EuGRZ 2000 |
13. Juni 2000
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27. Jg. Heft 7-8
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Informatorische Zusammenfassung
Ralf Alleweldt, Frankfurt (Oder), analysiert und bewertet den Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (CPT) über den Besuch in der Türkei 1997 und die Antwort der türkischen Regierung von 1999
«Folter und Mißhandlung stellt offensichtlich eine so anerkannte Vorgehensweise, eine so eingefahrene Routine dar, daß die Beharrungskräfte des Apparats sehr hoch sind. Manche Polizeibeamte mögen allerdings zu Folterhandlungen auch dadurch motiviert sein, daß sie glauben, ohne Rückgriff auf solche Methoden ihre Arbeit nicht wirksam erledigen zu können. Für sie besteht Bedarf an, wie vom CPT vorgeschlagen, Aus- und Fortbildung nicht nur im Bereich des Menschenrechtsschutzes, sondern auch und insbesondere auf dem Gebiet moderner polizeilicher Ermittlungsmethoden. (…)
„Die Türkei“ ist kein Monolith. Es gibt klar erkennbare Bestrebungen in der türkischen Regierung, das Folterproblem anzugehen, und auf legislativer Ebene sind im vergangenen Jahrzehnt eine Reihe bedeutsamer Schutzvorkehrungen eingeführt worden. Sie haben aber größtenteils den Weg vom Papier in die Wirklichkeit noch nicht gefunden. Es gibt offensichtlich starke Kräfte innerhalb des Staatsapparates, die an einer Änderung der Folterpraxis kein Interesse haben oder diesem Problem gleichgültig gegenüberstehen.
Die Aktivitäten des CPT haben jedenfalls maßgeblich dazu beigetragen, daß der Umgang mit Folter in der Türkei sich heute nicht mehr darauf beschränkt, sie – zu Recht – als einen beklagenswerten Mißstand und Skandal anzuprangern. Die Behandlung der Personen in den türkischen Polizeizellen mag sich noch nicht wesentlich verändert haben, aber sie wird heute innerhalb und außerhalb der Türkei als grundsätzlich veränderungsfähig wahrgenommen und anerkannt. Das Folterverbot ist gleichsam vom Ideal zum Imperativ geworden: Rechtsdurchsetzung im Bereich des Folterverbots ist heute ein konkretes politisches Ziel, das unterschiedliche Kräfte sich gesetzt und in Angriff genommen haben, ein Ziel, dem man sich nähern und das man erreichen kann.» (Seite 193)
Der „Corpus of Standards“ des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT), Straßburg
Die allgemeinen Empfehlungen des CPT, in deutscher Übersetzung und Bearbeitung von Ralf Alleweldt und Swantje Reiserer, Frankfurt (Oder), beziehen sich insbesondere auf Polizeigewahrsam und Gefängnishaft, Gesundheitsdienste in Gefängnissen, auf ausländerrechtliche Haft, psychiatrische Einrichtungen und Hafteinrichtungen für Jugendliche.
Die einzelnen Probleme werden vom Anti-Folterkomitee des Europarates, das ja nicht über Sanktionen zu entscheiden, sondern Sachverhalte festzustellen und ggf. Abhilfe vorzuschlagen bzw. einzufordern hat, in geduldig bestimmtem und zuweilen energischem Duktus entwickelt. Dies erleichtert es den Behörden, Kritik zu akzeptieren und bessere Einsicht zu gewinnen. (Seite 247)
S.a. die umfassende Aufarbeitung der Erkenntnisse und Empfehlungen des CPT mit Länderübersicht von Alleweldt in EuGRZ 1998, 245-271.
Jürgen Rühmann, Dresden, kommentiert rechtsvergleichend eine Entscheidung des französischen Verfassungsrates (EuGRZ 2000, 229) über eine befristete Ermächtigung der Exekutive zur Normbereinigung
Der Autor setzt sich mit den Auswirkungen von Änderungsgesetzen bzw. mit Inhalt und Grenzen der Erlaubnis zur Neubekanntmachung auseinander, wobei er jeweils für Frankreich und Deutschland die an Effektivität und Verfassungsmäßigkeit orientierten Interessenlagen von Regierungen bzw. die mit demokratischen Pflichten gelegentlich in Widerstreit geratende Unlust von Parlamenten zur Normbereinigung veranschaulicht. (Seite 204)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erklärt die Einreichung einer Stellungnahme der Parteien zu den Schlußanträgen des Generalanwalts für nicht zulässig / Emesa-Beschluß
«Anders als in der Gerichtsverfassung mancher Mitgliedstaaten bilden die Generalanwälte, zwischen denen kein hierarchisches Verhältnis besteht, auch keine Staatsanwaltschaft oder vergleichbare öffentliche Stelle und unterstehen keiner Behörde.» Der EuGH betont, die Generalanwälte gehören dem Gerichtshof im selben Rangund mit denselben Immunitäten wie die Richter an.
