EuGRZ 2012 |
31. August 2012
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39. Jg. Heft 13-16
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Informatorische Zusammenfassung
Daniel Ulber, Köln, analysiert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung im Zivilrecht
Der Autor fasst zusammen: «Das BVerfG hat mit seiner Rechtsprechung eine ausgewogene Lösung für den Konflikt zwischen der Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung und der Wahrung gegenläufiger verfassungsrechtlicher Prinzipien gefunden. Dabei wird deutlich, dass es das Grundanliegen verfolgt, den Vorrang der Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zu wahren. Bei Durchsicht der Rechtsprechung des BVerfG zeigt sich allerdings, dass dies kein neuer Gedanke der Rechtsprechung ist. Er wird neuerdings aber deutlicher akzentuiert. Gleichzeitig gibt das BVerfG den Gerichten einen hinreichenden Spielraum, um Lücken im Konzept des Gesetzgebers zu füllen und den effektiven Grundrechtsschutz der Bürger gegebenenfalls auch durch die richterliche Rechtsfortbildung zu gewährleisten. Dabei führen die Außenschranken für die Rechtsfortbildung dazu, dass grundrechtsverletzende Rechtsfortbildungen ebenso verfassungsrechtlich abgefangen werden können wie die Missachtung des Gewaltenteilungsgrundsatzes. Mehr kann und darf das BVerfG nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung nicht leisten. Daher sollten an die verfassungsgerichtliche Kontrolle hier keine überzogenen Erwartungen gestellt werden. Die Rechtsprechung des BVerfG mahnt dazu, nicht bei jeder Rechtsfortbildung sofort verfassungsrechtliche Argumente zu mobilisieren, um diese anzugreifen, sondern sich dem Diskurs über die einfachrechtlich richtige Lösung zu stellen. Dass diese Sicht es dem Gesetzgeber jedenfalls teilweise möglich macht, sich aus der Verantwortung zu stehlen und die Gerichte mit insuffizienten Normkomplexen allein zu lassen, steht auf einem anderen Blatt.» (Seite 365)
Rüdiger Zuck, Stuttgart, hinterfragt die Geldwäscheprävention im Nicht-Finanzsektor
Zum Ausgangspunkt: «Mit Geldwäsche wird die Einschleusung illegal erwirtschafteter Vermögenswerte in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf bezeichnet. Die illegal erlangten Vermögenswerte stammen aus der gesamten vermögensrelevanten Kriminalität. Die Strafverfolgung erfasst primär den Einzeltäter. Kriminalpolitisch ist die Bekämpfung der Geldwäsche aber Bestandteil der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) und der Transnationalen Organisierten Kriminalität (TOK). Ihre klassischen Geschäftsfelder sind der Drogen-, Organ-, Menschen- und Waffenhandel, Prostitution, Glücksspiel, Subventionsbetrug und die illegale Beschäftigung. Die auf diesen Sektoren erzielten Umsätze werden weltweit mit 1,6 Billionen US-Dollar jährlich veranschlagt. In Deutschland geht man nach den Feststellungen der Financial Action Task Force (FATF) von jährlich rund 60-80 Mrd. US-Dollar aus. (…)
Geldwäsche ist primär ein Thema von Sanktionen, vgl. § 261 StGB. Der vorliegende Beitrag befasst sich jedoch allein mit der Prävention. Es ist sicherlich erstrebenswerter, durch vorbeugende Maßnahmen den Umfang strafbarer Handlungen zu reduzieren.
Geldwäsche findet, wie der Kreis der Verpflichteten in § 2 GwG zeigt, in großem Stil auf dem Finanzsektor statt. Wegen seiner flächendeckenden Anwendungsmöglichkeiten und der insoweit häufig fehlenden einschlägigen Kenntnisse der Verpflichteten verdient jedoch vor allem der Nicht-Finanzsektor besondere Aufmerksamkeit. Er lässt sich in drei Gruppen aufschlüsseln: die Freien Berufe, die Spielbanken und die sonstigen Berufsgruppen (in der Regel gekennzeichnet durch ihren Bezug zu gewerblicher Tätigkeit).»
