EuGRZ 2015 |
31. Juli 2015
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42. Jg. Heft 12-14
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Informatorische Zusammenfassung
Koen Lenaerts, Luxemburg, zum Thema: „In Vielfalt geeint / Grundrechte als Basis des europäischen Integrationsprozesses„
Der Autor gelangt zu folgenden abschließenden Überlegungen: «Die Existenz eines legislativen Konsenses auf Unionsebene lässt – ebenso wie dessen Abwesenheit – Rückschlüsse darauf zu, ob die Mitgliedstaaten sich im gleichen Tempo und in die gleiche Richtung entwickeln, oder ob sich die gesellschaftliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten vorrangig an ihren eigenen individuellen Wertevorstellungen orientiert. Unabhängig davon müssen sich aber sowohl nationale Vielfalt als auch ein auf Unionsebene erreichter legislativer Konsens an Maßstäben messen lassen, denen eine gesamteuropäische Bedeutung beigemessen wird, die also den Gegenstand des Verfassungskonsenses auf Unionsebene bilden.
Mein Beitrag stützt die These, dass weder europäische Einheitlichkeit noch mitgliedstaatliche Vielfalt absolute Geltung beanspruchen können. Beide Aspekte muss die Europäische Union fortlaufend berücksichtigen, da keiner von beiden für sich genommen zur Sicherung des Integrationsprojektes ausreicht. Die von mir herangezogenen Beispiele zeigen, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen gemeinsamer Zukunftsgestaltung und Identitätswahrung vor allem durch die Gewährung effektiven Rechtsschutzes für die im Unionsrecht vorgesehenen subjektiven Rechte des Einzelnen erreicht wird.
Dass die Unionsrechtsordnung den Schutz der Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt, verdeutlicht sie durch die herausgehobene Stellung, die sie dem Schutz subjektiver Rechte beimisst. Dennoch vermitteln die durch die Unionsrechtsordnung gewährleisteten subjektiven Rechte keinen absoluten Schutz, sondern unterliegen Beschränkungen. Art und Ausmaß dieser Beschränkungen sind durch einen gesetzgeberischen Konsens zu ermitteln, sei es auf konstitutioneller oder einfachgesetzlicher Ebene. Unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Verfassung ist es daher im Wesentlichen eine politische Aufgabe, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen europäischer Harmonisierung und nationaler Vielfalt zu finden. Dies erklärt sich bereits im Hinblick auf die überragende Bedeutung des Prinzips der repräsentativen Demokratie für die europäische Rechtsordnung.»
(Seite 353)
Rüdiger Zuck, Stuttgart, behandelt die Neufassung der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts
Zur Bedeutung der Neufassung führt der Autor aus: «Die GO ändert, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, praktisch alle Vorschriften der GO a.F. Das Geschäftsordnungsrecht des BVerfG wird von der juristischen Öffentlichkeit als bloßes Binnenrecht des Gerichts (was es formal auch ist) behandelt. Das dogmatische Interesse der Wissenschaft ist deshalb gering geblieben. Die – formal – fehlende Außenwirkung der GO hat folgerichtig zur Vernachlässigung der Thematik auch durch die Praxis geführt. Das wird jedoch der Bedeutung der GO nicht gerecht. Was BVerfGE 1, 144 (148 f.) für die Geschäftsordnung des Bundestags ausgeführt hat, gilt sinngemäß auch für die Geschäftsordnung des BVerfG: Sie sichert das geordnete Funktionieren des Gerichts. Für das geltende Geschäftsordnungsrecht darf deshalb nicht übersehen werden, dass die Konkretisierung des maßgeblichen Binnenrechts, aber auch die rechtlichen Details der jeweils maßgeblichen Verfahrensregelungen unmittelbare Voraussetzung für die sachgerechte Handhabung des BVerfGG durch die internen, aber auch die externen Verfahrensbeteiligten ist.»
