EuGRZ 2008 |
27. Juni 2008
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35. Jg. Heft 10-11
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Informatorische Zusammenfassung
Veith Mehde, Hannover, bewertet den rechtlichen Gehalt und die politische Bedeutung der Sonderregelung für Polen und das Vereinigte Königreich bei der Anwendung der Charta der Grundrechte und fragt: Gespaltener Grundrechtsschutz in der EU?
Nach differenzierter Analyse verneint der Autor die gestellte Frage. Gerade auch wegen der Ungewissheit über die wirklichen Folgen der durch die Republik Irland jetzt verursachten Reform-Krise in der EG/EU ist die vorliegende Untersuchung von Interesse. Sie arbeitet beispielhaft den Unterschied zwischen vertragsförmig eingekleideten politischen Opportunitätsbemühungen und rechtlicher Relevanz des auch ohne Lissabon (cf. Art 6 Abs. 1 und 2 des geltenden EUV) vertragsrechtlich gesicherten Besitzstandes heraus.
Als Hintergründe des „7. Protokolls“ zum Vertrag von Lissabon (Text s.u. S. 339) hält der Beitrag fest: «Im Fall der Briten waren es offenkundig in erster Linie die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte, die Befürchtungen vor negativen Auswirkungen auf den sehr viel stärker als in vielen anderen Mitgliedstaaten liberalisierten Arbeitsmarkt auslösten. Mit Blick auf die polnische Verhandlungsposition wird auf drei Argumentationen abgestellt. Genannt werden in diesem Zusammenhang die Furcht vor Einflüssen auf die rigiden Abtreibungsregelungen, mögliche Ausweitungen bei der Anerkennung homosexueller Partnerschaften sowie schließlich auch die Sorge vor möglichen Gebietsansprüchen deutscher Staatsbürger.»
Konkret soll das Protokoll eine Ausweitung von Rechten verhindern, die die Charta der Grundrechte ausdrücklich gerade nicht anstrebt.
Für den Gesamtzusammenhang bedeutet das 7. Protokoll zum Vertrag von Lissabon: «Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 III EUV einen weiteren Pfeiler des europäischen Grundrechtsschutzes neben der Charta errichtet bzw. in seiner fortbestehenden Bedeutung hervorhebt. Danach sind die Grundrechte „als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ und zwar in der Gestalt, wie sie historisch gesehen entwickelt worden sind, nämlich gleichermaßen ausgestaltet durch die EMRK und die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Damit werden dieselben Quellen genannt, die auch die Grundlage für die Charta gebildet haben, wie in der Präambel derselben ausdrücklich hervorgehoben wird. Nimmt man dann noch die Aussage aus Art. 6 Abs. 1, Satz 1, 2. HS EUV hinzu, wonach die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind, so kommt man im Ergebnis zu einer doppelten Absicherung der entsprechenden grundrechtlichen Gewährleistungsgehalte: einerseits die klassischen Ursprünge der Grundrechte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, die durch Art. 6 III EUV uneingeschränkt im Primärrecht verankert sind, und andererseits gleichrangig die Charta, welche die Ergebnisse dieser Rechtsentwicklung in einem einzelnen Dokument festgehalten hat.
