EuGRZ 2003
18. Juni 2003
30. Jg. Heft 7-10

Informatorische Zusammenfassung

Christian Callies, Graz, entwickelt aus dem Vergleich der Kontrolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa ein „Lehrstück für die Europäische Verfassung“
Die gerichtliche Gegenkontrolle durch den EuGH samt ihrer präventiven Wirkung gegenüber den anderen Institutionen ist für die effektive Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 5 EGV entscheidend – von dieser These ausgehend begrüßt der Autor die Kehrtwende des Bundesverfassungsgerichts im Altenpflegegesetz-Urteil (EuGRZ 2002, 631) zur Kompetenzausübungsschranke des Art. 72 Abs. 2 GG n.F.
Denn hatte das BVerfG die Entscheidung darüber, ob ein „Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht“, in seiner bisherigen Rechtsprechung (zu Art. 72 Abs. 2 GG a.F.) stets dem Bundesgesetzgeber im Rahmen einer zu respektierenden „politischen Vorentscheidung“ zugestanden, so betont es jetzt: „Ein von verfassungsrechtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG besteht nicht.“ Die Merkmale des Art. 72 Abs. 2 GG seien „unbestimmte Rechtsbegriffe“. Insofern wertet Callies das Urteil trotz des nur sehr beschränkten konkreten Verfahrenserfolges als einen „Sieg in der Niederlage“.
Das bedeutet: «Mit der Entscheidung wurde der Grundstein für eine Erhöhung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte im Hinblick auf die Kompetenznorm des Art. 72 GG gelegt, wodurch sich für die Länder in weiterer Folge erstmals seit langem eine realistische Chance ergibt, ihre verfassungsgemäßen Kompetenzen auch in einer Weise auszuüben, wie es für ein föderalistisches Verfassungsmodell charakteristisch ist, das über einen bloßen Exekutivföderalismus hinausgeht.»
Allerdings müsse es willkürlich erscheinen, wenn das BVerfG wie im Maastricht-Urteil (EuGRZ 1993, 429, 446) die aus den Staat-Bürger-Beziehungen bekannte dreistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Schutz der „Mitgliedstaaten … gegen ein Übermaß europäischer Regelungen“, nicht jedoch im Bund-Länder-Verhältnis im Rahmen der Prüfung der „Erforderlichkeit“ angewendet wissen will.
Mit Blick auf die Europäische Verfassung sollte der «EuGH alleiniger Wächter über die Einhaltung der Kompetenzordnung bleiben». Deshalb dürfe er sich nicht – wie ehedem das BVerfG – aus der Entscheidung über Kompetenzstreitigkeit nach Art. 5 EGV mit dem Hinweisauf deren politischen Charakter zurückziehen und damit den Vorrang des Gemeinschaftsrechts wie überhaupt die verfassungsrechtliche Architektur der EU/EG in Frage stellen.
Der Autor stellt eine Neuformulierung des Art. 5 Abs. 2 EGV zur Diskussion und plädiert nachdrücklich für einen wechselseitigen Lernprozess: „Er ist im europäischen Verfassungsverbund, der über eine Verzahnung der Verfassungen hinaus auch durch eine wechselseitige „Verfassungsbefruchtung“… gekennzeichnet ist, überdies geboten.» (Seite 181)
Johan Callewaert, Straßburg, erarbeitet in seiner Bestandsaufnahme „Die EMRK und die EU-Grundrechtecharta“ Kon sequenzen aus einer „Harmonisierung auf halbem Weg“
Dem Grundrechte-Konvent sei es gelungen, «die Charta in ein Verhältnis zur EMRK zu bringen, das dem Subsidiaritätsprinzip der EMRK entspricht und der Beziehung zwischen der EMRK und den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten sehr nahe kommt. Es wurde mit anderen Worten erreicht, dass die Charta auf der EMRK aufbaut, statt mit ihr zu konkurrieren, was letztlich beiden Texten erheblich geschadet hätte.»