Die Schlussfolgerung: «Die Geldwäscheprävention im Nicht-Finanz-Sektor macht nach ihrem bisherigen Stand die Bundesrepublik weitgehend zu einem Geldwäscheparadies. Das betrifft zum einen den Online-Sektor bei den Spielbanken. Es betrifft aber vor allem die Inhalte der Aufsicht. Unter dem Druck von Vertragsverletzungsverfahren durch die EG hat die Bundesrepublik inzwischen zwar, nach jahrelangem (unverständlichen) Zögern ein lückenloses Kompetenz-Instrumentarium geschaffen. Niemand weiß aber, wie diese Kompetenzen sachgerecht gehandhabt werden sollen.» (Seite 377)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in nachträglich verhängter Sicherungsverwahrung wegen fehlenden Kausalzusammenhangs mit der Verurteilung zu der eigentlichen Freiheitsstrafe eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK / B. gegen Deutschland
Folgeentscheidung zu dem Grundsatz-Urteil im Fall M. gegen Deutschland, EuGRZ 2010, 25.
«Der Gerichtshof verweist auf seine einschlägige ständige Rechtsprechung, dass „Verurteilung“ nach Art. 5 Abs. 1 lit. a die Schuldfeststellung wegen einer Straftat und die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet (…). Wie in den vorzitierten Urteilen des Gerichtshofs (…) klargestellt, erfüllt nur das Urteil eines erkennenden Gerichts, mit dem eine Person einer Straftat für schuldig erklärt wird, die Anforderungen der „Verurteilung“ im Sinne der in Rede stehenden Bestimmung. Die Entscheidung eines Strafvollstreckungsgerichts, der betreffenden Person weiter die Freiheit zu entziehen, erfüllt das Erfordernis der „Verurteilung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a hingegen nicht, da sie keine (neue) Schuldfeststellung mehr beinhaltet. Gleiches gilt auch für ein Urteil, mit dem die Sicherungsverwahrung einer Person wegen einer früheren Straftat, derentwegen der Betroffene bereits verurteilt worden war, rückwirkend angeordnet wird.
In der vorliegenden Rechtssache kann demnach nur das Urteil des Landgerichts Coburg vom 14. Februar 2000, mit dem der Bf. wegen Vergewaltigung mit Waffen verurteilt wurde, als „Verurteilung“ im Sinne der Konvention gewertet werden. Das Urteil des Landgerichts Coburg vom 8. Oktober 2008, mit dem die Sicherungsverwahrung des Bf. wegen derselben Straftat nachträglich angeordnet worden war, enthielt keine Schuldfeststellung wegen einer (neuen) Straftat und kann daher nicht als „Verurteilung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a angesehen werden.
Daher wäre die Sicherungsverwahrung des Bf. nach Art. 5 Abs. 1 lit. a nur gerechtfertigt, wenn sie „nach“ seiner „Verurteilung“ wegen Vergewaltigung mit Waffen durch das Landgericht Coburg im Februar 2000 erfolgt wäre. Es hätte also ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen dieser Verurteilung und der Sicherungsverwahrung des Bf. seit dem 11. Juli 2008 bestehen müssen.
Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass im besagten Urteil des erkennenden Gerichts die Sicherungsverwahrung des Bf. neben seiner eigentlichen Freiheitsstrafe nicht angeordnet worden war. Hinzugefügt sei, dass die Verurteilung des Bf. zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal die Möglichkeit einschloss, ihn nachträglich in der Sicherungsverwahrung unterzubringen. Die Bestimmung, § 66b Abs. 2, auf der die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Bf. beruhte, war erst im Juli 2004 – nach seiner Straftat und Verurteilung – in das Strafgesetzbuch eingefügt worden (…).
