EuGRZ 2013 |
30. August 2013
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40. Jg. Heft 13-15
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Informatorische Zusammenfassung
Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), erläutert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht (einschließlich Auslieferungsrecht) in den Jahren 2011 und 2012
Die kontinuierliche Auswertung der einschlägigen ausländerrechtlichen Entscheidungen erlaubt seit knapp 20 Jahren (EuGRZ 1994, 85) einen zuverlässigen Überblick über signifikante Entwicklungen in der Rechtsprechung des BVerfG auf diesem Gebiet und deren systematische Einordnung.
«Im Berichtszeitraum hat es zu den hier in den Blick genommenen Rechtsgebieten zwei Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegeben; sie betrafen jeweils die Gewährung staatlicher Leistungen an Asylbewerber bzw. an andere in der Bundesrepublik Deutschland lebende ausländische Staatsangehörige. Anders als in den Vorjahren war die Anzahl der mit einer ausführlichen Begründung versehenen Entscheidungen der jeweils zuständigen Kammer zum Asyl- und Ausländerrecht sowie zum Auslieferungsrecht im Berichtszeitraum ungewöhnlich gering. Dies steht in auffallendem Gegensatz zu dem starken Anstieg der Anzahl neuer Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland in 2011 und 2012.
Bereits die Zahl der Neueingänge von Verfassungsbeschwerden im Asylrecht ist entgegen diesem allgemeinen Trend im Berichtszeitraum gegenüber 2010 nahezu unverändert geblieben bzw. reduzierte sich sogar wieder. Im Jahr 2011 gingen bei dem BVerfG insgesamt 77 neue asylrechtliche Verfassungsbeschwerden ein, davon 4 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (2010: 76 Neuverfahren, davon 7 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung). In 2012 waren es nur noch 60 neue Verfassungsbeschwerden, davon 7 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Ganz anders stellt sich die Situation bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) dar; hier hat sich eine Entwicklung fortgesetzt, die bereits im Zeitraum 2009 und 2010 zu beobachten war. Im Jahr 2011 gingen dort 45.741 Neuanträge ein, das sind 4.409 oder 11 v.H. mehr als im Vorjahr. 2012 verzeichnete das Bundesamt sogar 64.539 Neuanträge, also 18.798 oder 41 v.H. mehr als in 2011. Für das Jahr 2011 führte das Bundesamt die Steigerung der Zahl der Asylbewerber vor allem auf den vermehrten Zuzug aus den Hauptherkunftsländern, hier insbesondere aus Afghanistan, Pakistan, Syrien und dem Iran, sowie auf die weiterhin hohen Zugangszahlen aus Serbien und dem Irak zurück. Der erneute starke Anstieg der Asylbewerberzahlen im Jahr 2012 hat seine Ursache nach Angaben des Bundesamtes vor allem in dem vermehrten Zugang aus den Herkunftsländern Serbien, Mazedonien, Syrien, Bosnien-Herzegowina – etwa ein Drittel aller Asylbewerber des Jahres 2012 kam aus einem Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien – und der Russischen Föderation sowie in den erneut hohen Zugangszahlen aus Afghanistan und dem Irak. Auch wenn insbesondere im Jahr 2012 die Zuwachsrate erheblich ist, sind die Zahlen doch nach wie vor weit entfernt von dem Umfang der Neuanträge zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (1992: 440.000 Neuanträge).