«Wie Arbeitsgruppe II des [Verfassungs-]Konvents zutreffend bemerkt, würde mit der Charta und dem Beitritt dieselbe Rechtslage herbeigeführt wie in den Mitgliedstaaten, die den Schutz der Grundrechte in ihren Verfassungen verankert und sich gleichzeitig in Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte der zusätzlichen externen Kontrolle des Straßburger Gerichtshofs unterworfen haben. Hier möchte man hinzufügen, dass diese Unterwerfung nicht in etwaigen Gefälligkeitsüberlegungen begründet ist, sondern in der Ansicht, dass nach heutigem Rechtsempfinden Grundrechtsschutz auf innerstaatlicher Ebene erst glaubwürdig wird, wenn er sich auch einer Überprüfung von außen stellt. (…)
Die Charta hat die Interdependenz besiegelt, die zwischen der EMRK und dem Gemeinschaftsrecht längst zur Realität geworden war, und sie auf das ganze Recht der Union ausgeweitet. Was ohnehin schon Tatsache war, wurde nun formell bestätigt und beurkundet: Keine der beiden europäischen Grundrechtsordnungen, weder die EMRK noch die EU-Grundrechtsordnung, kann noch völlig autonom, d. h. ohne Rückkoppelung mit der anderen in rechtlich befriedigender Weise funktionieren. (…)
Wie zutreffend bemerkt wurde, sind es die gleichen Grundrechtsträger – die Bürger – die von beiden Grundrechtsordnungen erfasst werden und wenig Verständnis für Inkohärenzen auf diesem Gebiet aufbringen dürften (Hoffmann-Riem). Die Antwort darauf ist die Schaffung eines europäischen Grundrechteraums als Teil des europäischen Verfassungsraums, auf den Rodríguez Iglesias in seiner Straßburger Rede verwies. (…) Den Grundstein dazu bildet der Beitritt der EU zur EMRK, der damit neben der Charta zu einem gemeinsamen Anliegen aller europäischen Staaten sowie der EU selbst geworden ist.» (Seite 198)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bestätigt Verbot der islamistischen „Wohlfahrtspartei“ durch türkisches Verfassungsgericht / Refah Partisi, Erbakan u. a. gegen Türkei
Der Gerichtshof hält zunächst fest, «dass die Bf. nicht ausreichend nachgewiesen haben, dass die Auflösung der Refah Partei durch andere Gründe veranlasst war als diejenigen, die der Verfassungsgerichtshof vorgetragen hat. Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Prinzips des Laizismus für das demokratische System in der Türkei ist er der Auffassung, dass die Auflösung der Refah mehrere der in Art. 11 EMRK aufgeführten legitimen Ziele verfolgte: die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, die Verteidigung der Rechtsordnung und/oder die Verhütung von Straftaten sowie den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.»
Sodann betont der EGMR die Verantwortung des Staates für den religiösen Frieden als Teil der öffentlichen Ordnung und seine Pflicht, „gegenseitige Toleranz zwischen verfeindeten Gruppen“ zu gewährleisten. Als Beispiele nennt er u. a. das Recht des Staates, das Tragen eines islamischen Schleiers unter bestimmten Umständen (Lehrerin an öffentlichen Schulen in der Schweiz, Studentinnen an öffentlichen Hochschulen in der Türkei) zu beschränken. «In einem Land wie der Türkei, wo die große Mehrheit der Bevölkerung einer bestimmten Religion angehört, können an den Universitäten ergriffene Maßnahmen, die verhindern sollen, dass gewisse fundamentalistische Bewegungen Druck auf diejenigen Studierenden ausüben, welche diese Religion nicht praktizieren oder einer anderen Religion angehören, im Hinblick auf Art. 9 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt sein. (…)
In Ansehung der Wichtigkeit, welche die Beachtung des Prinzips des Laizismus in der Türkei für das Überleben des demokratischen Regierungssystems besitzt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Verfassungsgerichtshof zu Recht angenommen hat, dass das Programm der Refah, welches auf die Einführung der Scharia abzielte, mit der Demokratie unvereinbar war.» (Seite 206)
