EuGRZ 2004 |
30. Juni 2004
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31. Jg. Heft 9-12
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Informatorische Zusammenfassung
Bardo Fassbender, Berlin, bewertet die Gegenwartskrise des völkerrechtlichen Gewaltverbotes vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung
«Das Gewaltverbot der UN-Charta ist die zentrale Antwort des Völkerrechts auf das furchtbare Leid der Menschen im Zweiten Weltkrieg. Die andere Antwort ist der internationale Schutz der Menschenrechte. (…) Die im neunzehnten Jahrhundert bestehende Freiheit der Staaten, nach Belieben „zum Kriege zu schreiten“ – so die seinerzeit in der politischen und völkerrechtlichen Sprache übliche Wendung –, wurde im Zeitalter des Völkerbundes durch eine Anzahl sogenannter relativer Kriegsverbote stark eingeschränkt und durch das allgemeine Gewaltverbot der UN-Charta von 1945 beseitigt. (…) Sollten die Vereinigten Staaten an ihrer neueren Praxis der einseitigen Bestimmung und militärischen Bekämpfung auch fernliegender Bedrohungen festhalten, so käme dies – mit der naheliegenden Gefahr eines ähnlichen Vorgehens anderer Staaten – einer schweren Erschütterung des Gewaltverbotes gleich.»
Der Behauptung, „Krieg“ sei die Antwort auf den Terrorismus, widerspricht der Autor: «In Anlehnung an die Behandlung der Piraten sollten auch Terroristen, die sich de facto „staatsfrei“ bewegen, als Straftäter zur Rechenschaft gezogen werden. (…) Die Unterscheidung von staatlicher Gewalt und privater Kriminalität ist eine völkerrechtsdogmatische Errungenschaft, die aufrecht zu erhalten in einer Zeit einer zunehmenden Labilität des Gewaltverbots der UN-Charta besonders wichtig ist.»
Eine pax americana hält Fassbender nicht für zielführend: «Fällt den USA schon die militärische Befriedung eines Landes wie des Irak schwer, das durch jahrelange internationale Sanktionen außerordentlich geschwächt war und dem kein einziger anderer Staat militärischen Beistand geleistet hat, ist nicht zu erkennen, wie eine pax americana gegen stärkere Gegner und insbesondere gegen wesentliche Interessen anderer Großmächte (China, Russland) durchgesetzt werden könnte. (…) Ein anderer Ordnungsmechanismus als der des globalen Rechts ist nicht in Sicht. Eine rechtlich geordnete Weltgesellschaft aber ist unvereinbar mit einer einseitigen, unkontrollierten Anwendung militärischer Gewalt durch einzelne ihrer Teile.» (Seite 241)
Marten Breuer, Potsdam, kommentiert die neuen Wege des EGMR bei der Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen im Fall Asanidse gegen Georgien (EuGRZ 2004, 268)
[Der Gerichtshof hat im Urteilstenor ausgesprochen, der Bf. sei zum frühestmöglichen Zeitpunkt freizulassen.]
Der Autor kommt zu dem Ergebnis, der EGMR sei zwar noch immer weit von den Befugnissen entfernt, wie sie die AMRK zugunsten des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte kennt: «Gleichwohl ist das Urteil als wesentlicher Schritt zu werten, denn mit ihm hat der EGMR sich endgültig von seiner früheren Rechtsprechung verabschiedet, der zufolge er über keinerlei Befugnis verfügte, um konkrete Abhilfemaßnahmen anzuordnen. Die vorliegende Analyse hat indes ergeben, dass das Vorgehen im Fall Asanidse maßgeblich von den Besonderheiten des Einzellfalls geprägt war. Der Gerichtshof sollte sich in künftigen Fällen stärker um eine dogmatische Fundierung seines Vorgehens bemühen.»