Die Zahl der neu eingegangenen Verfassungsbeschwerden zum Aufenthaltsrecht und zum Abschiebungshaftrecht war in 2011 mit 102 Verfahren (davon 2 isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) und – noch deutlicher – in 2012 mit nur noch 87 Verfahren (isolierte Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gingen in diesem Zeitraum nicht ein) gegenüber den Vorjahren (2009 und 2010 jeweils 111 neue Verfahren) rückläufig. Dies hängt vor allem mit einer starken Abnahme von Neuverfahren zum Abschiebungshaftrecht zusammen.» (Seite 369)
Siehe auch rechtsvergleichend Andreas Zünd und Thomas Hugi Yar, Aufenthaltsbeendende Massnahmen im schweizerischen Ausländerrecht, insbesondere unter dem Aspekt des Privat- und Familienlebens, EuGRZ 2013, 1-19; Astrid Merl, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im österreichischen Fremdenrecht, EuGRZ 2013, 19-26.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beanstandet vermeidbares Fehlurteil über Sorgerechtsentzug als Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) der betroffenen Eltern / B.B. und F.B. gegen Deutschland
Der zu umfassender Sachverhaltsaufklärung verpflichtete Richter hat sich von den beiden Kindern der Bf. mit Lügengeschichten über Schläge mit Eisenstange und Peitsche bei schlechten Schulnoten in die Irre führen lassen. Das damals 12-jährige Mädchen war in der Schule von einer Lehrerin beim Manipulieren der Note einer Klassenarbeit ertappt worden und hatte sich damit gerechtfertigt, dass sie und ihr Bruder (8) drakonisch bestraft würden, wenn sie keine guten Noten brächten.
Die von den Eltern, österreichische Staatsangehörige türkischer Herkunft, vorgelegten ärztlichen Atteste und sonst angebotenen Beweismittel zum Beleg dafür, dass sie gegen ihre Kinder nie gewalttätig gewesen sind, wurden vom Amtsgericht Krefeld (Familiengericht) und Oberlandesgericht Düsseldorf für unbeachtlich gehalten. Das Sorgerecht wurde zunächst mit einer einstweiligen Anordnung, die der EGMR wegen der für möglich gehaltenen Gefahr für die Kinder nicht beanstandet, und im Hauptsacheverfahren den Eltern entzogen und dem Jugendamt übertragen. Die Kinder kamen in eine Wohngruppe, bis sie über ein Jahr später erklärten, von ihren Eltern nie geschlagen worden zu sein und in die Familie zurückkehren zu wollen. Daraufhin wurde den Eltern das Sorgerecht rückübertragen.
«Der Gerichtshof stellt fest, dass der einzige Beweis, auf den das Amtsgericht Krefeld seine Entscheidung vom 4. August 2008 stützte, die persönlichen Äußerungen der beiden Kinder gegenüber dem Jugendamt und vor dem Amtsgericht waren. Es gab keinen objektiven Beweis für den behaupteten Missbrauch. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Amtsgericht zwar den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu den Kindern hatte, das Berufungsgericht hingegen seine Bewertung ausschließlich auf den Inhalt der Verfahrensakte stützte, ohne die Kinder erneut persönlich zu hören. Die Bf. wiederum stützten sich auf die Aussagen der behandelnden Ärzte der Kinder und eines Psychologen, die den Jungen wiederholt untersucht und keinen Hinweis auf einen Missbrauch festgestellt hatten. Sie wiesen ferner darauf hin, dass die Kinder regelmäßig die Schule besucht und an sportlichen Aktivitäten teilgenommen hätten. Auch wurde vor den innerstaatlichen Gerichten nicht bestritten, dass das Mädchen eine lebhafte Phantasie hatte. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Tatsachen Anlass zu Zweifeln am Wahrheitsgehalt der Behauptungen der Kinder boten.
Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei ihrer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht unter Druck standen, eine übereilte Entscheidung zu treffen, nachdem die Kinder sicher in einer Wohngruppe für Kinder untergebracht waren. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass die deutschen Familiengerichte nach § 26 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen verpflichtet sind, von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen, und dass die Bundesregierung keine tatsächlichen Gründe angeführt hat, aus denen die innerstaatlichen Gerichte daran gehindert gewesen sein können, den Sachverhalt vor Erlass einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren weiter zu untersuchen. Unter diesen Umständen und im Hinblick auf die schwerwiegenden Auswirkungen, die die vollständige Entziehung der elterlichen Sorge der Bf. auf die Familie insgesamt hatte, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte im Hauptsacheverfahren keine hinreichenden Gründe dafür angeführt haben, den Bf. die elterliche Sorge zu entziehen.» (Seite 384)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, festigt seine Rechtsprechung zu Umfang und Intensität des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Anti-Terror-Maßnahmen der EU zur Umsetzung von Beschlüssen des UN-Sanktionsausschusses / hier: Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen / Rs. Kadi II
Die durch Art. 47 Grundrechte-Charta gewährleistete Effektivität der gerichtlichen Kontrolle erfordert, dass der Unionsrichter die tatsächliche Grundlage der Sanktionsentscheidung (zumindest einen der Gründe) für die Sanktion überprüft:
«Hierzu hat der Unionsrichter bei dieser Prüfung gegebenenfalls von der zuständigen Unionsbehörde – vertrauliche oder nicht vertrauliche – Informationen oder Beweise anzufordern, die für eine solche Prüfung relevant sind (...).
Im Streitfall ist es nämlich Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person vorliegenden Gründe nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person, den negativen Nachweis zu erbringen, dass diese Gründe nicht stichhaltig sind. (...)
Ist es der zuständigen Unionsbehörde nicht möglich, der Forderung des Unionsrichters nachzukommen, hat dieser sich allein auf die ihm übermittelten Angaben zu stützen, d.h. hier auf die Angaben, die in der vom Sanktionsausschuss gegebenen Begründung enthalten sind, auf die Stellungnahme der betroffenen Person und die von ihr gegebenenfalls vorgelegten Entlastungsbeweise sowie auf die Antwort der zuständigen Unionsbehörde auf diese Stellungnahme. Lässt sich die Stichhaltigkeit eines Grundes anhand dieser Angaben nicht feststellen, schließt der Unionsrichter ihn als Grundlage der fraglichen Entscheidung über die Aufnahme in die Liste oder die Belassung auf ihr aus.
Übermittelt die zuständige Unionsbehörde dagegen relevante Informationen oder Beweise, muss der Unionsrichter die inhaltliche Richtigkeit der vorgetragenen Tatsachen anhand dieser Informationen oder Beweise prüfen und deren Beweiskraft anhand der Umstände des Einzelfalls und im Licht etwaiger dazu abgegebener Stellungnahmen, insbesondere der betroffenen Person, würdigen.
Zwar können zwingende Erwägungen der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Union oder ihrer Mitgliedstaaten der Mitteilung bestimmter Informationen oder Beweise an die betroffene Person entgegenstehen. In einem solchen Fall muss allerdings der Unionsrichter, dem die Geheimhaltungsbedürftigkeit oder Vertraulichkeit dieser Informationen oder Beweise nicht entgegengehalten werden kann, im Rahmen der von ihm ausgeübten gerichtlichen Kontrolle Techniken anwenden, die es ermöglichen, die legitimen Sicherheitsinteressen in Bezug auf die Art und die Quellen der Informationen, die beim Erlass des betreffenden Rechtsakts berücksichtigt wurden, auf der einen Seite und das Erfordernis, dem Einzelnen die Wahrung seiner Verfahrensrechte wie des Rechts, gehört zu werden, und des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens hinreichend zu garantieren, auf der anderen Seite zum Ausgleich zu bringen (...).
Bei diesem Ausgleich kann auf Möglichkeiten wie die Übermittlung einer Zusammenfassung des Inhalts der fraglichen Informationen oder Beweise zurückgegriffen werden. Unabhängig davon hat der Unionsrichter zu beurteilen, ob und inwieweit die Tatsache, dass die vertraulichen Informationen oder Beweise der betroffenen Person gegenüber nicht offengelegt werden und es ihr damit unmöglich ist, zu ihnen Stellung zu nehmen, die Beweiskraft der vertraulichen Beweise beeinflussen kann.»
