EuGRZ 2001 |
26. April 2001
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28. Jg. Heft 7
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Informatorische Zusammenfassung
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt das Pflege-Versicherungsgesetz grundsätzlich als verfassungsgemäß
Lediglich in zwei Punkten wird ein Verfassungsverstoß festgestellt, und zwar beim Ausschluß von Personen ohne Krankenversicherung vom Zugang zur gesetzlichen Pflegeversicherung und bei der Benachteiligung von Eltern mit Kindern bei der Beitragsbemessung in der sozialen Pflege-Versicherung.
1.- Pflege-Versicherungspflicht auch für privat Krankenversicherte (private Pflege-Pflichtversicherung) verfassungsgemäß
«Die Absicherung existentieller Risiken ist keineswegs der Sozialversicherung vorbehalten. Private Versicherungsunternehmen versichern seit langem auch solche Risiken, wie beispielsweise das der Krankheit.
Die Zuordnung des hier betroffenen Teils der Pflegeversicherung zum Bereich des privatrechtlichen Versicherungswesens wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Zustandekommen der Versicherungsverträge auf einer gesetzlich angeordneten Versicherungspflicht beruht. Dem Privatversicherungsrecht ist die Pflichtversicherung des Versicherungsnehmers bei freier Wahl des Versicherers, wie sie das SGB XI für die private Pflege-Pflichtversicherung vorsieht (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2), keineswegs fremd (…). Hinzuweisen ist insbesondere auf die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter. Die Anordnung einer Versicherungspflicht kann auf die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden. (…)
Dem Staat ist die Wahrung der Würde des Menschen in einer solchen Situation der Hilfsbedürftigkeit besonders anvertraut (Art. 1 Abs. 1 GG). Soweit der durch die Pflegebedürftigkeit hervorgerufene Hilfsbedarf finanzielle Aufwendungen notwendig macht, ist es ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers, die dafür notwendigen Mittel auf der Grundlage einer Pflichtversicherung sicherzustellen (…), die im Grundsatz alle Bürger als Volksversicherung erfasst. (…)
Die gesetzliche Verpflichtung zum Abschluss eines Pflege-Versicherungsvertrages stellt schließlich für die Betroffenen keine unangemessene Belastung dar. Diese Verpflichtung macht ein Lebensrisiko mit für die meisten nicht finanzierbaren Folgen durch verhältnismäßig niedrige Prämien kalkulierbar und im Versicherungsfall tragbar. Die Unabhängigkeit des Einzelnen wird im Ergebnis dadurch gestärkt.» (Seite 165)
2.- Ausschluß von Personen ohne Krankenversicherung vom Zugang zur sozialen Pflegeversicherung verfassungswidrig
«Es bestehen verfassungsrechtlich keine Bedenken, dass der Gesetzgeber die Versicherungspflicht in der Pflegeversicherung grundsätzlich an das Bestehen eines gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungsschutzes geknüpft hat.