Zur Frage verbleibenden Reformbedarfs stellt Zuck fest: «Es wäre wünschenswert, wenn sich das Plenum zu einer vollständigen Neufassung der GO entschließen könnte. (…) So wenig Neigung für eine Generalkorrektur (und d.h. zumindest in einem zweiten Schritt, nämlich unter Einbeziehung des BVerfGG) bestehen mag: Es ist kein verteidigenswerter Zustand, dass gewichtige Zulassungsvoraussetzungen für eine Verfassungsbeschwerde nicht aus dem Gesetz, sondern – letzten Endes – nur aus der (Kammer)Rechtsprechung genommen werden können. Ein gutes Beispiel sind die umfangreichen und häufig schwer zu erfüllenden Voraussetzungen, die die Rechtsprechung den Beschwerdeführern für eine sachgerechte Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde nach §§ 23 I 2, 92 BVerfGG auferlegt.»
(Seite 362)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet mangelnde Durchsetzung des Umgangsrechts eines nichtehelichen Vaters mit seinem Kind gegen den Willen von Mutter und Kind als Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) des Vaters / Fall Kuppinger
«Mit Beschluss vom 12. November 2010 ordnete das Amtsgericht (…) wegen sechs Verstößen gegen den Umgangsbeschluss ein Ordnungsgeld in Höhe von insgesamt 300,– Euro gegen die Kindesmutter an. Obwohl die Mutter diesen Betrag im Juni 2011 zahlte, fand keiner der begleiteten Umgangskontakte wie geplant statt. (…)
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschluss des Amtsgerichts keine Angaben zur finanziellen Lage der Mutter enthält. Dennoch kommt er nicht umhin festzustellen, dass das Ordnungsgeld in Höhe von insgesamt 300,– Euro recht niedrig erscheint, zumal die einschlägigen Bestimmungen die Anordnung von Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 25.000,– Euro je Zuwiderhandlung gestatten. Es ist daher zu bezweifeln, ob vernünftigerweise angenommen werden konnte, dass diese Sanktion eine Beugewirkung auf die Kindesmutter entfalten würde, die Umgangskontakte zwischen dem Bf. und seinem Sohn beharrlich verhindert hatte. Der Gerichtshof nimmt die Begründung des Amtsgerichts zur Kenntnis, wonach die Kindesmutter die gescheiterten Umgangskontakte zwar zu vertreten gehabt habe, ihre persönliche Verantwortung jedoch gering sei, da die an ihr Erziehungsverhalten gestellten Anforderungen hoch gewesen seien und sie „binnen weniger Wochen nicht nur ihre eigene Haltung zu dem Problemkomplex vollständig zu überdenken, sondern auch ein verfestigtes Verhaltensmuster des Kindes zu verändern„ gehabt habe. (…)
Im Hinblick auf die Zügigkeit des Vollstreckungsverfahrens stellt der Gerichtshof fest, dass das Verfahren vom 21. Juli 2010, als der Bf. erstmals die Anordnung eines Ordnungsgeldes beantragte, bis zum 1. Juni 2011, als das gesamte Ordnungsgeld bezahlt wurde, mehr als zehn Monate gedauert hat. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Amtsgericht auf den ersten Antrag des Bf. hin keine gesonderte Entscheidung erließ, sondern vor dem Erlass einer Entscheidung die Erwiderungen auf die folgenden Anträge abwartete. Angesichts der besonderen Dringlichkeit der Angelegenheit ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Verbindung der Anträge, die eine Verzögerung von mehreren Wochen zur Folge hatte, der Prozessökonomie diente. Des Weiteren kam es zu einer Verzögerung von etwa einem Monat, weil das Amtsgericht die Rücksendung der Verfahrensakte vom Oberlandesgericht abwartete, obwohl das Hauptsacheverfahren dort bereits sechs Wochen zuvor beendet worden war. Diese Verzögerung hätte folglich durch eine zügigere Versendung der Verfahrensakte verhindert werden können.
Angesichts des Sachverhalts des Falles, einschließlich des Zeitablaufs, sowie angesichts des Kindeswohls und der in seiner Rechtsprechung festgelegten Kriterien sowie des Vorbringens der Parteien kommt der Gerichtshof trotz des staatlichen Beurteilungsspielraums (margin of appreciation) zu dem Schluss, dass die deutschen Behörden keine angemessenen und wirksamen Anstrengungen unternommen haben, um die Umgangsentscheidung vom 12. Mai 2010 durchzusetzen.