Im Ergebnis bestätigt der EuGH in dem von der Kommission, dem Rat und dem Vereinigten Königreich angestrengten Rechtsmittelverfahren das angefochtene Urteil des Gerichts, und erklärt die streitige Verordnung in Bezug auf den Kläger im ersten Rechtszug, Yassin Abdullah Kadi, für nichtig. (Seite 389)
EuGH bekräftigt fortbestehendes Rechtsschutzinteresse für Nichtigkeitsklage auch nach Streichung aus der UN-Sanktionsliste bzw. aus der entsprechenden EU-Liste / Rs. Abdulrahim
«Die mit der Verordnung Nr. 881/2002 erlassenen restriktiven Maßnahmen haben nämlich beträchtliche negative Konsequenzen und stellen einen bedeutenden Eingriff in die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen dar (...). Neben dem Einfrieren von Geldern als solchem, das durch seine große Tragweite sowohl das Berufs- als auch das Familienleben der betroffenen Personen zutiefst erschüttert (...) und den Abschluss zahlreicher Rechtsgeschäfte behindert (...), sind auch die Stigmatisierung und das Misstrauen zu berücksichtigen, die mit der öffentlichen Bezeichnung der Betroffenen als mit einer terroristischen Vereinigung in Verbindung stehend einhergehen. (...)
Das Bejahen der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Handlung kann nämlich zwar als solches einen materiellen Schaden oder eine Beeinträchtigung des Privatlebens nicht wiedergutmachen, es ist aber gleichwohl – wie Herr Abdulrahim geltend gemacht hat – geeignet, ihn zu rehabilitieren oder eine Form der Wiedergutmachung des immateriellen Schadens darzustellen, der ihm aufgrund dieser Rechtswidrigkeit entstanden ist, und somit den Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses zu begründen (...).
Das Gericht hat somit in den Randnrn. 28 und 31 des angefochtenen Beschlusses unzutreffenderweise aus der Streichung des Namens des Rechtsmittelführers aus der streitigen Liste durch die Verordnung Nr. 36/2011 den Schluss gezogen, dass dem Rechtsmittelführer volle Genugtuung widerfahren sei und daher seine Nichtigkeitsklage ihm keinen Vorteil mehr verschaffen könne.
Entgegen dem Vorbringen des Rates und der Kommission kommt es nicht darauf an, dass die gerichtlich geltend gemachten Nichtigkeitsgründe die Begründung des in Rede stehenden Rechtsakts oder die Wahrung der Verfahrensrechte des Klägers bzw. des Rechtsmittelführers betreffen. Die Nichtigerklärung eines Beschlusses über das Einfrieren von Geldern aus solchen Gründen könnte dem Rechtsmittelführer nämlich insofern Genugtuung verschaffen, als sie ernste Zweifel daran begründet, wie die betreffende Stelle ihm gegenüber ihre Befugnisse ausgeübt hat.» (Seite 404)
EuGH präzisiert Anwendung der Kriterien für die Inhaftierung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zur Rückführung auf Asylbewerber / Rs. Arslan
«In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der Drittstaatsangehörige zum einen auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 mit der Begründung in Haftgenommen wurde, dass sein Verhalten Anlass zur Befürchtung gebe, dass er ohne Inhaftnahme fliehen und seine Abschiebung vereiteln würde, und in der zum anderen der Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt worden zu sein scheint, den Vollzug der gegen ihn erlassenen Rückführungsentscheidung zu verzögern, wenn nicht gar zu gefährden, ist festzustellen, dass solche Umstände tatsächlich geeignet sind, die Aufrechterhaltung der Haft dieses Drittstaatsangehörigen auch nach Stellung eines Asylantrags zu rechtfertigen.» (Seite 411)
EuGH verdeutlicht auf Vorlage des französischen Verfassungsrates (Conseil constitutionnel) die Wirksamkeit der im Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorgeschriebenen Fristen / Rs. Jeremy F.
Im Ausgangsverfahren geht es um die Erweiterung eines Europäischen Haftbefehls durch die britische Justiz, der zunächst im Rahmen eines Verfahrens wegen Kindesentführung gestellt wurde und danach auf die Verfolgung einer Straftat wegen sexueller Handlungen mit einer Minderjährigen erweitert werden sollte.