Letztlich gibt es also zwei Pfade, auf denen man mit im Grundsatz identischen Mitteln dieselben Konsequenzen herleiten kann, wobei durch das Protokoll nach seinem ausdrücklich geregelten Anwendungsbereich allenfalls der eine Pfad versperrt werden kann. Der einzige Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass die Charta die Erkenntnisschritte der anderen Variante teilweise schon in sich aufgenommen hat, also eine „Verschriftlichung“ desselben Mechanismus bedeutet.» (Seite 269)
Text und Proklamation der Charta in EuGRZ 2007, 747, 751; aktualisierte Erläuterungen des Präsidiums des Konvents in EuGRZ 2008, 92-103; voller Wortlaut des 7. Protokolls zum Vertrag von Lissabon in diesem Heft S. 339.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erkennt mangels substantiierten Vortrags des Bf. keine Willkür bei unterlassener Vorlage an EuGH und akzeptiert nicht weiter begründete Nichtannahmebeschlüsse von BGH und BVerfG / John gegen Deutschland
«Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Konvention als solche kein Recht auf Vorlage einer Rechtssache an den EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 234 EGV garantiert. Gleichwohl kann die Ablehnung eines Antrags auf eine derartige Vorlage gegen das Gebot des fairen Verfahrens verstoßen, sofern diese Ablehnung willkürlich erscheint. (…)
Soweit der Bf. den Beschluss des BVerfG rügt, stellt der Gerichtshof fest, dass nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG der EuGH „gesetzlicher Richter“ i.S.v. Art. 101 Abs. 1 GG ist und ein Gericht, gegen dessen Entscheidungen kein Rechtsmittel gegeben ist, diese Bestimmung verletzt, wenn es seine Verpflichtung zur Einholung einer Vorabentscheidung verkennt. (…) Da der Bf. unzureichend vorgetragen hat, warum eine Entscheidung über die Auslegung von Art. 81 EGV notwendig sei, um den BGH in die Lage zu versetzen, ein Urteil zu fällen, war dies nicht der Fall. Daher lässt die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde des Bf. durch das BVerfG keine Willkür erkennen.
Im Hinblick auf die behauptete unzureichende Begründung der Entscheidungen des BGH und des BVerfG weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass nationale übergeordnete Gerichte nach Art. 6 Abs. 1 der Konvention eine Beschwerde durch bloßen Hinweis auf die für die Zulässigkeit solcher Beschwerden maßgeblichen einschlägigen Rechtsvorschriften abweisen können, wenn die Sache keine Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung aufwirft.»
Der Bf. betreibt eine Tankstelle und hatte im Ausgangsverfahren erfolglos versucht, eine mit einer Mineralölgesellschaft vertraglich vereinbarte Bezugsbindungsklausel zu kündigen.
(Seite 274)
EGMR sieht in Zustimmung des Angeklagten zur Einstellung des Strafverfahrens wirksamen Verzicht auf weitere Rechtsbehelfe und damit auch auf die Rüge der überlangen Verfahrensdauer / Alfes gegen Deutschland
Der Bf. ist Rechtsanwalt und sah sich mit der Anklage konfrontiert, betrügerische Restitutionsanträge von DDR-Grundstücken gestellt und Vollmachten rückdatiert zu haben. Die Ermittlungen waren 1995 aufgenommen worden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob das Urteil des LG Dresden vom 14. Mai 2001 am 9. Juli 2003 auf und verwies die Sache zurück. Das LG Dresden stellte das Verfahren im Mai 2004 ein, nachdem der Bf. dem zugestimmt und 10.000,- Euro an die Staatskasse gezahlt hatte. Die Rüge der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer weist der EGMR als offensichtlich unbegründet zurück.
Der EGMR führt aus: «Für den Fall einer späteren Verurteilung war dem LG Dresden vom BGH bereits aufgegeben worden, die Verfahrensdauer im Rahmen der Bemessung der Strafe des Bf. zu berücksichtigen. (…)
Im Hinblick darauf stellt der Gerichtshof fest, dass der Bf. sich durch die Zustimmung zur Verfahrenseinstellung in eine Lage versetzt hat, in der er hinsichtlich der Verfahrensdauer keine innerstaatlichen Rechtsbehelfe mehr ergreifen konnte. Daraus folgt, dass der Bf. auf die weitere Einlegung dieser Rechtsbehelfe wirksam verzichtet hat. (…)
Unter diesen Umständen kann der Bf. nicht mehr behaupten, in einem Recht aus der Konvention im Sinne von Art. 34 verletzt zu sein.» (Seite 277)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erklärt Flüchtlings-RL (2005/85/EG) wegen Umgehung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments durch den Rat teilweise für nichtig / EP gegen Rat
Nichtig sind Art. 29 Abs. 1 und 2 („Gemeinsame Minimalliste der als sichere Herkunftsstaaten geltenden Drittstaaten“ sowie Art. 36 Abs. 3 („Europäisches Konzept der sicheren Drittstaaten“) der genannten RL.