Folglich ist Art. 8 der Konvention verletzt worden.»
Außerdem stellt der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 13 i.V.m. Art. 8 der Konvention fest, da dem Bf. kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stand, der das Verfahren über sein Umgangsrecht hätte beschleunigen können. (Seite 368)
Siehe auch den Nichtannahme-Beschluss des BVerfG (unten S. 433) zu einer weiteren Verfassungsbeschwerde des Bf. Kuppinger betr. späteren Umgangsausschluss.
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erklärt den OMT-Beschluss der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen ausgewählter Euro-Staaten an den Sekundärmärkten für mit Unionsrecht vereinbar / Rs. Gauweiler u.a.
Insbesondere handele es sich um eine Maßnahme der Währungspolitik und stelle weder eine Überschreitung der Befugnisse der EZB und des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) noch einen Verstoß gegen das in Art. 123 Abs. 1 AEUV enthaltene Verbot der Staatenfinanzierung dar.
Die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens oder einzelner Vorlagefragen des BVerfG wird von den Regierungen Irlands, Griechenlands, Spaniens, Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Portugals und Finnlands sowie vom Europäischen Parlament, von der Europäischen Kommission und der EZB bestritten. Der EuGH weist deren Einwände mit ausführlicher Begründung zurück.
In der Sache selbst ist zunächst festzuhalten, dass es keinen detaillierten förmlichen Beschluss der EZB gibt, sondern lediglich die Ankündigung von geldpolitischen Outright-Geschäften (OMT, Outright Monetary Transactions), deren wesentliche Merkmale auf der Sitzung des EZB-Rates am 5. und 6. September 2012 genehmigt und in einer nach der Sitzung veröffentlichten Pressemitteilung dargelegt wurden.
In seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung stellt der EuGH u.a. fest: «So ist unstreitig, dass die Zinssätze der Staatsanleihen eines gegebenen Staates für die Festsetzung der für die verschiedenen Wirtschaftsteilnehmer dieses Staates geltenden Zinssätze, für den Wert der Portfolios der solche Anleihen besitzenden Finanzinstitute und für deren Fähigkeit, sich Liquidität zu beschaffen, eine maßgebliche Rolle spielen. Deshalb kann durch eine Eliminierung oder Verringerung überhöhter Risikozuschläge, die für die Staatsanleihen eines Mitgliedstaats verlangt werden, vermieden werden, dass deren Volatilität und Höhe ein Hindernis für die Übertragung der Wirkungen der geldpolitischen Entscheidungen des ESZB auf die Wirtschaft dieses Staates bilden und die Einheitlichkeit der Geldpolitik in Frage stellen.
Im Übrigen ist die Behauptung der EZB, dass allein die Ankündigung des in den Ausgangsverfahren fraglichen Programms genügt habe, um die angestrebte Wirkung, d.h. die Wiederherstellung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus und der Einheitlichkeit der Geldpolitik, zu erzielen, im Verlauf des vorliegenden Verfahrens nicht bestritten worden.»
Zur Beachtung des Verbots der Staatenfinanzierung in Art. 123 Abs. 1 AEUV heißt es u.a.: «Überdies hat die EZB vor dem Gerichtshof klargestellt, dass das ESZB zum einen beabsichtigt, eine Mindestfrist zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und seinem Ankauf an den Sekundärmärkten einzuhalten, und dass zum anderen eine vorherige Ankündigung seiner Entscheidung, solche Ankäufe vorzunehmen, oder des Volumens der geplanten Ankäufe ausgeschlossen sein soll. (…)
Schließlich wird dadurch, dass der Ankauf von Staatsanleihen von der vollständigen Einhaltung der strukturellen Anpassungsprogramme abhängt, denen die betreffenden Staaten unterliegen, ausgeschlossen, dass ein Programm wie das in der Pressemitteilung angekündigte diese Staaten dazu veranlassen könnte, auf eine Sanierung ihrer öffentlichen Finanzen zu verzichten, indem sie sich auf die Finanzierungsmöglichkeiten stützen, die ihnen die Durchführung eines solchen Programms eröffnen könnte.