Grundsätzlich erklärt der EuGH: «Das gesamte in dem Rahmenbeschluss geregelte Verfahren der Übergabe zwischen Mitgliedstaaten findet somit gemäß dem Rahmenbeschluss unter gerichtlicher Kontrolle statt.»
Zu den Grenzen eines etwaigen Anspruchs auf einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung (gemeint ist die Aussetzung des Verfahrens aufgrund einer vom Kassationshof an den Conseil constitutionnel gestellten „vorrangigen Frage der Verfassungsmäßigkeit“) führt der Gerichtshof aus: «Die in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen sind demzufolge dahin auszulegen, dass die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls grundsätzlich innerhalb von zehn Tagen, nachdem die gesuchte Person der Übergabe zugestimmt hat, oder in den übrigen Fällen innerhalb von 60 Tagen nach ihrer Festnahme erfolgen muss. Diese Fristen können nur in Sonderfällen um weitere 30 Tage verlängert werden, und nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände darf ein Mitgliedstaat die nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen überschreiten.» (Seite 417)
EuGH nimmt zu Kriterien „übermäßig teurer“ Gerichtsverfahren in Umweltangelegenheiten (hier: im Vereinigten Königreich) Stellung / Rs. Edwards und Pallikaropoulos
Im Ausgangsverfahren geht es um die Klage gegen die Genehmigung eines Zementwerks einschließlich Müllverbrennung. Der EuGH führt aus:
«Was die Untersuchung der wirtschaftlichen Lage des Betroffenen angeht, darf die vom nationalen Gericht vorzunehmende Beurteilung nicht nur auf den geschätzten finanziellen Möglichkeiten eines „durchschnittlichen“ Klägers beruhen, da bei solchen Angaben möglicherweise nur ein entfernter Zusammenhang mit der Lage des Betroffenen besteht.
Im Übrigen kann der Richter die Lage der betroffenen Parteien, die begründeten Erfolgsaussichten des Antragstellers, die Bedeutung des Rechtsstreits für diesen sowie für den Umweltschutz, die Komplexität des geltenden Rechts und des anwendbaren Verfahrens sowie den möglicherweise mutwilligen Charakter des Rechtsbehelfs in seinen verschiedenen Verfahrensabschnitten berücksichtigen (...).
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass der vom Supreme Court of the United Kingdom erwähnte Umstand, dass der Betroffene sich tatsächlich nicht von seiner Klage hat abschrecken lassen, für sich allein nicht für die Annahme ausreicht, dass das Verfahren für ihn nicht übermäßig teuer im – oben dargelegten – Sinn der Richtlinien 85/337 und 96/61 ist.
Was schließlich die vom vorlegenden Gericht ebenfalls aufgeworfene Frage angeht, ob die Beurteilung der Frage, ob das Verfahren übermäßig teuer ist, je nachdem unterschiedlich ausfallen sollte, ob das nationale Gericht im Anschluss an ein erstinstanzliches Verfahren, an eine Rechtsmittelinstanz oder eine weitere Rechtsmittelinstanz über die Kosten entscheidet, so ist abgesehen von dem Umstand, dass diese Unterscheidung in den Richtlinien 85/337 und 96/61 nicht vorgesehen ist, festzustellen, dass eine solche Auslegung nicht geeignet wäre, das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel, einen weiten Zugang zu den Gerichten zu sichern und zur Verbesserung des Umweltschutzes beizutragen, umfassend zu wahren. (Seite 424)
EuGH beanstandet diskriminierendes Wohnsitzerfordernis für Studienbeihilfen in Luxemburg / Rs. Giersch u.a.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind Kinder von in Luxemburg arbeitenden, steuer- und sozialabgabenpflichtigen Grenzgängern. (Seite 429)
EuGH billigt ministerielle Verbraucherwarnung (hier: in Bayern) vor genussuntauglichen Lebensmitteln mit namentlicher Nennung der Herstellerfirma / Rs. Berger
Es handelt sich um Wildfleischproben, deren Verzehr zwar nicht gesundheitsschädlich gewesen wäre, die allerdings als „ranzig, stickig, muffig oder sauer riechend“ oder als faulend beschrieben wurden. (Seite 435)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, betont die Informationspflicht der Strafverfolgungsbehörden gegenüber den Angehörigen des Opfers eines vorsätzlichen Tötungsdelikts bei Entlassung des Tatverdächtigen aus der Untersuchungshaft
Die Beschwerdeführer sind der Bruder und die Kinder des Getöteten. Es wird vorgebracht, der (aus der Untersuchungshaft unter Auflagen entlassene) Beschuldigte habe einen Beschwerdeführer, den Bruder des Getöteten, mit dem Tode bedroht.