Breuer schlägt vor, «die Befugnis zur Anordnung von Maßnahmen zur Beendigung einer konventionswidrigen Situation nicht aus Art. 41 EMRK, sondern als „Annexkompetenz“ aus der Befugnis zur Feststellung der Konventionsverletzung als solcher herzuleiten», und gelangt unter Bezug auf eine Warnung von Tomuschat zu dem Schluss:
«[Der EGMR wird] durch die behutsame Fortschreibung der begonnenen Rechsprechung versuchen müssen, das Spektrum seiner Reaktionsmöglichkeiten zu erweitern, um zumindest das eine zu verhindern: dass die Konvention angesichts einer schreienden Ungerechtigkeit durch die Unfähigkeit zu effektivem Einschreiten zu einer Farce wird.» (Seite 257)
Ewgenij Trjachow, Moskau, und Rainer Wedde, Berlin/Moskau, geben eine Einführung in das neue russische Zivildienstgesetz
Die Autoren stellen Gesetzgebungsverfahren und bisherige Praxis in den historischen Zusammenhang von der vorrevolutionären Zeit bis hin zum Grundrechtskatalog der russischen Verfassung von 1993 (EuGRZ 1994, 519 ff.).
«Das Inkrafttreten des Gesetzes über den Zivildienst [am 1. Januar 2004] stellt einen wichtigen Schritt zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes in Russland dar, selbst wenn die Dauer des Zivildienstes mit 3 \\2 Jahren die des Wehrdienstes von zwei Jahren unverhältnismäßig stark übersteigt. Auch die Bedingungen für die Ableistung des Zivildienstes erscheinen aus westlicher Sicht ausgesprochen hart, doch ist bei einer Bewertung die allgemeine soziale Situation in Russland und die Lage in der russischen Armee zu berücksichtigen. Obwohl noch manche Einzelfrage ungeklärt bleibt, schafft das Gesetz einen klaren Rechtsrahmen. (…) Möglichkeiten zu einem sinnvollen Ersatzdienst gibt es in Anbetracht der sozialen Notlage weiter Teile der russischen Bevölkerung jedenfalls ausreichend. Vom Zivildienst geht zudem ein Impuls zur Verbesserung des Wehrdienstes aus.» (Seite 264)
Voller Wortlaut des russ. Zivildienstgesetzes in der Übersetzung von Trjachow/Wedde in diesem Heft S. 355
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, ordnet (in der Besetzung als Große Kammer) Freilassung des trotz gerichtlichen Freispruchs inhaftierten Beschwerdeführers an / Asanidse gegen Georgien
Der Fall gewinnt an Brisanz durch die Tatsache, dass eine Obstruktion betreibende autonome Teilrepublik das freisprechende Urteil des Obersten Gerichtshofs des Gesamtstaates missachtet und dadurch die Konventionsverletzung verursacht, für die der Gesamtstaat vom EGMR als verantwortlich angesehen wird.
Der 1944 geborene Bf. ist der frühere Bürgermeister von Batumi, der Hauptstadt der Autonomen Republik Adscharien. Wegen illegaler Finanzgeschäfte im Zusammenhang mit der Tabakproduktionsgesellschaft von Batumi wurde er in U-Haft genommen, verurteilt, vom damaligen Präsidenten Schewardnadse begnadigt; die von der Tabakproduktionsgesellschaft gerichtlich angegriffene Begnadigung wurde vom Obersten Gerichtshof Georgiens bestätigt, der Bf. wurde sodann wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und versuchter Entführung eines Regierungsbeamten angeklagt, vom adscharischen Obergericht verurteilt, jedoch vom Obersten Gerichtshof Georgiens freigesprochen mit der Anordnung der sofortigen Freilassung; danach intervenierte ein Untersuchungsausschuss des georgischen Parlaments, um eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu erreichen, die vom Generalstaatsanwalt Georgiens am 25. März 2003 abgelehnt wurde. Der Bf. wurde seit Oktober 1993 im Untersuchungsgefängnis des adscharischen Sicherheitsministeriums festgehalten und erst nach dem Urteil des EGMR (April 2004) freigelassen.