Folglich bestand zwischen der Verurteilung des Bf. im Jahr 2000 und seiner nachträglichen Sicherungsverwahrung seit Juli 2008 kein hinreichender Kausalzusammenhang. Demnach war seine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 lit. a nicht gerechtfertigt.» (Seite 383)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, qualifiziert das von einem Hoheitsträger als Datenbank aufgrund gesetzlicher Meldepflichten der Unternehmen geführte Gesellschaftsregister (österreichisches Firmenbuch) als hoheitliche Tätigkeit / Rs. Compass-Datenbank
«Was den Umstand betrifft, dass die in einer solchen Datenbank enthaltenen Daten interessierten Personen gegen ein Entgelt bereitgestellt werden, ist darauf hinzuweisen, dass nach der in den Randnrn. 38 und 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Vereinnahmung eines solchen Entgelts als mit der Bereitstellung untrennbar verbunden anzusehen sein kann, sofern die Kosten oder Gebühren für die Offenlegung der betreffenden Informationen nicht unmittelbar oder mittelbar von der öffentlichen Einheit bestimmt werden, sondern gesetzlich vorgesehen sind. Damit kann die Vereinnahmung der Kosten oder Gebühren für die Offenlegung dieser Informationen durch die Republik Österreich an der rechtlichen Einstufung dieser Tätigkeit nichts ändern, so dass diese keine wirtschaftliche Tätigkeit [i.S.v. Art. 102 AEUV] darstellt.
Hierzu ist festzustellen, dass nach den Informationen im Vorlagebeschluss die Republik Österreich das Firmenbuch und die darauf beruhende Datenbank führt, während die Verrechnungsstellen, die im Rahmen einer Ausschreibung ausgewählt werden, die Verbindung zwischen dem Endkunden und dieser Datenbank herstellen und die (…) vorgesehenen Gebühren erheben, die sie an die Republik Österreich abführen. (…)
Insoweit ist davon auszugehen, dass eine öffentliche Einheit, die eine Datenbank erstellt und sich sodann zum Schutz der in diese Datenbank aufgenommenen Daten auf Rechte des geistigen Eigentums, vor allem das genannte Schutzrecht sui generis, beruft, nicht allein aus diesem Grund unternehmerisch tätig ist. Eine öffentliche Einheit ist nicht verpflichtet, die freie Verwendung der von ihr erfassten und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Daten zu gestatten. Wie die Republik Österreich bemerkt, kann ein Hoheitsträger zu Recht davon ausgehen, dass es erforderlich und nach seinen nationalen Rechtsvorschriften sogar geboten ist, die Weiterverwendung der Daten, die in einer Datenbank wie der des Ausgangsverfahrens enthalten sind, zu untersagen, damit das Interesse, das die Gesellschaften und die sonstigen Rechtsträger, die gesetzlich vorgeschriebene Erklärungen abgeben, daran haben, dass die sie betreffenden Informationen nicht außerhalb dieser Datenbank weiterverwendet werden, gewahrt wird.» (Seite 393)
EuGH bekräftigt, dass eine unionsrechtliche Verwaltungssanktion die strafrechtliche Ahndung von Beihilfebetrug nicht hindert und der Grundsatz ne bis in idem nicht berührt ist / Rs. Bonda
Der Kläger des Ausgangsverfahrens hatte im Beihilfeantrag die von ihm bestellten landwirtschaftlichen Flächen fast doppelt so groß als in Wirklichkeit angegeben (212,78 ha statt 113,49 ha). Die Sanktion nach Art. 138 Abs. 1 der VO (EG) 1973/2004bestand in dem Ausschluss der Flächenzahlungen in Höhe der Differenz zwischen der falschen und der wirklichen Flächenzahl für die folgenden drei Jahre.
Der EuGH betont, dass diese Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter besitzt: «Ein solcher Ausschluss dient nämlich der Bekämpfung der zahlreichen Unregelmäßigkeiten, die im Rahmen der landwirtschaftlichen Beihilfen begangen werden und die durch die von ihnen verursachte erhebliche Belastung des Unionshaushalts die Maßnahmen beeinträchtigen können, die die Unionsorgane auf diesem Gebiet ergriffen haben, um die Märkte zu stabilisieren, die Lebenshaltung der Landwirte zu stützen und für die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen Sorge zu tragen. (…)
Die verwaltungsrechtliche Natur der in Art. 138 Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1973/2004 vorgesehenen Maßnahmen wird durch eine Prüfung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Begriff des Strafverfahrens im Sinne des vom vorlegenden Gericht angeführten Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 nicht in Frage gestellt.
