 2013
Ausgelöst wurde die Änderung der Rechtsprechung des Zweiten Senats durch das Grundsatz-Urteil des EGMR (Fünfte Sektion) im Fall M. gegen Deutschland (EuGRZ 2010, 25), das in der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung über die bis Januar 1998 geltende Höchstdauer von zehn Jahren hinaus – im Ergebnis anders als das BVerfG (EuGRZ 2004, 73) – eine nicht durch Art. 5 Abs. 1 EMRK gerechtfertigte Freiheitsentziehung und einen Verstoß gegen das Verbot rückwirkender Strafgesetze in Art. 7 Abs. 1 EMRK sieht.
Hierzu lautet der erste Leitsatz des BVerfG-Urteils vom 4. Mai 2011: «Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, stehen rechtserheblichen Änderungen gleich, die zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können.»
In der Urteilsbegründung wird ausgeführt: «Die Heranziehung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe auf der Ebene des Verfassungsrechts über den Einzelfall hinaus dient dazu, den Garantien der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen, und kann darüber hinaus Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland vermeiden helfen.(…) Art. 1 Abs. 2 GG ist daher zwar kein Einfallstor für einen unmittelbaren Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Vorschrift ist aber mehr als ein unverbindlicher Programmsatz, indem sie eine Maxime für die Auslegung des Grundgesetzes vorgibt und verdeutlicht, dass die Grundrechte auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind und diese als Mindeststandard in sich aufgenommen haben.»
Bei der Urteilsverkündung hat BVerfG-Präsident Voßkuhle, der zusammen mit Richter Landau Berichterstatter war, angesichts des ungewöhnlich komplizierten Tenors die zentralen Aussagen der Entscheidung für die Anwesenden in einer Vorbemerkung zusammengefasst. Darin heißt es:
«Sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung sind mit dem Freiheitsgrundrecht der Untergebrachten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 des Grundgesetzes unvereinbar, weil sie den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Abstandsgebots nicht genügen. Danach hat der Gesetzgeber dem besonderen Charakter der Sicherungsverwahrung, die sich in ihrer Zwecksetzung und ihrer Legitimation deutlich vom Strafvollzug unterscheidet, durch ein freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept Rechnung zu tragen, das den allein präventiven Charakter der Maßregel sowohl gegenüber dem Untergebrachten als auch gegenüber der Allgemeinheit deutlich macht. Weder die bestehenden gesetzlichen Regelungen noch der derzeitige Vollzugsalltag erfüllen diese Anforderungen.
Darüber hinaus verletzen die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.»
Das BVerfG ordnet gem. § 35 BVerfGG im Tenor unter III. 2. b) an, dass die Vollstreckungsgerichte unverzüglich nach Verkündung des Urteils zu überprüfen haben, ob die in dem Urteil genannten Voraussetzungen für die Fortdauer der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung gegeben sind. Wenn nicht, ist die Freilassung der Betroffenen bis spätestens zum 31. Dezember 2011 anzuordnen. (Seite 297)
BVerfG hält eine medizinische Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug bei krankhaft bedingter fehlender Einsichtsfähigkeit unter klaren und bestimmten gesetzlichen Kautelen für zulässig
Diesen Anforderungen genügt § 6 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln nicht. Die Bestimmung wird wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG für nichtig erklärt. (Seite 321)
Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, bestätigt die Unpfändbarkeit einer vom EGMR wegen immateriellen Schadens zugesprochenen Entschädigung (hier: wegen überlanger Verfahrensdauer)
Der Betrag fällt demzufolge nicht in die Insolvenzmasse. Dasselbe gilt für die zuerkannte Erstattung der Kosten für das Verfahren vor dem EGMR. (Seite 333)
Anti-Folter-Komitee des Europarates (CPT) rügt Griechenland wegen fortdauernder Untätigkeit angesichts unhaltbarer Zustände in Asylbewerber-Lagern und Gefängnissen
Die öffentliche Erklärung ist eine außergewöhnliche Sanktion und ist in der über 20-jährigen Praxis des CPT zuvor insgesamt nur fünfmal angewendet worden: zweimal gegenüber der Türkei und dreimal gegenüber Russland, und zwar wegen Tschetschenien. (Seite 337)
BVerfG untersagt mit einstweiliger Anordnung die Zwangsbehandlung eines Maßregelpatienten gegen dessen Willen mit dem Neuroleptikum Abilify. (Seite 339)