Es verstößt jedoch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dass der Gesetzgeber gleichermaßen schutzbedürftige Personen ohne Krankenversicherungsschutz vom Zugang zur gesetzlichen Pflegeversicherung ausgeschlossen hat, die als Volksversicherung angelegt ist. Diesen Personen ist zumindest ein Beitrittsrecht einzuräumen.» Die Frist für eine gesetzgeberische Nachbesserung ist auf den 31.12.2001 festgesetzt. (Seite 173)
3.- Benachteiligung von Eltern mit Kindern bei der Betragsbemessung in der sozialen Pflegeversicherung verfassungswidrig
«Als Freiheitsrecht verpflichtet Art. 6 Abs. 1 GG den Staat, Eingriffe in die Familie zu unterlassen. Darüber hinaus enthält die Bestimmung eine wertentscheidende Grundsatznorm, die für den Staat die Pflicht begründet, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern. (…)
Die Erziehungsleistung versicherter Eltern begünstigt innerhalb eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems, das der Deckung eines maßgeblich vom Älterwerden der Versicherten bestimmten Risikos dient, in spezifischer Weise Versicherte ohne Kinder. (…) Denn bei Eintritt der ganz überwiegenden Zahl der Versicherungsfälle ist das Umlageverfahren auf die Beiträge der nachwachsenden Generation angewiesen. (…)
Die heutigen Beitragszahler der erwerbsfähigen Generation vertrauen im Umlageverfahren darauf, dass in der Zukunft in ausreichendem Umfang neue Beitragsschuldner vorhanden sind. Dies können nur die heutigen Kinder sein, denen in der Zukunft zugunsten der dann pflegebedürftigen Alten durch die mit Beitragslasten verbundene Pflichtmitgliedschaft eine kollektive Finanzierungspflicht auferlegt wird, die einer auf den besonderen Bedarf der Pflege bezogenen Unterhaltspflicht gleichkommt. Diese Pflicht besteht jedoch, unabhängig vom Vorhandensein familiärer Unterhaltsverpflichtungen, gegenüber allen pflegebedürftigen Alten. (…)
Hierin liegt eine Benachteiligung von erziehenden Versicherten, die im Beitragsrecht auszugleichen ist. Ein gewisser Ausgleich besteht zwar darin, dass die kinderbetreuenden und -erziehenden Versicherten bei gleichen Beiträgen, wie sie Kinderlose zahlen, Leistungen auch für die anderen Familienangehörigen erhalten. Diese Begünstigung wiegt aber den mitder Erziehungsleistung zusätzlich erbrachten generativen Beitrag und den damit verbundenen Nachteil der Erziehenden angesichts des Vorteils, der den Kinderlosen durch die Erziehungsleistung zuwächst, nicht vollständig auf. Dementsprechend fordert der Ausgleich der Benachteiligung mehr als nur den beitragsfreien Erwerb der Inanspruchnahme von Pflegeleistungen durch Familienangehörige.»
Aus Gründen der Rechtssicherheit und im Hinblick auf die notwendige Finanzierbarkeit einer verfassungskonformen Regelung läuft die Frist für den Gesetzgeber bis zum 31.12.2004. (Seite 178)
4.- Unterschiedliche Beitragshöhe in sozialer und privater Pflegeversicherung verfassungsgemäß / Kinder von privat Versicherten bleiben unberücksichtigt
«Die unterschiedlich hohe Belastung ist eine Folge daraus, dass sich die Beiträge in der sozialen Pflegeversicherung am Einkommen des Versicherten ausrichten, in der privaten Pflegeversicherung dagegen risikobezogen sind. Wenn die Zuordnung krankenversicherter Personen zu einem der beiden Versicherungszweige verfassungsrechtlich unbedenklich ist, dann ist es auch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, wenn die in der privaten Pflegeversicherung Versicherten Prämien zahlen, die im Einzelfall die entsprechenden Beiträge in der sozialen Pflegeversicherung überschreiten.»
«Es verletzt auch Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht, dass der Gesetzgeber zum gegenwärtigen Zeitpunkt von einer Verpflichtung der Versicherungsunternehmen der privaten Pflegeversicherung absieht, bei der Ausgestaltung der Prämien die Betreuung und Erziehung von Kindern des Versicherungsnehmers zu berücksichtigen. Die Finanzierung der Leistungen der privaten Pflegeversicherung erfolgt im so genannten Anwartschaftsdeckungsverfahren, bei dem grundsätzlich nicht anders als in der privaten Krankenversicherung die Prämien zur Bildung von Alterungsrückstellungen für künftige Versicherungsleistungen genutzt werden. Damit ist die private Pflegeversicherung zunächst nicht in gleicher Weise auf die Prämienzahlungen der nachwachsenden Generationen angewiesen wie die soziale Pflegeversicherung, die auf dem Umlageverfahren und damit auf einer „intergenerativen“ Umverteilung beruht.»
Allerdings habe der Gesetzgeber zu prüfen, ob nicht auch in der privaten Pflegeversicherung die Umlagefinanzierung auf lange Sicht überwiegen werde, und habe ggf. für Eltern mit Kindern bei der Beitragsbemessung entsprechende Konsequenzen zu ziehen. (Seite 186)