Nach dieser Rechtsprechung sind dafür drei Kriterien relevant. Das erste ist die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, das zweite die Art der Zuwiderhandlung und das dritte die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion.» Der EuGH weist ausführlich nach, dass keines der zitierten Kriterien hier gegeben ist. (Seite 398)
EuGH zur Rückforderung der erhaltenen Agrarsubventionen bei Verhinderung einer Vor-Ort-Kontrolle der angegebenen Flächen durch den beihilfebegünstigten Landwirt / Rs. Hehenberger
«Die Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Änderung bzw. Aufhebung bestimmter Verordnungen in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 817/2004 der Kommission vom 29. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1257/1999 steht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der im Fall der Verhinderung der Durchführung einer Vor-Ort-Kontrolle der betreffenden Flächen durch den beihilfebegünstigten Landwirt sämtliche der ihm im Rahmen einer Agrarumweltmaßnahme im Verpflichtungszeitraum bereits gewährten Beihilfen zurückzuerstatten sind, auch wenn diese bereits für mehrere Jahre ausbezahlt wurden.» (Seite 402)
EuGH zur begrenzten Immunität des Beschäftigungsstaates bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten mit Ortskräften, die keine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen / Rs. Mahamdia
Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist bei der algerischen Botschaft in Berlin als Chauffeur angestellt. Er besitzt sowohl die algerische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit und fordert die Bezahlung von in den Jahren 2005 bis 2007 geleisteten Überstunden. In dem Arbeitsvertrag war für Streitigkeiten die ausschließliche Zuständigkeit algerischer Gerichte festgelegt.
Der EuGH stellt fest: «Für Rechtsstreitigkeiten über Arbeitsverträge enthält Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 44/2001 eine Reihe von Vorschriften, die, wie aus dem 13. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, die schwächere Vertragspartei durch Zuständigkeitsvorschriften schützen sollen, die für sie günstiger sind. (…)
Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass es sich bei einer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gelegenen Botschaft eines Drittstaats in einem Rechtsstreit über einen Arbeitsvertrag, den die Botschaft im Namen des Entsendestaats geschlossen hat, um eine „Niederlassung“ im Sinne dieser Bestimmung handelt, wenn die vom Arbeitnehmer verrichteten Aufgaben nicht unter die Ausübung hoheitlicher Befugnisse fallen. Es ist Sache des angerufenen nationalen Gerichts, zu bestimmen, welche Art von Aufgaben der Arbeitnehmer genau verrichtet.» (Seite 405)
Schweizerisches Bundesgericht, Lausanne, bestätigt die Befugnis der Kantone, das Nacktwandern im öffentlichen Raum als grobe Verletzung von Sitte und Anstand in der Öffentlichkeit unter Strafe zu stellen
Der Beschwerdeführer war an einem Sonntag Nachmittag bei schönem Wetter in einem Naherholungsgebiet nackt unterwegs. Er kam u.a. an einer Familie mit Kleinkindern und an einem christlichen Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige vorbei. Eine Passantin stellte ihn zur Rede und erstattete Strafanzeige. Das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. verurteilte den Bf. in letzter Instanz zu einer Busse von 100,– Franken.
Das BGer fasst seine Erwägungen zusammen: «Die Kantone sind gestützt auf Art. 335 Abs. 1 StGB befugt, das Nacktwandern im öffentlichen Raum unter Strafe zu stellen (…). Eine Norm, welche demjenigen Strafe androht, der „öffentlich Sitte und Anstand grob verletzt“, ist hinreichend bestimmt (…). Das Nacktwandern im öffentlichen Raum kann ohne Rücksicht auf die örtlichen Gegebenheiten und die übrigen Umstände willkürfrei als grobe Verletzung von Sitte und Anstand qualifiziert werden (…). Die Erfüllung des Tatbestands der groben Verletzung von Sitte und Anstand setzt nicht voraus, dass der Nacktwanderer auf einen Menschen trifft, der dadurch in seinem Anstandsgefühl verletzt wird (…). Die Verurteilung zu einer Busse wegen Nacktwanderns verletzt das Grundrecht der persönlichen Freiheit nicht (…). Ein Verbotsirrtum lag nicht vor (…). Die Voraussetzungen für eine Strafbefreiung wegen fehlenden Strafbedürfnisses sind nicht erfüllt (…).» (Seite 410)
Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe, beanstandet unzureichende Unterrichtung des Bundestages durch die Bundesregierung im Zusammenhang mit dem ESM und dem Euro-Plus-Pakt / Erfolgreiches Organstreitverfahren der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das BVerfG stellt fest: «Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG geregelte Unterrichtungspflicht knüpft an das in Art. 23 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Recht des Deutschen Bundestages auf Mitwirkung in Angelegenheiten der Europäischen Union an. Das Erfordernis der umfassenden Unterrichtung will dem Deutschen Bundestag die Wahrnehmung seiner Mitwirkungsrechte ermöglichen. Dementsprechend ist eine umso intensivere Unterrichtung geboten, je komplexer ein Vorgang ist, je tiefer er in den Zuständigkeitsbereich der Legislative eingreift und je mehr er sich einer förmlichen Beschlussfassung oder Vereinbarung annähert. Daraus ergeben sich Anforderungen an die Qualität, Quantität und Aktualität der Unterrichtung.