EGMR billigt gütliche Einigung (3.000,- Euro) wegen Verfahrensdauer (fast 9 Jahre) / Axen u. a. gegen Deutschland
Die Bf. sind die Erben (Witwe und zwei Töchter) des SED-Politbüromitglieds Hermann Axen. Die erste frei gewählte Volkskammer der DDR hatte 1990 durch den hierfür zuständigen Sonderausschuss die Einziehung von 250.000,- DDR-Mark, die Axen zum Umtausch in D-Mark (West) angemeldet hatte, wegen „Missbrauchs seiner Funktion, Inanspruchnahme selbstbestätigter Privilegien und gröblich gegen die guten Sitten verstoßender Handlungen“ angeordnet. Hierin hatte der EGMR keine Verletzung des Rechts auf Schutz des Eigentums gesehen. (Seite 222)
EGMR hält Abweisung der Klage auf Rückübertragung eines kurz nach dem Fall der Mauer in der DDR übereigneten Hauses für EMRK-konform / Wittek gegen Deutschland
Die Bf. hatten im Gegenzug für eine notariell beurkundete fiktive Schenkung für das von ihnen für 56.000,- DDR-Mark erworbenen Haus auf einem Konto in der Schweiz 55.000,– DM (West) erhalten. (Seite 224)
EGMR beanstandet überlange Verfahrensdauer (16 Jahre) einer aktienrechtlichen Zivilklage / Kind gegen Deutschland
Konkret ging es um die Höhe der Barabfindung von Minderheitsaktionären nach der Firmenumwandlung einer Brauerei in Nordrhein-Westfalen. (Seite 228)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, zieht Art. 8 EMRK als Beurteilungsmaßstab für die Reichweite der Privatsphäre im gemeinschaftsrechtlichen Datenschutz heran / Rs. Rechnungshof gegen Österreichischen Rundfunk u. a.
Anders als Generalanwalt Antonio Tizzano, der die Vorlagefragen des österreichischen VfGH und OGH zur namentlichen Erfassung und Offenlegung höherer Jahreseinkommen durch den Rechnungshof für unzulässig, weil außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegend, hält (EuGRZ 2003, 85), kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die nationalen Gerichte nach Art. 8 Abs. 2 EMRK prüfen müssen, ob die Regelung notwendig und angemessen ist.
Eine mit Art. 8 EMRK unvereinbare Regelung könne nicht dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit nach Art. 6 und 7 der RL 95/46/EG genügen. Auch könnte keiner der Ausnahmetatbestände des Art. 13 RL gegeben sein (…) «Jedenfalls kann diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden, dass sie eine gegen Artikel 8 EMRK verstoßende Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens rechtfertigen könnte.»
Sollten die vorlegenden Gerichte insoweit zu keiner Beanstandung kommen, wäre ggf. weiter zu prüfen, ob die einschlägige Vorschrift des innerstaatlichen Gesetzes dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit für die Betroffenen entspricht. (Seite 232)
EuGH sieht in der Beschränkung der Wehrpflicht auf Männer keine Verletzung des Gemeinschaftsrechts / Rs. Dory
«Entscheidungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der militärischen Organisation, die die Verteidigung ihres Hoheitsgebiets oder ihrer unabdingbaren Interessen zum Ziel haben,» fallen nicht unter das Gemeinschaftsrecht. (Seite 241)
Das Urteil entspricht den Schlussanträgen von Generalanwältin Christine Stix-Hackl, EuGRZ 2002, 675 ff.
EuGH bestimmt Reichweite des Ne-bis-in-idem-Prinzips gem. Art. 54 SDÜ (Schengener Durchführungsübereinkommen) bei Verfahrenseinstellung nach Vergleich zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem / Rsn. Gözütok und Brügge
«Das in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung [impliziert] unabhängig davon, ob es auf zum Strafklageverbrauch führende Verfahren unter oder ohne Mitwirkung eines Gerichts oder auf Urteile angewandt wird, zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde.» (Seite 244)
Das Urteil entspricht den Schlussanträgen von Generalanwalt Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer, EuGRZ 2002, 556 ff.