Zu den Handlungspflichten des Staates führt das BGer aus: «Das Recht auf Leben findet verfassungs- und völkerrechtlich in Art. 10 Abs. 1 BV, Art. 2 EMRK und Art. 6 UNO-Pakt II seine Verankerung. Es schützt das Individuum vor Eingriffen des Staats, enthält jedoch darüber hinaus auch positive Schutzpflichten. Dazu gehört nach konstanter Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Pflicht des Staats, präventiv Schutzmassnahmen zu ergreifen, wenn das Leben einer Person durch Dritte bedroht wird. Wenn die Behörden wissen oder wissen müssten, dass von kriminellen Handlungen eines Dritten reell und unmittelbar eine derartige Gefahr ausgeht, sind sie verpflichtet, die in ihrer Macht stehenden geeigneten Massnahmen zu ergreifen.»
Allerdings besteht kein Beschwerderecht gegen den Haftentlassungsentscheid. Die Betreffenden müssen sich an die Staatsanwaltschaft wenden, die ihrerseits eigenverantwortlich entscheidet, was zu tun ist. (Seite 439)
BGer wertet Verweigerung der ordentlichen Einbürgerung einer geistig behinderten Person als diskriminierend
Die Feststellung einer Diskriminierung durch das kantonale Justizdepartement (Thurgau) verletzt die Gemeindeautonomie (der Gemeinde Amriswil) nicht. Die Rückweisung der Sache durch das Justizdepartement an die Gemeindeversammlung zur Neubeurteilung stellt keinen Verfassungsverstoss dar. (Seite 441)
Bundesverfassungsgericht beanstandet Versagung der Prozesskostenhilfe für Schmerzensgeldklage gegen Krankenhaus wegen Nichtaufnahme auf die Warteliste für eine Herztransplantation wegen fehlender Sprachkenntnisse (Deutsch)
Der Bf. ist in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt. (Seite 445)
BVerfG unterstreicht Belastungsklarheit und Vorhersehbarkeit für Beitragspflicht eines Grundstückeigentümers / hier: Jahre zurückliegender Anschluss an die kommunale Entwässerung
Bei wiederholt unwirksamer Rechtsgrundlage muss sich eine Gemeinde eine Festsetzungsverjährung entgegenhalten lassen. Das Bayerische Kommunalabgabengesetz ist bis zum 14. April 2014 entsprechend zu ändern. (Seite 448)
BVerfG zum Anbringen einer Parabolantenne zum Empfang eines Satellitenprogramms in turkmenischer Sprache
Die unzureichende Abwägung der Informationsinteressen der Mieter gegenüber den Eigentumsinteressen des Vermieters einer Wohnung verletzt die Informationsfreiheit. (Seite 454)
BVerfG sieht in Landeskinder (Bremen) begünstigender Studiengebührenregelung Verletzung des Teilhaberechts auf Zulassung zum Hochschulstudium i.V.m. dem Gleichheitssatz gegenüber Landesfremden. (Seite 456)
Parlamentarische Versammlung des Europarates wählt EGMR-Richter: Róbert Ragnar Spanó aus Island und Egidijus Kūris aus Litauen. (Seite 463)
EuGH verhandelt über Vorratsdatenspeicherung – Anmerkung der Redaktion zur Vorlage des österreichischen Verfassungsgerichtshofes. (Seite 464)