EuGRZ 2009 |
15. Juni 2009
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36. Jg. Heft 8-11
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Informatorische Zusammenfassung
Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), analysiert die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht (einschließlich Auslieferungsrecht) in den Jahren 2007 und 2008
Der Beitrag schließt an vorangegangene Berichte des Autors an, die den Zeitraum von 1996 bis 2006 umfassen (vgl. erstmals EuGRZ 1998, 429 ff.).
Im Bezug auf die hier behandelten Rechtsgebiete war es zu keiner Senatsentscheidung gekommen; hingegen ist eine große Zahl an Entscheidungen durch die jeweils zuständige Kammer des Zweiten Senats zu verzeichnen: «Im Berichtszeitraum waren insgesamt 10 Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Asylrechts erfolgreich (zuzüglich 5 Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, denen durch das BVerfG stattgegeben wurde); hinzu kommen 15 stattgebende Kammerentscheidungen zum Ausländerrecht einschließlich Abschiebungshaftsachen (zudem waren hier 2 Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erfolgreich). Dagegen waren keine stattgebenden Entscheidungen zum Auslieferungsrecht zu verzeichnen.»
Beim Grundrecht auf Asyl wird in einer stattgebenden Kammerentscheidung die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zum Begriff der politischen Verfolgung und zu den Anforderungen an die fachgerichtliche Aufklärungspflicht zusammengefasst:
«Das Asylrecht beruht auf dem Zufluchtgedanken und setzt daher grundsätzlich einen Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Dieser Kausalzusammenhang fehlt, wenn ein Asylbewerber nach erlittener politischer Verfolgung noch längere Zeit im Heimatland verbleibt und in dieser Zeit dort unbehelligt und verfolgungsfrei leben kann. Insofern bedarf es einer wertenden Zusammenschau der vom Asylbewerber zur Begründung seiner Verfolgungsfurcht vorgetragenen Ereignisse. (…) Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann freilich in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als sonst übliche Behandlung erleidet. (…)
Auch Maßnahmen eines Staates, die auf einer möglicherweise falschen Verdächtigung beruhten, könnten Asylrelevanz besitzen. Die Lage eines von einer falschen Verdächtigung Betroffenen könne nämlich von der gleichen Ausweglosigkeit geprägt sein wie die des tatsächlichen Trägers verfolgungsverursachender Merkmale, solange und soweit er den Verdacht nicht zu entkräften vermöge.»
Beim Ausländerrecht, insbesondere Abschiebungsrecht wird auf die grundsätzliche Bedeutung völkerrechtlich verbindlicher Zusicherungen und bei Staaten wie Türkei und Russland auf die Tatsache hingewiesen, dass es sich um Vertragsstaaten der EMRK handelt. (Seite 177)
Jörg Luther, Alessandria, setzt sich mit den inhaltlichen und institutionellen Problemen im italienischen Fall einer Wachkoma-Patientin auseinander: «Fiat iustitia, pereat vita? – Grundrechtskonflikte als Gewissenskonflikte»
Eine damals 21-jährige Studentin erleidet 1992 bei einem Verkehrsunfall ein Schädel-Hirntrauma. Die Verletzungen führen zu einem sog. Vegetativen Dauerzustand, der nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft nach einem Jahr als irreversibel gilt. Ihr Vater und Vormund erstreitet nach 15 Jahren, in denen die Patientin durch eine Nasen-Magen-Sonde am Leben gehalten wird, durch alle gerichtlichen Instanzen bis hinauf zum Kassationsgerichtshof das Recht, die künstliche Ernährung unter Beachtung bestimmter Vorkehrungen beenden zu lassen.