EuGH erklärt TabakRL 2001/37/EG nach vertiefter Kompetenz-Kontrolle für gültig / Rs. British American Tobacco
Rechtsgrundlage(n), Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Begründungspflicht, Subsidiaritätsprinzip, Grundrecht auf Eigentum sind gewahrt. (Seite 248)
House of Lords, London, hält Kompetenz des Innenministers, die tatsächliche Dauer von lebenslangen Freiheitsstrafen zu bestimmen, für unvereinbar mit Art. 6 EMRK
Den Versuch einer konventionskonformen Auslegung von § 29 Crime (Sentences) Act 1997 verwirft Lordrichter Bingham of Cornhill als „richterlichen Vandalismus“. (Seite 263)
House of Lords wertet die obligatorische lebenslange Freiheitsstrafe bei der Verurteilung Erwachsener wegen Mordes als mit der EMRK vereinbar. (Seite 265)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, präzisiert den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Massnahmevollzug
Er ist nicht generell für die gesamte Dauer des Vollzugs, sondern nur für ein konkretes Verfahren (hier: Urlaubsgewährung) gegeben. (Seite 267
)
BGer wendet die Garantien des Art. 6 Ziff 1 EMRK auch auf die Beschlagnahme von Hanfpflanzen (Canabis) an
Da die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich keine richterliche Behörde ist, ist der Bf. der Zugang zu einer kantonalen gerichtlichen Instanz zu ermöglichen. (Seite 271)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, verpflichtet den Gesetzgeber, eine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit bei entscheidungserheblicher Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu schaffen / Plenarbeschluss
Sollte der Gesetzgeber in der vom BVerfG gesetzten legislatorischen Frist bis zum 31.12.2004 keine Neuregelung treffen, «ist das Verfahren auf Antrag vor dem Gericht fortzusetzen, dessen Entscheidung wegen einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör angegriffen wird. Der Antrag ist binnen 14 Tagen seit Zustellung der Entscheidung zu stellen.» (Seite 273)
BVerfG zur Reichweite von Pressefreiheit und Fernmeldegeheimnis
Richterliche Anordnungen zur Herausgabe der Verbindungsdaten von Telefongesprächen gegenüber Telekommunikationsunternehmen sind nur gerechtfertigt, „wenn sie zur Verfolgung einer Straftat von erheblicher Bedeutung [hier: Mord bzw. Kreditbetrug in Milliardenhöhe] erforderlich sind, hinsichtlich der ein konkreter Tatverdacht besteht und wenn eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme vorliegt, dass der durch die Anordnung Betroffene mit dem Beschuldigten über Telekommunikationsanlagen in Verbindung steht.“ (Seite 280)
BVerfG stellt NPD-Verbotsverfahren ein
Die zur Ablehnung des Einstellungsantrags der NPD und damit zur Fortführung des Verfahrens nach § 15 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Senat wurde nicht erreicht. Lediglich eine 4:3-Mehrheit sieht in der Rolle der V-Leute staatlicher Behörden kein Verfahrenshindernis. Diese Entscheidung entfaltet keine Sperrwirkung gegenüber einem etwaigen neuen Verbotsantrag. (Seite 291)
 BVerfG zur überlangen Dauer von Strafverfahren
Die 3. Kammer des Zweiten Senats setzt sich mit den verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen und der Reichweite von Art. 6 EMRK auseinander. (Seite 307)
EU-Verfassung – Vorentwurf des Konvents-Präsidiums vom 24./26. Mai (CONV 724/03) mit Erläuterungen; Europäisches Parlament zur Hierarchie der Normen in der EU. (Seiten 315, 353)
EuGH / GA Ruiz-Jarabo Colomer plädiert für Anspruch auf Witwerrente eines transsexuellen Lebenspartners. (Seite 356)