(…) Folglich verbietet es Art. 123 Abs. 1 AEUV dem ESZB nicht, ein solches Programm unter Voraussetzungen zu beschließen und durchzuführen, unter denen dem Tätigwerden des ESZB nicht die gleiche Wirkung zukommt wie dem unmittelbaren Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten.» (Seite 379)
Der Vorlage-Beschluss des BVerfG (Zweiter Senat) ist abgedruckt in EuGRZ 2014, 141 mit Abw. Meinung Lübbe-Wolf, S. 156 und Abw. Meinung Gerhardt, S. 159.
EuGH sieht die Zustellung von Klagen auf Entschädigung wegen des Zwangsumtauschs griechischer Staatsanleihen prima facie als „Zivil- und Handelssachen„ im Anwendungsbereich von Art. 1 Abs. 1 VO (EG) 1393/2007 / Rs. Fahnenbrock u.a.
«Zur Feststellung der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1393/2007 genügt es infolgedessen, dass das angerufene Gericht zu dem Schluss kommt, dass es nicht offenkundig ist, dass die bei ihm erhobene Klage keine Zivil- oder Handelssache ist. (…)
In den Ausgangsverfahren geht aus den Akten zudem nicht in offenkundiger Weise hervor, dass die finanziellen Bedingungen der betreffenden Wertpapiere einseitig von der Hellenischen Republik festgelegt worden wären und nicht auf der Grundlage der Marktbedingungen, die den Handel und die Rendite dieser Finanzinstrumente regeln. (…)
Insoweit ist jedoch zum einen festzustellen, dass der Umstand, dass diese Möglichkeit [eines Umtauschs dieser Wertpapiere] durch ein Gesetz eingeführt wurde, als solcher nicht ausschlaggebend für den Schluss ist, dass der Staat seine hoheitlichen Rechte ausgeübt hat.
Zum anderen ist nicht offenkundig, dass der Erlass des Gesetzes Nr. 4050/2012 zu unmittelbaren und sofortigen Änderungen der finanziellen Bedingungen der betreffenden Wertpapiere geführt und somit den von den Klägern geltend gemachten Schaden verursacht hätte. Diese Änderungen sollten nämlich im Anschluss an eine Entscheidung einer Mehrheit der Anleiheinhaber auf der Grundlage der durch dieses Gesetz in die Emissionsverträge eingefügten Umtauschklausel erfolgen, was im Übrigen durch die Absicht der Hellenischen Republik bestätigt wird, die Verwaltung der Anleihen im zivilrechtlichen Rahmen fortzuführen.
In Anbetracht dieser Erwägungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Ausgangsverfahren offenkundig keine Zivil- oder Handelssachen im Sinne der Verordnung Nr. 1393/2007 sind, so dass diese Verordnung auf sie anwendbar ist.»
(Seite 389)
EuGH zu den Kriterien für eine Ausweisung einer zunächst als Flüchtling anerkannten Person wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (hier: PKK) / Rs. T.