Luther führt zu der gegebenen Rechtslage grundsätzlich aus: «Ein Abbruch der künstlichen Ernährung durch Beseitigung der Sonde ist insofern ein Behandlungsabbruch, bei dem eine gewohnheits- bzw. standesrechtlich gestattete Vermutung der Einwilligung entkräftet wird. Genau hier setzt die Rechtsprechung des Plenums des Kassationsgerichtshofs an, der im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ein gerichtliches Verfahren zur Widerlegung der Vermutung für zulässig erklärt und seine Maßstäbe geklärt hat. Ziel des Verfahrens ist es, anhand „klarer, übereinstimmender und überzeugender Beweiselemente“, so die „Stimme des Vertretenen zum Ausdruck“ zu bringen, dass seine persönlichen Überzeugungen und insbesondere seinem Verständnis von der Idee der Würde der Person Rechnung getragen werden kann.
Besondere Aufmerksamkeit verdient bei dieser Rechtsprechung die Subjektivierung der Menschenwürde und ihre Verbindungen mit dem Grundrecht auf Respekt der Gewissensüberzeugungen. Das Recht auf Menschenwürde ist nicht nur mit dem Recht auf Leben, sondern auch mit der Gewissensfreiheit derart verknüpft, dass jeder Person das Recht zuerkannt wird, in ihren eigenen Vorstellungen von menschenwürdigem Dasein respektiert zu werden. Die gebündelten Rechte des Gewissens sind insofern nicht religiös oder weltanschaulich auf eine bestimmte Bioethik fixiert, sondern so individuell wie nur möglich an die zivile Willensfähigkeit der Person gebunden. Wer in seinem Selbstbewusstsein eine Sterbepflicht wahrnimmt und durch selbstverantworteten Behandlungsabbruch ein Bild seiner sozialen Würde der Nachwelt hinterlassen möchte, darf vor sich selbst nur dann geschützt werden, wenn ihm Verantwortung abzusprechen ist. Genau diese Konzeption des auch nicht religiös gebildeten Gewissens setzt sich freilich von den theologischen Gewissenskonzepten ab, die vor allem aus katholischer Sicht im Gewissen konsequent nur ein Müssen, nicht auch ein Wollen verorten. (…)
Im Falle der Wachkoma-Patienten könnte man den angefochtenen Rechtssatz des Kassationsgerichtshofs auch anders formulieren: Solange der Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit keine Regeln zur Formalisierung eines biologischen Testaments bzw. einer Patientenverfügung beschließt, ist im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit ein Behandlungsabbruch jedenfalls dann rechtlich geboten, wenn die Fortsetzung der Behandlung das Recht der Person verletzt, in ihren Überzeugungen von menschenwürdigem Leben und Sterben respektiert zu werden. Die allgemeine Solidaritätspflicht von Arzt, Vormund bzw. Betreuer und Familienangehörigen impliziert die Pflicht, nicht nur das Recht auf Leben, sondern auch die gewissensgeleiteten Überzeugungen der Person von menschenwürdigem Leben ernst zu nehmen.» (Seite 198)
Zur Entscheidung der Corte cost. sowie zum Veto des Staatspräsidenten gegen eine NotgesetzVO s.u. S. 234 und 237.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, zu den Informationspflichten eines Arztes unter Schweigepflicht betr. Aids-Erkrankung bei Patienten in Lebenspartnerschaft / Colak u. Tsakiridis gegen Deutschland
Die von ihrem Lebenspartner mit Aids infizierte Bf. rügt erfolglos, dass ihr kein Schadensersatzanspruch gegen den, von ihrem Lebenspartner zum Schweigen verpflichteten, Hausarzt gerichtlich zuerkannt wurde, weil dieser sie über die Ansteckungsgefahr nicht informiert hat.