Der EuGH argumentiert: «Es ist bereits entschieden worden, dass die Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen. (…)
Würde einem Organ die Möglichkeit zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen gegeben, sei es im Sinne einer Verschärfung oder einer Erleichterung der Modalitäten des Erlasses eines Rechtsakts, so liefe dies darauf hinaus, ihm eine Rechtsetzungsbefugnis zu verleihen, die über das im Vertrag vorgesehene Maß hinausginge.» (Seite 278)
Zur Verkürzung von Mitentscheidungsrechten des Parlaments (hier: des Deutschen Bundestags) durch die Regierung s.a. das AWACS-Urteil des BVerfG, in diesem Heft auf S. 312.
EuGH präzisiert Kriterien für Annahmeverweigerung bei Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen (VO EG Nr. 1348/2000) wegen fehlender Übersetzungen / Rs. Weiss
«Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob der Inhalt des verfahrenseinleitenden Schriftstücks den Beklagten in die Lage versetzt, seine Rechte im Übermittlungsstaat geltend zu machen, und ihm insbesondere erlaubt, Gegenstand und Grund des gegen ihn gerichteten Antrags sowie das Bestehen des gerichtlichen Verfahrens zu erkennen.
Hält das Gericht diesen Inhalt in dieser Hinsicht nicht für ausreichend, weil sich bestimmte für den Antrag wesentliche Angaben in den Anlagen befinden, obliegt es ihm, sich um die Lösung des Problems im Rahmen seines nationalen Prozessrechts zu bemühen, wobei es darauf zu achten hat, dass die volle Wirksamkeit der Verordnung Nr. 1348/2000 unter Beachtung ihres Zwecks sichergestellt wird (…), und dabei die Interessen beider Parteien des Rechtsstreits weitestmöglich zu wahren hat.»
Die Tatsache, dass vertraglich vereinbart wurde, den gewerblichen Schriftverkehr in der Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats zu führen, begründet keine Vermutung für Sprachkenntnisse, sondern ist nur ein Anhaltspunkt, «den das Gericht berücksichtigen kann, wenn es prüft, ob der Empfänger die Sprache des Übermittlungsmitgliedstaats versteht». (Seite 282)
EuGH beurteilt Tariftreueerklärung des Auftragnehmers als Bedingung für die Vergabe öffentlicher Aufträge als Verletzung der Dienstleistungsfreiheit / Rs. Rüffert
Beanstandet wird das niedersächsische Landesvergabegesetz, weil es nicht durch das Ziel des Arbeitnehmerschutzes als gerechtfertigt angesehen werden kann. Ausschlaggebend ist, dass der vom niedersächsischen Gesetzgeber in Bezug genommene Tarifvertrag nicht für allgemeingültig erklärt worden ist und es sich auch nicht um einen gesetzlichen Mindestlohn handelt, der für alle Bauaufträge (öffentliche und private) gleichermaßen gilt. (Seite 290)
EuGH qualifiziert Leistungen der Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen (VddB) als tarifvertragliches Ruhegehalt, das in den Geltungsbereich der RL 2000/78/EG zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf fällt / Rs. Maruko
Für eine Rente aus einem staatlichen oder damit gleichgestellten System würde die RL nach deren Art. 3 Abs. 3 nicht gelten.