«Die Schlußanträge stehen außerhalb der Verhandlung zwischen den Parteien und eröffnen die Phase der Beratung des Gerichtshofes. Sie sind deshalb keine an die Richter oder die Parteien gerichtete Stellungnahme, die von einer Behörde außerhalb des Gerichtshofes herrührte oder „ihre Autorität aus der [einer] Staatsanwaltschaft … herleitete (EGMR-Urteil Vermeulen/Belgien, Ziff. 31 = RUDH 1996, 163), sondern die individuelle, begründete und öffentlich dargelegte Auffassung eines Mitglieds des Organs selbst.» Aus diesen Gründen sei die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens zitierte EGMR-Rechtsprechung nicht auf das Verfahren vor dem EuGH übertragbar. (Seite 210)
EuGH versagt Vertrauensschutz bei vorhersehbarer Reduzierung zollfreier Einfuhrmengen von in überseeischen Gebieten (niederl. Aruba) bearbeitetem Zucker / Emesa-Urteil
Zugleich bestätigt der EuGH seine restriktiven Kriterien für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch nationale Gerichte gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen. (Seite 211)
EuGH qualifiziert luxemburgische Steuerdiskriminierung von Ehegatten mit getrenntem Wohnsitz in zwei EU-Staaten als Verletzung der Arbeitnehmer-Freizügigkeit / Rs. Zurstrassen
Die Steuerverwaltung hatte den in Luxemburg beschäftigten Kläger des Ausgangsverfahrens mit der höheren Abgabenpflicht für Ledige belastet, weil seine Ehefrau, die nicht berufstätig ist, mit den Kindern insbesondere aus schulischen Gründen weiterhin in Belgien wohnt. (Seite 217)
EuGH sieht Männer durch um zwei Jahre früheres Rentenalter für Frauen bei vorzeitiger Alterspension wegen Berufsunfähigkeit in der österreichischen Sozialversicherung für Bauern benachteiligt / Rs. Buchner u. a.
Die festgestellte Diskriminierung könne durch Haushaltserwägungen nicht gerechtfertigt werden und sei außerdem «nicht notwendig mit dem unterschiedlichen [allgemeinen] Rentenalter für Männer (65) und Frauen (60) verbunden». (Seite 220)
EuGH bestätigt auf Vorlage des Hessischen Staatsgerichtshofs (EuGRZ 1997, 213) die „flexible Ergebnis-Quote“ der Frauenförderung nach dem hessischen Gleichstellungsgesetz / Rs. Badeck u. a.
Die GleichbehandlungsRL steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, «die in Bereichen des öffentlichen Dienstes, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, bei gleicher Qualifikation von Bewerberinnen und Bewerbern den Bewerberinnen Vorrang einräumt, wenn dies zur Erfüllung der Zielvorgaben des Frauenförderplans erforderlich ist und keine Gründe von größerem rechtlichen Gewicht entgegenstehen, sofern diese Regelung gewährleistet, daß die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der die besondere persönliche Lage aller Bewerberinnen und Bewerber berücksichtigt wird.» (Seite 222)
Verfassungsrat, Paris, billigt Gesetz zur befristeten Ermächtigung der Regierung, zur Normbereinigung auch Gesetzesteile bestimmter Kodifikationen durch Verordnung zu regeln
Der Conseil constitutionnel weist u. a. darauf hin, daß die Regierung nicht zuletzt unter der Aufsicht des Staatsrates (Conseil d'Etat) handelt und daß die getroffenen Regelungen zudem vom Parlament ratifiziert werden müssen. (Seite 229)
S.a. den rechtsvergleichenden Aufsatz von Rühmann, oben S. 204 ff.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erstreckt den verfassungsmäßigen Schutz des Fernmeldegeheimnisses auch auf den E-Mail-Verkehr über Internet
Für den zu entscheidenden Fall der Aufklärung eines Erpressungsversuchs per manipulierter E-Mail (Änderung von Absender und Versanddatum) durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich kommt das BGer zu dem Ergebnis, «dass die Erhebung von Randdaten des E-Mail-Verkehrs den allgemeinen Voraussetzungen von Grundrechtseingriffen genügen muss: Sie muss sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen und darf im Sinne von &Par; 179Žocties StGB nur mit richterlicher Genehmigung für die Verfolgung von Verbrechen oder Vergehen erfolgen, deren Schwere oder Eigenart die Massnahme rechtfertigt.» (Seite 231)