In dem Urteil heißt es: «Der Gerichtshof merkt an, dass im Jahr 1999, als das Oberlandesgericht Frankfurt das vorliegende Urteil erließ, eine gefestigte innerstaatliche Rechtsprechung zu der Frage, ob ein Hausarzt verpflichtet ist, den Partner eines Patienten auch gegen dessen ausdrücklichen Willen über dessen HIV-Infektion aufzuklären, nicht bestand. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die drei in der Sache erstinstanzlich erkennenden Richter – anders als die Richter am Oberlandesgericht – nicht der Auffassung waren, dass der Arzt verpflichtet gewesen war, die Bf. über die Infektion ihres Partners aufzuklären. Unter diesen Umständen ist nicht erkennbar, dass es dem Geist von Art. 2 der Konvention widerspricht, dass das Oberlandesgericht, das zwar in vollem Umfang anerkannt hat, dass der Arzt seine Berufspflichten verletzt hatte, diesem keinen „groben Behandlungsfehler“ unterstellte, der eine Beweislastumkehr zur Folge gehabt hätte. Dies schließt nicht die Möglichkeit aus, dass ein strengerer Maßstab an die Sorgfaltspflicht des Arztes in Fällen anzulegen sein dürfte, die sich nach der Veröffentlichung des Urteils des Oberlandesgerichts Frankfurt in vorliegender Rechtssache, das die Berufspflichten des Arztes unter diesen besonderen Umständen klärte, ergeben könnten.
Mit Blick auf die vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die deutschen Gerichte und insbesondere das Oberlandesgericht Frankfurt das Recht der Bf. auf Leben und körperliche Unversehrtheit hinreichend berücksichtigt haben. Folglich haben die nationalen Gerichte es nicht versäumt, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu den Schadensersatzforderungen der Bf. im Geiste der Konvention auszulegen und anzuwenden.»
Der EGMR stellt fest, dass Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren) nicht verletzt worden sind. (Seite 203)
EGMR beanstandet überlange Verfahrensdauer (4 Jahre) in einem Arzthaftungsprozess / Bozlar gegen Deutschland
Die Bf. hatte sich 1998 in der Charité-Universitätsmedizin Berlin einer Nierentransplantation unterzogen, die allerdings missglückte und eine weitere Operation notwendig machte. Ihren Schadensersatzanspruch begründete sie mit unzureichender postoperativer Nachsorge. In dem Prozess führte erst die Bestellung des dritten medizinischen Sachverständigen zu einem verwertbaren Gutachten.
Der Gerichtshof bemängelt, das Landgericht habe die zeitnahe Vorlage des notwendigen Gutachtens durch einen medizinischen Sachverständigen nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben. Deshalb sei die „angemessene Frist“ für ein derartiges Gerichtsverfahren überschritten und Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. (Seite 207)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, zur Reichweite von Gerichtsurteilen der Republik Zypern in den türkisch besetzten Norden / Rs. Apostolides
Der EuGH bestätigt die Vollstreckung durch ein britisches Gericht von zwei Urteilen eines Gerichts im südlichen (griechischen) Teil der Republik Zypern zugunsten des Alteigentümers gegen die Erwerber eines Grundstücks im türkisch besetzten Norden Zyperns.
Das Urteil gelangt u.a. zu dem Ergebnis: «Der Umstand, dass eine Entscheidung eines Gerichts eines Mitgliedstaats betreffend ein Grundstück in einem Gebiet dieses Staates, über das seine Regierung keine tatsächliche Kontrolle ausübt, in der Praxis nicht am Ort des Grundstücks vollstreckt werden kann, ist kein Grund für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Art. 34 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 und bedeutet auch nicht, dass eine solche Entscheidung nicht im Sinne von Art. 38 Abs. 1 dieser Verordnung vollstreckbar ist.» (Seite 210)
EuGH präzisiert den Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ für die justizielle Zusammenarbeit in Verfahren betr. die elterliche Verantwortung / Rs. A
Konkret geht es um die gerichtliche Zuständigkeit für ein Verfahren zur Überprüfung der staatlichen Inobhutnahme und Unterbringung dreier Kinder in Finnland von nach Schweden abgereiste Eltern.
