EuGRZ 2011 |
31. Mai 2011
|
38. Jg. Heft 8-9
|
Informatorische Zusammenfassung
Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem / Konkurrenzen und Interferenzen – zu diesem Thema hat ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Netzwerk von acht Nachwuchswissenschaftlern seine Forschungsergebnisse auf einer Tagung im Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Leipzig, im November 2010 diskutiert. Deren Langfassung wird in einem Buch (Springer Verlag) verarbeitet. Prägnante Kurzfassungen der einzelnen Beiträge werden wegen der Bedeutung des Themas hier in der EuGRZ zusammen mit dem Grußwort der Präsidentin des BVerwG veröffentlicht. Außerdem waren zu der Tagung die Professoren Cremer, Grabenwarter, Masing und Mayer eingeladen, die Arbeitsergebnisse zu kommentieren.
Vorwort der Mitglieder des Netzwerks: «Unsere Zeit ist in bislang ungekanntem Ausmaß von politischen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verflechtungsprozessen gekennzeichnet. Der moderne Verfassungsstaat kann die globalen Herausforderungen nicht mehr allein bewältigen. Er kooperiert mit anderen Staaten in internationalen Organisationen, wechselnden Staatengruppen und in Europa zuvörderst im supranationalen Integrationsprozess der Europäischen Union. Diese voranschreitende Öffnung des Verfassungsstaats nach außen stellt die Rechtswissenschaft vor neuartige Herausforderungen. Da Staaten zunehmend nicht mehr das Monopol der Ausübung hoheitlicher Gewalt für sich in Anspruch nehmen können, stellt sich die Frage, wie Verfassungsprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im überstaatlichen Kontext gedacht und vor allem gesichert werden können. (…)» (Seite 193)
Marion Eckertz-Höfer, Präsidentin des BVerwG, macht in ihrem Grußwort deutlich, dass von dem behandelten Thema nicht nur die beiden großen Europäischen Gerichte und die Verfassungsgerichte betroffen sind, sondern ebenso das Bundesverwaltungsgericht
«Denn es ist keineswegs so, dass die Fachgerichte die Kompetenzstreitigkeiten im Mehrebenensystem zwischen Bundesverfassungsgericht, EuGH und EGMR, gleichsam von außen, also eher unbeteiligt, betrachten könnten. Ihre Funktion steht dem entgegen. Achtung und Schutz der Grundrechte ist Teil auch ihres Auftrags. So verstehen sich die Verwaltungsgerichte der Bundesrepublik seit jeher als Garanten von Bürgerteilhabe und Bürgerfreiheiten gerade auch gegen den Staat. Ihnen ist die eigenständige Grundrechtsprüfung und überdies auch die Durchsetzung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgegeben. Sie kennen das Diktum Fritz Werners vom „Verwaltungsrecht als dem konkretisierten Verfassungsrecht“! In ihm spiegelt sich auch heute noch das Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Aber ihr Selbstverständnis geht inzwischendoch deutlich darüber hinaus. Die deutschen Verwaltungsgerichte sehen sich heute ebenso dem europäischen Recht, auch dem europäischen Grundrechtsschutz verpflichtet. Nationales Verwaltungsrecht ist heute vielfach auch „konkretisiertes Europarecht“. (…)
Allerdings möchte ich Ihr Augenmerk doch darauf richten, dass es die Fachgerichte bei dieser Sachlage deutlich schwerer haben als die letztlich nur auf eine der Grundrechtsordnungen „spezialisierten“ Gerichte BVerfG, EuGH, EGMR. Sie sind es, die am Ende den Grundrechtsschutz ungeachtet seiner Pluralität bestmöglich zu effektuieren haben. Vor allem die fünf obersten Bundesgerichte müssen also die verschiedenen Grundrechtsordnungen – konkretisiert durch deren gleichsam authentische Interpreten Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) – mit ihren unterschiedlichen Vorgaben zusammenführen. (…) Dies ist eine höchst komplexe Aufgabe, mit welcher der Gesetzgeber die Gerichte weitgehend allein lässt. Auch der Rechtsprechung von BVerfG, EuGH und EGMR lassen sich gefestigte dogmatische Grundstrukturen, die die Schnittstellen der verschiedenen Grundrechtsordnungen eindeutig definieren und zuordnen, noch nicht entnehmen.» (Seite 193)
Heiko Sauer, Düsseldorf – Bausteine eines Grundrechtskollisionsrechts für das europäische Mehrebenensystem
«Die Pluralität von Grundrechtsordnungen wirft zunächst einmal die Frage auf, wie weit der Anwendungsbereich der Grundrechte der unterschiedlichen Rechtsordnungen jeweils reicht. Nur durch ein exaktes Abstecken dieser Anwendungsbereiche kann bestimmt werden, ob auf einen konkreten Rechtsakt nur die Grundrechte einer Rechtsordnung oder ob die Grundrechte mehrerer Rechtsordnungen parallel anwendbar sind, ob es also zu einer Konkurrenz von Grundrechtsordnungen kommt.»