Die in Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG genannte Zeitvorgabe „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ ist so auszulegen, dass der Bundestag die Informationen der Bundesregierung spätestens zu einem Zeitpunkt erhalten muss, der ihn in die Lage versetzt, sich fundiert mit dem Vorgang zu befassen und eine Stellungnahme zu erarbeiten, bevor die Bundesregierung nach außen wirksame Erklärungen, insbesondere bindende Erklärungen zu unionalen Rechtsetzungsakten und intergouvernementalen Vereinbarungen, abgibt.
Grenzen der Unterrichtungspflicht ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Innerhalb der Funktionenordnung des Grundgesetzes kommt der Regierung ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung zu, der einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich einschließt. Solange die interne Willensbildung der Bundesregierung nicht abgeschlossen ist, besteht kein Anspruch des Parlaments aufUnterrichtung.» (Seite 416)
BVerfG erklärt die Regelungen des Bundeswahlrechts über negatives Stimmgewicht und ausgleichslose Überhangmandate für verfassungswidrig
«Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts und verletzt deshalb die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien.
In dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sind Überhangmandate (§ 6 Abs. 5 BWG) nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt.
Die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien sind bei einem Anfall von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke [also 15] verletzt.» (Seite 438)
BVerfG sieht keinen Grund, die indirekte Wahl der Hälfte der Bundesverfassungsrichter durch den 12-köpfigen Wahlausschuss des Bundestages (§ 6 BVerfGG) zu beanstanden
Das BVerfG argumentiert: «Die Übertragung der Wahl der Bundesverfassungsrichter auf einen Wahlausschuss, dessen Mitglieder der Verschwiegenheitspflicht unterliegen (§ 6 Abs. 4 BVerfGG), findet ihre Rechtfertigung in dem erkennbaren gesetzgeberischen Ziel, das Ansehen des Gerichts und das Vertrauen in seine Unabhängigkeit zu festigen und damit seine Funktionsfähigkeit zu sichern. Die Einschätzung, dass das Bundesverfassungsgericht Funktionseinbußen erleiden könnte, wenn die Wahl seiner Mitglieder im Bundestag nicht in einer Vertraulichkeit wahrenden Weise stattfände, mag nicht in dem Sinne geboten sein, dass sie den Gesetzgeber hinderte, andere Modalitäten der Richterwahl zu bestimmen. Das vom Gesetzgeber verfolgte Anliegen ist aber von hinreichendem verfassungsrechtlichen Gewicht, um den Verzicht auf eine Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts im Plenum zugunsten eines Wahlmännergremiums, das mit Zwei-Drittel-Mehrheit entscheidet (vgl. § 6 Abs. 5 BVerfGG) und dessen Erörterungen der Vertraulichkeit unterliegen, zu legitimieren.» (Seite 456)
BVerfG bekräftigt, dass die vorbehaltene Sicherungsverwahrung aus den in seinem Grundsatzurteil vom 4. Mai 2011 (EuGRZ 2011, 297) genannten Gründen verfassungswidrig ist, jedoch nicht aus noch anderen gegen das GG verstößt
Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Wertungen des Art. 5 Abs. 1 EMRK: «§ 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl I S. 3344) sind gemäß dem Urteil des Senats vom 4. Mai 2011 unvereinbar mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (…). Die Vorschriften genügen nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die vorhandenen Regelungen über die Sicherungsverwahrung strukturell die Wahrung der verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugs, die aus dem Abstandsgebot resultieren, nicht gewährleisten (…).