Der EuGH stellt u.a. fest: «Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen. (…)
Soweit es der Schutz des Kindeswohls erfordert, muss allerdings das nationale Gericht, das sich von Amts wegen für unzuständig erklärt hat, direkt oder durch Einschaltung der aufgrund von Art. 53 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmten Zentralen Behörde das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats hiervon in Kenntnis setzen.» (Seite 217)
EuGH bewertet positive Internet-Information eines Journalisten über ein (in Dänemark) nicht zum Verkauf freigegebenes Arzneimittel als verbotene Werbung i.S.d. RL 2001/83/EG / Rs. Damgaard
Der EuGH legt Art. 86 der RL 2001/83/EG dahin aus, «dass die von einem Dritten vorgenommene Verbreitung von Informationen über ein Arzneimittel, namentlich über dessen heilende oder verhütende Eigenschaften, auch dann als Werbung im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden kann, wenn dieser Dritte aus eigenem Antrieb und in völliger – rechtlicher und tatsächlicher – Unabhängigkeit vom Hersteller oder vom Verkäufer handelt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob diese Verbreitung eine Maßnahme zur Information, zur Marktuntersuchung und zur Schaffung von Anreizen mit dem Ziel darstellt, die Verschreibung, die Abgabe, den Verkauf oder den Verbrauch von Arzneimitteln zu fördern.» (Seite 222)
EuGH präzisiert Kriterien zur Ermittlungen des Gerichtsstands bei grenzüberschreitender irreführender Werbung / Rs. Ilsinger
Die in Österreich ansässige Klägerin will vor dem OLG Wien den Anspruch auf 20.000,– Euro gegen ein in Deutschland firmierendes (inzwischen in Konkurs gefallenes) Unternehmen durchsetzen, das ihr eine angebliche Gewinnzusage schriftlich mitgeteilt hat. Die Beklagte bestreitet die Zuständigkeit des österreichischen Gerichts. (Seite 224)
EuGH betont bei behördlicher Datenverarbeitung (Stadtverwaltung) den gerechten Ausgleich im Hinblick auf die Achtung der Privatsphäre der Betroffenen / Rs. Rijkeboer
Das vorlegende niederländische Gericht (Raad van State) hat über die Frist für die Ausübung des Auskunftsrechts hinsichtlich der an Dritte weitergegebenen Daten und ihrer Empfänger zu entscheiden. Der EuGH stellt fest:
«Es ist [daher] Sache der Mitgliedstaaten, eine Frist für die Aufbewahrung der Information über die Empfänger oder Kategorien der Empfänger sowie den Inhalt der übermittelten Daten festzulegen und einen Zugang zu dieser Information vorzusehen und dabei für einen gerechten Ausgleich zu sorgen zwischen dem Interesse der betroffenen Person am Schutz ihrer Privatsphäre, insbesondere mit Hilfe des Rechts auf Berichtigung, Löschung oder Sperrung der Daten, falls deren Verarbeitung nicht der Richtlinie entspricht, sowie des Widerspruchsrechts und des gerichtlichen Rechtsschutzes, auf der einen Seite und der Belastung, die die Pflicht zur Aufbewahrung der betreffenden Information für den für die Verarbeitung Verantwortlichen darstellt, auf der anderen Seite.» (Seite 229)
Italienischer Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale), Rom, weist Anträge beider Kammern des Parlaments auf Zulassung einer Verfassungsstreitigkeit gegen die neue Rechtsprechung zu Gestattung der Entfernung der Magensonde bei Wachkoma-Patienten als unzulässig ab
Die Regierungsmehrheit in Abgeordnetenkammer und Senat wollte überden Verfassungsgerichtshof ein nicht genehmes Urteil des Kassationshofs außer Kraft setzen und den Weg für eine Notgesetzverordnung der Regierung freimachen.