«Im vorliegenden Fall ergibt sich hinsichtlich der Unterstützungshandlungen von Herrn T. zugunsten der PKK aus den Akten, dass er an legalen Versammlungen und an Veranstaltungen wie dem kurdischen Neujahrsfest teilgenommen und sich am Sammeln von Spenden für diese Organisation beteiligt hat. Das Vorliegen derartiger Handlungen bedeutet jedoch nicht notwendig, dass ihr Urheber die Auffassung vertreten hätte, terroristische Handlungen seien legitim. Erst recht sind derartige Handlungen als solche keine terroristischen Handlungen. (…)
Insoweit ist jedoch hervorzuheben, dass ein Flüchtling, dessen Aufenthaltstitel nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 aufgehoben wird, seinen Flüchtlingsstatus behält, sofern nicht und solange nicht ihm dieser Status entzogen worden ist. Daher ist er selbst nach dem Verlust seines Aufenthaltstitels weiterhin Flüchtling und hat in dieser Eigenschaft weiterhin Anspruch auf die Vergünstigungen, die das Kapitel VII der Richtlinie jedem Flüchtling gewährleistet, so insbesondere auf Schutz vor Zurückweisung, auf Wahrung des Familienverbands, auf Ausstellung von Reisedokumenten, auf Zugang zur Beschäftigung, zu Bildung, zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und zu Wohnraum, auf Freizügigkeit innerhalb des fraglichen Mitgliedstaats sowie auf Zugang zu Integrationsmaßnahmen. Anders gesagt, es liegt nicht im Ermessen eines Mitgliedstaats, einem Flüchtling die diesem nach der Richtlinie zustehenden substanziellen Vergünstigungen weiterhin zu gewähren oder zu versagen.» (Seite 393)
EuGH billigt Integrationspflicht von Drittstaatsangehörigen und eine bußgeldbewehrte Pflicht zur erfolgreichen Ablegung einer Integrationsprüfung (hier: in den Niederlanden) / Rs. P und S
Die Vereinbarkeit der fraglichen Maßnahmen mit der RL 2003/109/EG über die Rechtsstellung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen hängt allerdings von den Modalitäten für deren Umsetzung ab. Sie dürfen die mit der RL verfolgten Ziele nicht gefährden. (Seite 402)
EuGH präzisiert die für Massenentlassungen maßgebliche Referenzeinheit des „Betriebs„ / Rs. Rabal Cañas
Eine alleinige nationale Referenzeinheit des weiterreichenden „Unternehmens„ verstößt gegen die RL 98/59/EG. (Seite 407)
EuGH zum Vorlagerecht trotz anhängigen Verfahrens vor nationalem Verfassungsgericht (hier: Kernbrennstoffsteuer vor dem BVerfG) / Rs. Kernkraftwerke Lippe-Ems
«Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift sowohl mit dem Unionsrecht als auch mit der Verfassung des betreffenden Mitgliedstaats hat, auch dann, wenn ein Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift bei dem nationalen Gericht anhängig ist, das mit der Durchführung dieser Kontrolle betraut ist, befugt bzw. gegebenenfalls verpflichtet ist, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts vorzulegen.» (Seite 413)
Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht (BVGer), St. Gallen, zur Umsetzung des EGMR-Urteils Tarakhel gegen die Schweiz
Im Anlassfall geht es um eine asylsuchende Familie aus Eritrea mit minderjährigen Kindern, die über Italien in die Schweiz eingereist war und die nach Italien zurücküberstellt werden sollte. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde gutgeheissen. Das BVGer führt weiter aus:
«Blosse generelle Absichtserklärungen seitens Italien können nicht ausreichen, um eine allfällige Verletzung von Art. 3 EMRK ausschliessen zu können. Entsprechend den Voraussetzungen, wie sie im Urteil Tarakhel des EGMR genannt sind, muss im Zeitpunkt der Verfügung des SEM [Staatssekretariat für Migration] eine konkrete und individuelle Zusicherung – insbesondere unter Namens- und Altersangaben der betroffenen Personen – vorliegen, mit welcher namentlich garantiert wird, dass eine dem Alter der Kinder (oder des Kindes) entsprechende Unterkunft bei der Ankunft der Familie in Italien zur Verfügung steht und dass die Familie bei der Unterbringung nicht getrennt wird.» (Seite 415)
Zur zielführenden Zusammenarbeit der beteiligten Behörden in der Schweiz und in Italien siehe die Einzelheiten in der Anmerkung von Gerold Steinmann auf S. 417 f.