Das vorlegende Bayerische Verwaltungsgericht München begründet seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Satzung der VddB, insoweit sie die Zahlung von Witwen- bzw. Witwergeld (§§ 27, 32, 34) ausschließlich einem überlebenden Ehegatten vorbehält, mit der schrittweisen Annäherung der Regelungen für Lebenspartnerschaften an die für die Ehe geltenden Regelungen bei den gesetzlichen Renten durch den deutschen Gesetzgeber (§ 46 Abs. 4 SGB IV).
Das berufsständische Pflichtversorgungssystem der VddB gründet sich nach den Angaben des vorlegenden Gerichts auf einen Tarifvertrag und wird ausschließlich von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern der betreffenden Branche unter Ausschluss jeder Beteiligung des Staates finanziert.
Deshalb kommt der EuGH zu dem Schluss: «Falls das vorlegende Gericht entscheidet, dass sich überlebende Ehegatten und überlebende Lebenspartner in einer vergleichbaren Situation in Bezug auf die genannte Hinterbliebenenversorgung befinden, stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende daher eine unmittelbare Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung im Sinne der Art. 1 und 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dar.» Die Vergleichbarkeit von Lebenspartnerschaft und Ehe im konkreten Fall zu prüfen, sei Sache des vorlegenden Gerichts. (Seite 294)
EuGH zur Reichweite der RL 92/85/EWG zum Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen bei In-vitro-Fertilisation / Rs. Mayr
Das Verbot der Kündigung schwangerer Arbeitnehmerinnen erfasst nicht den Fall, dass die Eizelle in vitro befruchtet, der Frau aber noch nicht eingesetzt worden ist.
Es gilt jedoch für den Fall eines vorgerückten Behandlungsstadiums zwischen der Follikelpunktion und der sofortigen Einsetzung der in vitro befruchteten Eizelle, «sofern nachgewiesen ist, dass die Tatsache, dass sich die Betroffene einer solchen Behandlung unterzogen hat, der hauptsächliche Grund für die Kündigung ist». (Seite 300)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, setzt sich mit der Wirksamkeit von diplomatischen Zusicherungen (hier: durch Russland) im Auslieferungsverfahren auseinander
Das BGer billigt die Auslieferung eines mutmaßlichen Wirtschaftsdelinquenten an Russland und ergänzt die vom Bundesamt für Justiz geforderte Garantieerklärung, die jetzt folgendermaßen lautet:
«(1.) Die Haftbedingungen des Ausgelieferten dürfen nicht unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK sein; seine physische und psychische Integrität wird gewahrt (vgl. auch Art. 7, 10 und 17 UNO-Pakt II). (2.) Die Gesundheit des Ausgelieferten wird sichergestellt. Der Zugang zu genügender medizinischer Betreuung, insbesondere den notwendigen Medikamenten, wird gewährleistet. (3.) Die diplomatische Vertretung der Schweiz ist berechtigt, den Ausgelieferten jederzeit und unangemeldet ohne jegliche Überwachungsmassnahmen zu besuchen. Der Ausgelieferte hat das Recht, sich jederzeit an die diplomatische Vertretung der Schweiz zu wenden. (4.) Die russischen Behörden geben der diplomatischen Vertretung der Schweiz den Ort der Inhaftierung des Ausgelieferten bekannt. Wird er in ein anderes Gefängnis verlegt, informieren die russischen Behörden die diplomatische Vertretung der Schweiz unverzüglich über den neuen Ort der Inhaftierung. (5.) Der Ausgelieferte hat das Recht, mit seinem Wahl- oder Offizialverteidiger uneingeschränkt und unbewacht zu verkehren. (6.) Die Angehörigen des Ausgelieferten haben das Recht, ihn im Gefängnis zu besuchen.» (Seite 304)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, folgt der erweiternden Rechtsprechungsänderung des EGMR zur Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK – auch auf dienstrechtliche Streitigkeiten öffentlicher Bediensteter – in kritischer Loyalität
«Die vorliegende Beschwerde wirft – auch wenn das nicht ausdrücklich vorgebracht wird – im Lichte der neuesten Rechtsprechung des EGMR in erster Linie die Frage auf, ob die zu Grunde liegende dienstrechtliche Streitigkeit dem Begriff der „civil rights“ iSd Art. 6 EMRK unterfällt oder nicht.»