Der Verfassungsgerichtshof erklärt die Anträge auf „Zuständigkeitskonflikt zwischen Staatsgewalten“ gegenüber dem Kassationsgerichtshof und dem Appellationsgerichtshof Mailand für unzulässig. In der Begründung heißt es, «dass nach der ständigen Rechtsprechung dieses Verfassungsgerichtshofs die Zulässigkeit eines Zuständigkeitskonflikts, der Rechtsprechungsakte zum Gegenstand hat, nur dann gegeben ist „wenn die ,Zurückführbarkeit` der Entscheidung oder der in ihr enthaltenen Festlegungen auf die Funktion der Rechtsprechung bestritten wird oder ein Überschreiten von Schranken rügt, die anders als die allgemeine Bindung des Richters an das Gesetz, auch an das Verfassungsgesetz, innerhalb der Rechtsordnung zur Gewährleistung anderer verfassungsrechtlicher Befugnisse gezogen sind“.»
Weiter heißt es, «dass dieselbe Rechtsprechung verlangt, die Beantragung eines Zuständigkeitskonflikts gegenüber einem Rechtsprechungsakt dürfe nicht lediglich einen zu der gerügten Schlussfolgerung als Alternative dargestellten rechtslogischen Weg aufzeigen, weil der Zuständigkeitskonflikt „nicht in einen atypischen Rechtsbehelf gegen Richtersprüche verwandelt werden darf“.» (Seite 234)
Veto des Staatspräsidenten Napolitano gegen eine von der Regierung Berlusconi in Bezug auf die Wachkoma-Patientin erlassene Notgesetzverordnung (Seite 237)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, präzisiert seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an die Unvoreingenommenheit von nebenamtlichen Richtern
Die für die staatlichen Gerichte maßgebenden Erfordernisse an die Unvoreingenommenheit von Richtern sind auch bei privaten Schiedsgerichten anwendbar.
Ein als Richter bzw. Schiedsrichter amtierender Anwalt erscheint nicht nur dann als befangen, wenn er in einem anderen Verfahren eine der Prozessparteien vertritt oder kurz vorher vertreten hatte, sondern auch dann, wenn ein solches Vertretungsverhältnis zu deren Gegenpartei im anderen Verfahren besteht bzw. bestand. (Seite 238)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt fehlenden Rechtsschutz gegen öffentliche Warnmeldungen der Finanzmarktaufsicht für verfassungswidrig
Die Warnmeldung nach § 4 Abs. 7 Satz 1 Bankenwesengesetz (BWG) ist keine bloße Tatsachenmitteilung, sondern eine Information, der eine juristische Beurteilung und strafrechtliche Bewertung der Tätigkeit eines Unternehmens seitens der Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA) zugrunde liegt.
Da sowohl die Tatsachenannahmen der Behörde als auch ihre rechtliche Beurteilung mit einem Fehlerrisiko behaftet sind, sind sowohl das Sachlichkeitsgebot des Gleichheitssatzes als auch das Rechtsstaatsprinzip verletzt, wenn eine solche, ein einzelnes Unternehmen betreffende Information veröffentlicht werden darf, ohne dass diesem Unternehmen von der Rechtsordnung ein adäquates Instrumentarium zur Verfügung gestellt würde, die Information auf ihre Berechtigung überprüfen, eventuell öffentlich korrigieren sowie allfällige Folgen einer rechtswidrigen Information beseitigen zu lassen. (Seite 240)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die ungeprüfte Versagung von Vollzugslockerungen im Hinblick auf die abgelehnte Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach Verbüßung der Mindestdauer von 15 Jahren für verfassungswidrig
«Vor allem wenn die bisherige Dauer der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe die Mindestverbüßungszeit übersteigt und eine besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung nicht mehr oder – wie hier – von vornherein nicht gebietet, gewinnt der Anspruch des Verurteilten auf Achtung seinerMenschenwürde und seiner Persönlichkeit zunehmendes Gewicht für die Anforderungen, die an die für eine zutreffende Prognoseentscheidung erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu stellen sind. Das Vollstreckungsgericht hat sich daher auch von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis für seine Prognoseentscheidung zu bemühen und alle prognoserelevanten Umstände besonders sorgfältig zu klären.» (Seite 246)