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erkennt in dem gesetzlichen Ausschluss der Ablehnung eines im Ermittlungsverfahren im Auftrag der Staatsanwaltschaft tätig gewesenen Sachverständigen als befangen eine Verletzung der Waffengleichheit (Art. 6 EMRK)
«Dieses Ergebnis hat allerdings nicht den generellen Ausschluss eines Sachverständigen allein aus dem Grund, dass er bereits im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft beigezogen wurde, für die Bestellung in der Hauptverhandlung zur Folge, sondern führt vielmehr dazu, dass das Gericht im Rahmen einer Einzelfallprüfung eine allfällige Befangenheit anhand der Regelung des § 47 Abs. 1 Z 3 iVm § 126 Abs. 4 erster Satz StPO (Vorliegen von Gründen, die geeignet sind, die volle Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit des Sachverständigen in Zweifel zu ziehen) zu beurteilen hat.» (Seite 418)
BVerfG zur Ermittlungseinstellung des Generalbundesanwalts gegen einen Oberst und einen Hauptfeldwebel der Bundeswehr wegen Bombardierung zweier von den Taliban entführter Tanklastwagen mit zahlreichen zivilen Todesopfern 2009 in Kunduz
In dem Nichtannahme-Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats heißt es: «Der Bescheid des Generalbundesanwalts stellt die von ihm durchgeführten Ermittlungen dar und leitet daraus ab, dass sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für einen hinreichenden Tatverdacht ergeben haben. Die wesentliche Annahme, dass sich die Einlassung nicht widerlegen lasse, der Beschuldigte K. habe im Zeitpunkt der Anordnung der Bombardierung und der Beschuldigte W. bei der Übermittlung dieses Befehls an die Piloten der Kampfflugzeuge in der Überzeugung gehandelt, bei den sich in der unmittelbaren Nähe der Tanklastwagen befindlichen Personen habe es sich um bewaffnete Aufständische gehandelt, und daher der subjektive Tatbestand einer Straftat gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB nicht gegeben sei, ist nicht willkürlich und aus verfassungsrechtlicher Sicht daher nicht zu beanstanden. (…)
Auch der Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16. Februar 2011 begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die durchgeführten Ermittlungen und deren Dokumentation durch den Generalbundesanwalt genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Eine nachfolgende gerichtliche Entscheidung, die dies überprüfen soll, kann somit nicht (mehr) zu einer Verletzung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung führen. (…)
Im vorliegenden Fall hat das Oberlandesgericht den Antrag zwar als unzulässig zurückgewiesen, weil er nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 172 Abs. 3 Satz 1 StPO entsprach, aus der Art und Weise sowie dem Umfang der Entscheidungsbegründung lässt sich jedoch eine intensive Auseinandersetzung mit dem Einstellungsbescheid des Generalbundesanwalts und den darin dokumentierten Ermittlungen ersehen.» (Seite 429)
BVerfG billigt unter Berücksichtigung des Kindeswohls den gegen den nichtehelichen Vater gerichtlich verhängten Umgangsausschluss / Fall Kuppinger
Der Bf. wendet sich gegen den 2013 verhängten auf zwei Jahre befristeten Umgangsausschluss mit seinem nichtehelichen Sohn. Die 1. Kammer des Ersten Senats nimmt die Vb nicht zur Entscheidung an. (Seite 433)
BVerfG qualifiziert die widersprüchliche Versagung von Prozesskostenhilfe bei gleichzeitiger Zulassung der Revision in einem finanzgerichtlichen Verfahren als Verletzung der Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). (Seite 438)
BVerfG sieht in der Nichtbescheidung eines Antrags auf anwaltliche Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren durch das Amtsgericht eine Verletzung der Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG). (S. 440)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, kritisiert den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán wegen der von ihm befeuerten Debatte über eine Wiedereinführung der Todesstrafe und fordert die Prüfung von Sanktionsmöglichkeitennach Art. 7 i.V.m. Art. 2 EUV durch die EU-Kommission. (Seite 442)
BVerfG untersagt mit EAO vorläufig die Abschiebung einer Familie mit Kleinstkindern nach Italien wegen des Fehlens der erforderlichen Zusagen für eine kindgerechte Unterbringung und Wahrung der Familieneinheit. Parallelfall zum EGMR-Urteil Tarakhel gegen die Schweiz. (Seite 444)
Siehe auch in diesem Sinne das Urteil des schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts (oben S. 415) mit Anmerkung von Steinmann (S. 417 f.).