Der VfGH setzt sich kritisch mit der neuen Rechtsprechung im Fall Eskelinen gegen Finnland (GK) vom19. April 2007 auseinander und gibt die EGMR-Entscheidung zunächst wie folgt wieder:
«Um den Ausschluss [der Anwendung von Art. 6 EMRK] zu rechtfertigen, genüge es nicht, dass der Staat dartue, dass der betroffene öffentlich Bedienstete an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilnehme oder dass ein besonderes Band der Treue und Loyalität zwischen dem öffentlich Bediensteten und dem Staat als Dienstgeber bestehe. Der Staat müsse auch aufzeigen, dass sich der Streitgegenstand auf die Ausübung staatlicher Gewalt beziehe oder das besondere Band in Frage stelle. Daher könne es grundsätzlich keine auf der speziellen Natur der Beziehung zwischen bestimmten öffentlich Bediensteten und dem Staat beruhende Rechtfertigung für den Ausschluss gewöhnlicher arbeitsrechtlicher Streitigkeiten, die sich etwa auf Bezüge, Zuschüsse oder ähnliche Ansprüche bezögen, von den Garantien des Art. 6 EMRK geben. Im Ergebnis gelte daher die Vermutung, dass Art. 6 EMRK anwendbar sei.
Der EGMR betont in seinem Urteil im Fall Eskelinen ua. allerdings auch, dass die im Einzelfall getroffene Schlussfolgerung, Art. 6 EMRK sei auf eine bestimmte dienstrechtliche Streitigkeit anwendbar, noch kein Präjudiz für die Frage darstelle, wie die verschiedenen Garantien des Art. 6 EMRK auf öffentlich Bedienstete betreffende Streitigkeiten angewendet werden sollten.
Der Verfassungsgerichtshof geht angesichts dieser neuesten Rechtsprechung des EGMR davon aus, dass dieser seine bisherige, iW mit dem Urteil im Fall Pellegrin gegen Frankreich vom 8. Dezember 1999 [RUDH 1999, 457] eingeleitete Rechtsprechung – der der Verfassungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis VfSlg. 17.644/2005 = EuGRZ 2006, 149 ausdrücklich folgte und die der EGMR noch kurz vor seiner Entscheidung im Fall Eskelinen ua. in seinem Österreich betreffenden Urteil vom 9. November 2006 im Fall Stojakovic vertrat – nicht mehr aufrecht hält.
Der Verfassungsgerichtshof sieht sich – ungeachtet möglicher gewichtiger Einwände gegen diese neue Rechtsauffassung des EGMR, wie sie etwa im gemeinsamen Sondervotum der Richter Costa, Wildhaber, Türmen, Borrego und Jociené ihren Ausdruck gefunden haben – gehalten, dem EGMR in dessen nunmehr geänderter Beurteilung des Anwendungsbereiches des Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf dienstrechtliche Streitigkeiten öffentlich Bediensteter zu folgen.»
Die Bf. ist Polizeibeamtin im rechtskundigen Dienst einer Bundespolizeidirektion. Wegen fachlicher Mängel im Fremdenrecht wurde sie nicht mehr zum Journaldienst herangezogen. Außerdem wurde die ihr erteilte Ermächtigung widerrufen, unmittelbare Befehls- und Zwangsgewalt auszuüben. Gegen die damit verbundenen Kürzungen ihrer Bezüge hatte sie erfolglos Einspruch beim Bundesinnenminister erhoben.