BVerfG bestätigt gesetzlichen Ausschluss von mehr als zweigliedrigen Namensketten bei der Wahl des Ehenamens
«Selbst wenn aber die Ehegatten den Doppelnamen eines Ehegatten zum Ehenamen bestimmen, sodass der bisher vom anderen Ehegatten geführte Name gemäß § 1355 Abs. 4 Satz 2 BGB zum Wegfall kommt und selbst als Begleitname nicht mehr rechtliche Anerkennung findet, bleibt es dem betroffenen Ehegatten weiterhin unbenommen, im Geschäftsverkehr mit seinem bisher geführten Namen zu firmieren (§ 21 HGB) und den Namen zusammen mit seinem Ehenamen zu tragen. Das deutsche Namensrecht schreibt keine starre Namensführung vor und lässt es ausreichen, wenn mit der Namensunterschrift die eindeutige Identifizierung der Person möglich ist. Lediglich gegenüber Behörden ist der rechtlich anerkannte Name, in diesem Fall der Ehedoppelname, anzugeben (…). Dies stellt nur eine geringe Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts dar, die im Interesse des legitimen gesetzgeberischen Anliegens, Mehrfachnamen und Namensketten zur Sicherung einer besseren Identifikationskraft des Namens generell einzuschränken, zumutbar ist.» (Seite 254)
BVerfG billigt Abfrage von Kreditkartendaten in einem Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornographie
«Die Abfrage der Kreditkartendaten durch die Staatsanwaltschaft war kein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Beschwerdeführer, deren Kreditkartendaten bei den Unternehmen nur maschinell geprüft, mangels Übereinstimmung mit den Suchkriterien aber nicht als Treffer angezeigt und der Staatsanwaltschaft daher nicht übermittelt wurden.» (Seite 261)
BVerfG bekräftigt Verbot der Wohnungsprostitution im Geltungsbereich einer Sperrbezirksverordnung
«Der Jugendschutz genießt aufgrund des in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verbrieften elterlichen Erziehungsrechtes und der Gewährleistungen von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG Verfassungsrang. (…) Der Staat ist daher berechtigt, von Kindern und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, welche sich, zum Beispiel wegen der Kommerzialisierung sexueller Handlungen, auf ihre Einstellung zur Sexualität und damit auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig auswirken können.» (Seite 265)
BVerfG bestätigt gerichtliches Verbot von Bildveröffentlichungen einer Tierschutzorganisation mit dem Titel: „Der Holocaust auf Ihrem Teller“
«Zu Recht gehen die Gerichte davon aus, das insoweit maßgebliche verständige und unvoreingenommene Publikum (…) verstehe die Gegenüberstellung der Fotografien dahingehend, dass das den abgebildeten Tieren zugefügte Leid als ebenso schwerwiegend wie das der daneben ins Bild gesetzten Menschen und beider Behandlung als gleichermaßen verwerflich hingestellt werde.» (Seite 269)
BVerfG beanstandet nicht die als zu gering gerügte Höhe (5.000,– Euro) eines gerichtlich zugesprochenen Schadensersatzes für die nicht genehmigte Verwendung eines Bildes der Bf. (Fernseh-Köchin) auf einem Werbeprospekt eines Supermarktes. (Seite 273)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, fordert konsequente Bekämpfung der Genitalverstümmelung bei Frauen
Insbesondere fordert das EP eine wirksame Strafverfolgung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und präventive Maßnahmen ohne Stigmatisierung der betroffenen Einwanderergemeinden. (Seite 276)
BVerfG hebt mit einstweiliger Anordnung sitzungspolizeiliche Anordnungen zur Beschränkung der Presseberichterstattung teilweise auf
Die Bf. (eine Fernsehanstalt) rügt vor allem, dass in einem Strafverfahren gegen einen Gastwirt wegen tödlichen Ausgangs eines „Koma-Saufens“ der Angeklagte und sein Anwalt vor den Kameras systematisch abgeschirmt werden sollen. (Seite 280)