Der EGMR führt aus: «Die im vorliegenden Fall festgestellte Verletzung lässt aber aufgrund ihrer Natur keinerlei echte Wahl hinsichtlich der zu ihrer Beendigung zu ergreifenden Maßnahmen. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der beklagte Staat angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls und des dringenden Erfordernisses, die Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zu beenden, dafür sorgen muss, dass der Bf. zum frühestmöglichen Zeitpunkt freigelassen wird.» (Seite 268)
Cf. den Besprechungsaufsatz von Breuer in diesem Heft S. 257.
EGMR (Große Kammer) lässt die Reichweite der EMRK und seine Zuständigkeit gegenüber EG/EU-Organen weiterhin offen und erklärt Beschwerde wegen Versagung vorläufigen Rechtsschutzes gegen Vollstreckung existenzvernichtender Kartellbuße durch EG-Kommission für unzulässig / Senator Lines gegen 15 EU-Staaten
In der Entscheidung heißt es: «[Demnach] sind die Umstände des vorliegenden Falles zu keinem Zeitpunkt derart gewesen, dass sie der beschwerdeführenden Gesellschaft gestattet hätten, sich als Opfer einer Verletzung ihrer Rechte aus der Konvention zu bezeichnen. Als die „endgültige Entscheidung“ in der Sache erging, nämlich das Urteil des EuG vom 30. September 2003 [cf. EuGRZ 2003, 648], war klar, dass die beschwerdeführende Gesellschaft keine „plausiblen und überzeugenden“ Nachweise bezüglich der Wahrscheinlichkeit, dass eine sie individuell treffende Verletzung eintreten würde, beibringen konnte, weil zu dem Zeitpunkt feststand, dass ihre Befürchtung im Hinblick auf die Beitreibung der Geldbuße vor Würdigung der Hauptsache durch das EuG mit Gewissheit gegenstandslos geworden war.»
Aus der Begründung des EGMR ergibt sich nicht, dass die EG-Kommission zur Vermeidung einer einstweiligen Anordnung aus Straßburg dem EGMR zugesichert hatte, die Vollstreckung – trotz vorliegender Vollstreckungsklausel – solange nicht weiter zu betreiben, bis Straßburg entschieden haben würde. Dass die Geldbuße vom EuG in toto annulliert wurde, war für den EGMR schwerlich vorherzusehen. (Seite 279)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bestätigt enge Auslegung der individuellen Betroffenheit als Zulässigkeitsvoraussetzung für Nichtigkeitsklage gegen eine VO / Rs. Jégo-Quéré
Der EuGH hebt das weitergehende Urteil des EuG in dieser Sache (EuGRZ 2002, 438) auf und wiederholt seine traditionelle Rechtsprechung: «[Daher] ist eine Nichtigkeitsklage vor dem Gemeinschaftsrichter jedenfalls auch dann nicht möglich, wenn sich ergäbe, dass der Einzelne nach den nationalen Verfahrensvorschriften die Gültigkeit der beanstandeten Gemeinschaftshandlung erst in Frage stellen kann, wenn er gegen diese Handlung verstoßen hat.» (Seite 284 / 289)
Generalanwalt Francis Jacobs, der den Versuch des EuG unterstützt hatte (EuGRZ 2002, 420), die Rechtsprechung zugunsten des Individualrechtsschutzes weiterzuentwickeln (EuGRZ 2002, 438), bedauert in seinen Schlussanträgen in der Rs. Jégo-Quéré den Stand der Dinge (Art. 230Abs. 4 EG). Sie zu ändern, sei Sache der Mitgliedstaaten. (Seite 284)
EuGH erklärt notorisch überlange Verfahrensdauer (hier: vor italienischen Gerichten) bei Gerichtsstandsbestimmung nach Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens für unbeachtlich / Rs. Gasser
Auf die Missbrauchsmöglichkeiten, die sich einem säumigen Schuldner durch diese Rechtslage eröffnen, hatten das Landesgericht Feldkirch in seinem Vorlagebeschluss und die britische Regierung in einer Stellungnahme unter Bezugnahme auf Art. 6 EMRK hingewiesen. (Seite 293)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, sieht Personalhoheit als Element der Unabhängigkeit von Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof
Mit seiner Status-Entscheidung bewirkt der VfGH, dass die Diensthoheit auch über das nichtrichterliche Personal dem Bundeskanzler entzogen und gesetzlich auf die beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts übertragen wird. In seiner Begründung zitiert der VfGH den Nestor der österreichischen Menschenrechtsliteratur Felix Ermacora mit dem Satz: „Wer über Personal- und Sacherfordernisse des Gerichtshofs verfügt, … [hat es] in der Hand, den Gerichtshof zu beeinflussen und letzten Endes lahm zu legen.”