Italienischer Verfassungsgerichtshof, Rom, gesteht sprach- und gehörbehinderten Angeklagten unentgeltlichen Dolmetscher zu
Zur Durchsetzung des Anspruchs auf effektive Verteidigung füllt die Corte costituzionale die Lücke durch «eine „additive“ Tenorierung». (Seite 237)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erachtet Eigentumsrecht beitragspflichtiger Anlieger durch Nichtheranziehung weiterer Nutznießer eines Güterweges als verletzt
Sonst «hätte es die Behörde in der Hand, Nutznießer eines Interessentenweges von der Beitragsverpflichtung auszunehmen, ohne daß den tatsächlich Einbezogenen diesbezüglich Parteistellung zukäme.» (Seite 239)
VfGH begründet subjektives Recht auf Empfang von Lebensmittelpaketen im Strafvollzug mit dem Rechtsstaatsprinzip und mit Art. 8 EMRK
Im konkreten Fall hätte der Leiter der Justizanstalt über den Antrag des Bf., von der generell für sämtliche Strafgefangenen angeordneten zeitweiligen Paketsperre ausgenommen zu werden, eine Sachentscheidung treffen müssen. (Seite 240)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, nimmt Vb. des „Neuen Forums“ gegen ein, von einer Betroffenen erwirktes, gerichtliches Verbot der Auslegung einer Liste mit 4500 Namen inoffizieller Mitarbeiter der Stasi im Bezirk Halle nicht zur Entscheidung an
Die 1. Kammer des Ersten Senats stellt allerdings fest: «Dem Veröffentlichungsinteresse des Beschwerdeführers [Neues Forum] haben die Gerichte unter Verkennung seiner grundrechtlichen Position zu wenig Bedeutung beigemessen. Der Beschwerdeführer wollte – wie sich insbesondere der Vorbemerkung entnehmen lässt – mit der Auslegung der Liste zum Verständnis der Tätigkeit des MfS beitragen und an der politischen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit teilnehmen. Dieses Anliegen stand unter dem Schutz des Grundrechts. Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet jedermann das Recht, frei zu entscheiden, zu welchen Gegenständen er sich öffentlich äußert. Der Zeitabstand zwischen einer Äußerung und ihrem Gegenstand, auf den das Oberlandesgericht maßgeblich abgestellt hat, schränkt diese Freiheit grundsätzlich nicht ein. Dies gilt zumal dann, wenn Gegenstand der Äußerung die „Aufarbeitung“ historischer Vorgänge ist. Es ist nicht Aufgabe staatlicher Gerichte, einen Schlussstrich unter eine Diskussion zu ziehen oder eine Debatte für beendet zu erklären.» (Seite 242)
Generalsekretär des Europarats, Walter Schwimmer, zur russischen Verzögerung der Sicherheitsgarantien für die drei nach Tschetschenien zu entsendenden Europarats-Beamten / EuGRZ-Interview
Der am 4. April 2000 in Kraft getretene Tschetschenien-Vertrag zwischen Rußland und dem Europarat (Text in EuGRZ 2000, S. 188, Übersicht, Ziff. 2) garantiert für drei Europarats-Beamte die gleichberechtigte Mitwirkung im Büro des Sonderbeauftragten des russischen Präsidenten für Menschenrechte in Tschetschenien, dessen Aufgabe die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen vor Ort ist.
Die von Außenminister Igor Ivanov am 10. Mai in Straßburg zugesagte schriftliche Bestätigung der 15 beiderseits für notwendig erachteten Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Beamten, ist bis zum 31. Mai nicht eingetroffen. Das einzig noch ungelöste Problem sei die Zuteilung von Radiofrequenzen für die Verbindung zwischen festem Büro und den Kraftfahrzeugen. (Seite 246)
Kanzlei des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Straßburg, registriert erste Individualbeschwerde aus Tschetschenien
Die Bf. war Krankenschwester im Militärkrankenhaus von Grosny. Sie trägt vor, während der Evakuierung Anfang Februar 2000 von russischem Militär gefangengenommen, geschlagen und sexuell mißbraucht worden zu sein. Zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs macht sie geltend, zielführende Institutionen seien in Tschetschenien nicht vorhanden. (Seite 264)