Bei Konflikten im Verhältnis zwischen Grundgesetz und EMRK befürwortet der Autor als Vermeidungsstrategie ein Korridorprinzip: «Deshalb sollte sich für mehrpolige Rechtsverhältnisse das Verständnis eines Korridors vertretbarer, d.h. gleichermaßen konventionskonformer Auflösungen horizontaler Grundrechtskonflikte anstelle der Suche nach der einzig richtigen Lösung durchsetzen. (…) Das Bestehen eines Korridors völkerrechtlich vertretbarer Lösungen horizontaler Grundrechtskollisionen ist ein überzeugendes Verständnis der Anordnung eines konventionsrechtlichen Mindeststandards in Art. 53 EMRK: Denn er unterscheidet für die Auflösung mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse einen konventionsrechtlich determinierten Teil – nämlich die Vorgabe, die Mindeststandards beider bzw. aller involvierter Konventionsrechte zu wahren – und einen konventionsrechtlich nicht determinierten Teil. Sofern der Mindeststandard für alle Rechte gewahrt bleibt, entscheidet die EMRK den Konflikt nämlich nicht zu Gunsten einer Partei des horizontalen Konflikts. Diese Entscheidung ist eine Frage des innerstaatlichen Rechts und auch hier mehr der Fachgerichte als der Verfassungsgerichte.» (Seite 195)
Antje von Ungern-Sternberg, München – Autonome und funktionale Grundrechtskonzeptionen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR
«Autonome und funktionale Grundrechtskonzeptionen wirken sich in ihrer jeweiligen Ausprägung auf die Grundrechtsdogmatik und zumindest mittelbar auch auf das grundrechtliche Schutzniveau aus. Zudem hat die integrative Grundrechtskonzeption des EGMR, die unterschiedliche autonome und funktionale Ansätze miteinander verbindet, möglicherweise auch eine akzeptanzfördernde Wirkung. Aus praktischer Sicht erscheint es jedenfalls lohnenswert, sich in Verfahren vor dem EGMR auf die jeweilige Argumentationslogik einzulassen, aus wissenschaftlicher Sicht angezeigt, die Nachvollziehbarkeit der entsprechenden Konzeptionen zu überprüfen.» (Seite 199)
Lars Viellechner, Bremen – Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel
«Die verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht bleibt freilich unvollkommen, wenn sich auf völkerrechtlicher Ebene kein Gegenstück herausbildet. Völkerrechtsfreundlichkeit der staatlichen Verfassungen verlangt umgekehrt vom Völkerrecht eine Achtung der Identität staatlicher Rechtsordnungen in ihren grundlegenden Strukturen, wie sie etwa in Art. 4 Abs. 2 EUV zum Ausdruck kommt. Eine solche gegenseitige Rücksichtnahme der Rechtsordnungen bildet die Voraussetzung für die Aufnahme eines Kooperationsverhältnisses zwischen den nationalen und internationalen Gerichten. Zugleich liegt es maßgeblich an den Gerichten, zur Ausbildung der benötigten Rechtsinstitute beizutragen. Entsprechende Entwicklungstendenzen lassen sich in der Rechtsprechung einiger internationaler Gerichte bereits beobachten. Der EGMR etwa räumt den Vertragsparteien der EMRK bei der Einschränkung bestimmter Konventionsrechte einen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) ein, der mit einer Rücknahme der europäischen Kontrolle insbesondere dann einhergeht, wenn in einem bestimmten Sachbereich nationale Besonderheiten rechtlicher oder faktischer Art bestehen. Darin kann man die erforderliche komplementäre Kollisionsregel in Form einer Subsidiaritätsregel erblicken, die aber noch weiterer Ausformung bedarf.» (Seite 203)
Nele Matz-Lück, Heidelberg – Die Umsetzung von Richtlinien und nationaler Grundrechtsschutz
«Das notwendige Tätigwerden des nationalen Gesetzgebers bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht führt dazu, dass Umsetzungsakte im Gegensatz zu den unmittelbar in den nationalen Rechtsordnungen wirkenden Verordnungen keine supranationalen Rechtsakte sind. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Richtlinien und die jeweilige mitgliedsstaatliche Umsetzung eine funktionelle Wirkungseinheit bilden, weil der Auftrag der Richtlinie lautet, das nationale Recht so anzupassen, dass es ihren Vorgaben entspricht. Der Umsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten in der jeweiligen Richtlinie wie auch die unionsrechtliche „Befugnis“, von Gestaltungsspielräumen und Öffnungsklauseln Gebrauch zu machen, verknüpfen die daraufhin erlassenen Regelungen mit dem Unionsrecht. (…)