Die Entscheidung wird in voller Länge mit sämtlichen Stellungnahmen und Erwiderungen abgedruckt, weil sie rechtsvergleichend bestätigt, dass der gegenwärtige Generalsekretär des Europarats, der österreichische Jurist Dr. Walter Schwimmer, offensichtlich in die Unabhängigkeit des EGMR eingreift, indem er die Diensthoheit über das Personal des Gerichtshofs beansprucht. (Seite 299)
Zu den innerstaatlichen Konsequenzen der Status-Entscheidung des VfGH cf. die Anmerkung von Rudolf Müller, S. 311.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, unterstreicht die Schwere des Eingriffs in Freiheit und Menschenwürde durch medikamentöse Zwangsbehandlung
«[Gestützt auf die vorstehenden Erwägungen] hat das Verwaltungsgericht eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen und erneut zu prüfen, ob sich die umstrittene Zwangsmedikation in Anbetracht der Garantie der persönlichen Freiheit und der Achtung der Menschenwürde sowie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit gesamthaft verfassungsrechtlich rechtfertigen lässt.» (Seite 311)
BGer lehnt Parteifähigkeit eines Toten ab und widerspricht der Theorie des postmortalen Persönlichkeitsschutzes. (S. 314)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt Ausweisung eines in Deutschland geborenen Ausländers wegen erheblicher Kriminalität und setzt sich mit EGMR-Rechtsprechung auseinander
Die 1. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Eine Durchsicht der Fälle ergibt, dass die Rechtsprechung des EGMR stark kasuistische Züge aufweist, sodass ihrer Heranziehung als Auslegungshilfe insofern Grenzen gesetzt sind. Dennoch lassen sich ihr verallgemeinerungsfähige Grundlinien hinsichtlich der für die Verhältnismäßigkeitsprüfung heranzuziehenden Umstände für Fälle der vorliegenden Art entnehmen.» (Seite 317)
BVerfG lehnt Auslieferung nach Italien zur Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten Freiheitsstrafe ab (8 Jahre wegen Zuhälterei u.a.), da dem Bf. das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren nicht zugesichert worden ist. (Seite 321)
BVerfG sieht in der durch die Ökosteuer bewirkten Verteuerung von Strom und Mineralöl keine Verletzung der Berufsfreiheit betroffener Dienstleistungs-Berufsgruppen
Die Steuervergünstigungen für das produzierende Gewerbe begründen keine Ansprüche auf Gleichbehandlung für andere Berufsgruppen. (Seite 324)
BVerfG setzt Grenzen für die Anwendung des Straftatbestands der Geldwäsche bei der Annahme von Honorarzahlungen durch Strafverteidiger (sichere Kenntnis der Herkunft). (Seite 333)
BVerfG qualifiziert vollständigen Ausschluss von der Erbfolge bei Nachfahren des deutschen Kaisers wegen Ehe mit einer „nicht ebenbürtigen“ Frau als Verletzung der Freiheit der Eheschließung. (Seite 339)
Europäische Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats (Venedig-Kommission) empfiehlt, bei Überlegungen zur Terrorismusbekämpfung darauf zu achten, «nicht ungewollt das bestehende Maß an Schutz nach dem humanitären Völkerrecht oder nach den internationalen Menschenrechtsbestimmungen zu unterhöhlen». (Seite 343)
Die Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg, hat einen Teil der neuen Richter zum EGMR gewählt
Die Richterin des Bundesverfassungsgerichts Renate Jaeger gehört zu den Kandidaten, die im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichten. (Seite 360)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, will EuGH gegen unverhältnismäßige Übermittlung von Fluggast-Daten an USA-Behörden anrufen. (Seite 360)