In der Sache weist der VfGH die Verfassungsbeschwerde als unbegründet ab und tritt das Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung darüber ab, ob die Bf. in einem sonstigen Recht verletzt wurde. (Seite 309)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht Verletzung des Mitentscheidungsrechts des Bundestages durch die Alleinentscheidung der Bundesregierung (Kanzler Schröder) über den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO über der Türkei während des Angriffs der USA-geführten Truppen auf den Irak 2003
Der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion im Organstreitverfahren ist begründet: «Das Grundgesetz hat die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Deutschen Bundestag als Repräsentationsorgan des Volkes anvertraut. (…) Die auf die Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes sind darauf angelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exekutive zu überlassen, sondern sie als „Parlamentsheer“ in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsordnung einzufügen (vgl. BVerfGE 90, 286 [381 f.] = EuGRZ 1994, 281 [310]).
Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt begründet ein wirksames Mitentscheidungsrecht des Deutschen Bundestags in Angelegenheiten der auswärtigen Gewalt. (…) Andererseits kann auch der Deutsche Bundestag nicht ohne die Bundesregierung einen Streitkräfteeinsatz verfügen, weil der Parlamentsvorbehalt ein Zustimmungsvorbehalt ist, der keine Initiativbefugnis verleiht. (…)
Der Einsatz bewaffneter Gewalt bedeutet nicht nur ein erhebliches Risiko für Leben und Gesundheit deutscher Soldaten, sondern er birgt auch ein politisches Eskalations- oder doch Verstrickungspotential: Jeder Einsatz kann von der begrenzten Einzelaktion in eine größere und länger währende militärische Auseinandersetzung münden, bis hinein in einen umfänglichen Krieg. (…)
Für den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt kommt es nicht darauf an, ob bewaffnete Auseinandersetzungen sich schon im Sinne eines Kampfgeschehens verwirklicht haben, sondern darauf, ob nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist und deutsche Soldaten deshalb bereits in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind.» (Seite 312)
BVerfG billigt die vom Bundeszentralamt für Steuern über steuerliche Auslandsbeziehungen (insbes. zu Domizilgesellschaften) geführte Datensammlung
Rechtsgrundlage ist § 88a AO i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 6 FVG. Die Datensammlung hat den Zweck, «den Wissensvorsprung desjenigen auszugleichen, der mittels solcher Gesellschaften Steuern verkürzen will». Allerdings: «Dem Umstand, dass der Beschwerdeführer infolge des Ausschlusses seines Auskunftsanspruchs derzeit die Richtigkeit der gesammelten Daten und die Rechtmäßigkeit ihrer fortdauernden Speicherung nicht wirkungsvoll überprüfen lassen kann, ist Rechnung zu tragen, wenn die Daten in einem konkreten steuerbehördlichen Verfahren zum Nachteil des Beschwerdeführers herangezogen werden.» (Seite 323)
BVerfG wertet Einschüchterungseffekte übertriebener Gegendarstellungsansprüche als Verletzung der Pressefreiheit «Nicht fern liegende Deutungen» oder «Eindrücke» sind nicht gegendarstellungsfähig. (Seite 331)
BVerfG zu postmortalem Persönlichkeitsrecht und Kunstfreiheit
Abweisung der Unterlassungsklage gegen die Aufführung des Theaterstücks „Ehrensache“ mit dem sog. Hagener Mädchenmord-Fall als Vorlage nicht zu beanstanden. (Seite 335)
BVerfG sieht autobiographischen Roman „Pestalozzis Erben“ im Schutzbereich der Kunstfreiheit
Beschreibungen bestimmter Lehrertypen keine ehrverletzende persönliche Abrechnung mit den Bf. (Seite 337)
BVerfG bestätigt Verbot der Mobiltelefon-Benutzung am Steuer (Ordnungswidrigkeit)
Nichtannahmebeschluss ohne Begründung. EuGRZ dokumentiert die Ausgangsverfahren. (Seite 338)
EuGH – Beschleunigtes Verfahren für Vorlage des irischen High Court zum Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige mit EU-ausländischen Ehefrauen in Irland. (Seite 340)