Zugleich hat der Senat gemäß § 35 BVerfGG die Weitergeltung des § 66a Abs. 1 und Abs. 2 StGB a.F. bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber nach Maßgabe der Gründe angeordnet, längstens jedoch bis zum 31. Mai 2013.» (Seite 458)
BVerfG besteht auf menschenwürdigem Existenzminimum für Asylbewerber und auf einer unverzüglichen Neuregelung durch den Gesetzgeber
«Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 des Asylbewerberleistungsgesetzes ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindungmit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (…). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.
Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.» (Seite 473)
EuGRZ schlägt vor: Mehr Transparenz für die Wahrung professioneller Qualität bei den Richterwahlen zum EGMR
Das Wahlverfahren für die Richter des EGMR bedarf dringend entscheidender Verbesserungen, und zwar insbesondere durch loyalitätsfördernde Transparenz an drei strukturell entscheidenden Stellen im Ministerkomitee und in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates:
(1) Zustellung der mit Gründen versehenen Voten des vom Ministerkomitee 2010 berufenen Evaluierungsausschusses zur Bewertung der professionellen Eignung der Richter-Kandidaten (Vorsitz: vorm. EGMR-Präsident Luzius Wildhaber) an alle Regierungen der 47 EMRK-Vertragsstaaten; (2) Zustellung der Voten dieses Evaluierungsausschusses auch an den mit der Wahlvorbereitung betrauten Unterausschuss der Parlamentarischen Versammlung, der die Kandidaten in nichtöffentlicher Sitzung anhört und über eine Wahlempfehlung an das Plenum abstimmt; (3) Allgemeine, auch für die Presse zugängliche, Veröffentlichung der mit Gründen versehenen Wahlempfehlung des Unterausschusses der Parlamentarischen Versammlung am ersten Tag der Sitzungswoche, in der die konkrete Wahl im Plenum in Straßburg ansteht.
Dieser Vorschlag beschreibt ein Minimum, um das Richterwahl-Niveau des Europarates für den EGMR auf das sachliche Niveau der EU-Gerichte anzuheben. Das Straßburger „plus“ an demokratischer Legitimation durch die Wahl in der Parlamentarischen Versammlung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sachbezogene professionelle Qualität der Richter-Kandidaten vor allem durch den Evaluierungsausschuss des Ministerkomitees gewährleistet wird.
Zur allgemeinen Kenntnis der maßgeblichen Kriterien wäre es wünschenswert, wenn der Evaluierungsausschuss einen öffentlichen Jahresbericht erstatten würde. Dass dies unter Wahrung der Vertraulichkeit im Einzelnen durchaus möglich ist, zeigt der Sauvé-Bericht über die Tätigkeit des Evaluierungsausschusses bzgl. der Richter-Kandidaten für EuGH und EuG. Vor diesem Hintergrund erweist sich der undiplomatisch harsche Widerstand des ukrainischen Botschafters gegen einen vom Evaluierungsausschuss-Vorsitzenden Wildhaber angeregten Tätigkeitsbericht auf der April-Sitzung des Ministerkomitees 2012 als unüberlegt und unbegründet. Es kann – auch im Hinblick auf den geplanten Beitritt der EU zur EMRK – nicht die Absicht des Ministerkomitees des Europarates sein, die öffentliche Festigung der Standards professioneller Richter-Qualität allein der Europäischen Union zu überlassen. (Seite 486)
Irischer Supreme Court, Dublin, legt EuGH Vorabentscheidungsersuchen zum Euro-Stabilitätsmechanismus (ESM) vor
ImUnterschied zu den Verfahren vor dem BVerfG, in denen das innerstaatliche Recht an der Verfassung gemessen wird, hat der irische Supreme Court mit seiner Vorlage erreicht, dass der EuGH zu der Frage Stellung nehmen muss, welche praktische Wirksamkeit das unionsvertragliche Verbot hat, dass ein Mitgliedstaat nicht für die Schulden eines anderen Mitgliedstaates haften darf (Art. 125 AEUV). (Seite 492)