Ein echter Kollisionsfall würde eintreten, wenn aus der Rechtsprechung des EuGH zu folgern wäre, dass jegliche normative Umsetzungsakte ausschließlich am Maßstab der Unionsgrundrechte zu überprüfen seien. Eine solche Ausschließlichkeit würde mit der Rechtsprechung des BVerfG zur Prüfungskompetenz am Maßstab deutscher Grundrechte im Bereich nicht unionsrechtlich determinierter Richtlinienumsetzung kollidieren. Ein ausdrücklicher Anspruch auf Ausschließlichkeit des Grundrechtsmaßstabs der Union für Umsetzungsakte ergibt sich aber aus der Rechtsprechung des EuGH bislang nicht.» (Seite 207)
Marc Desens, Leipzig – Auslegungskonkurrenzen im europäischen Mehrebenensystem / Probleme und Lösungsmöglichkeiten exemplifiziert anhand von Normenkollisionen zwischen Grundfreiheiten und nationalen Gesetzen
«Ist das nationale Gesetz keiner europarechtskonformen Auslegung zugänglich, entsteht eine Normenkollision, bei der sich die Grundfreiheit im Wege des Anwendungsvorrangs durchsetzen muss. (…)
Regelmäßig ist der konkret-materielle Gehalt einer Grundfreiheit schwieriger zu ermitteln als der konkret-materielle Gehalt des nationalen Gesetzes. Oftmals ist der Gehalt des nationalen Gesetzes für die Entscheidung eines konkreten Falls sogar eindeutig, während die Bedeutung der Grundfreiheit höchst unklar ist. Zugleich wird mit dem Anwendungsvorrang eine Kollisionsauflösungsregel herangezogen, die in ihrer Wirkung mit der Lex specialis-Regel vergleichbar ist. Der innere Grund der Lex specialis-Regel liegt in der besseren Eignung des spezielleren Gesetzes, einen konkret-materiellen Gehaltfür die Fallentscheidung hervorzubringen. Beim Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten ist das genau umgekehrt: Die „allgemeinere“ Grundfreiheit verdrängt die „speziellere“ nationale Rechtsnorm. Hierdurch entstehen eine gesteigerte Rechtsunsicherheit und damit auch ein erhöhtes Risiko für fehlerhafte Entscheidungen.» (Seite 211)
Mathias Hong, Freiburg – Caroline von Hannover und die Folgen – Meinungsfreiheit im Mehrebenensystem zwischen Konflikt und Kohärenz
«Die Schlussfolgerung des Görgülü-Beschlusses des BVerfG, es sei (…) angezeigt, für horizontale Grundrechtskollisionen in multipolaren Beziehungen einen allgemeinen Vorbehalt nationalen Verfassungsrechts geltend zu machen, hat sich jedoch, wenn nicht alles trügt, als voreilig erwiesen. Abweichungen vom Gebot konventionskonformer Auslegung können mit Rücksicht auf das Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG nicht unter Berufung auf objektive Verfassungsgrundsätze oder abstrakte grundrechtliche Schutzpflichten gerechtfertigt werden, sondern kommen nur in Fällen individueller Grundrechtskollisionen in Betracht. (…)
Die obiter dicta, die Görgülü zumindest auch enthält, entwerfen ein allgemeines Konfliktszenario, zu dem es weder bislang gekommen ist noch kommen muss. Sie können und sollten obiter dicta bleiben. Das Kooperationsangebot des BVerfG im Caroline-Beschluss von 2008 und das deutliche Bekenntnis zum Dialog der Gerichte im jüngsten Sicherungsverwahrungs-Urteil lassen hoffen, dass selbst in dem konfliktträchtigen Bereich multipolarer Grundrechtskonflikte eine Koordination gelingen kann, ohne dass es eines Rückgriffs auf „letzte Worte“ bedarf. Die Reaktion des EGMR bleibt natürlich abzuwarten. Eine Kollisionsvermeidung wäre dem EGMR sicherlich zumindest möglich, namentlich wenn er den „Korridorgedanken“ aufgriffe und die Dichte der konventionsrechtlichen Vorgaben reduzierte.» (Seite 214)
Felix Hanschmann, Frankfurt am Main – Das Verschwinden des Grundrechts auf Datenschutz gegen hoheitliche Maßnahmen in der Pluralität von Rechtsregimen
«In bestimmten Konstellationen ist ein effektiver Schutz des Grundrechts auf Datenschutz im Verschwinden begriffen oder bereits nicht mehr vorhanden. (…)
Die Beispiele der Terroristenlisten und der Weitergabe von Flugpassagierdaten indizieren, dass eine der wesentlichen Ursachen hierfür in der Vielfalt von komplex miteinander verflochtenen Rechtsregimen liegt. In einem aus mehreren Ebenen bestehenden kompetenzteiligen System hoheitlicher Gewaltausübung diffundieren Verantwortlichkeiten und werden damit auch Jurisdiktionsgewalten und Rechtsschutzmöglichkeiten unübersichtlich. Betroffene sind meist schon gar nicht in der Lage den Gegner eines Rechtsmittels zu adressieren, weil sich der Eingriff in ihre Rechtspositionen nicht als das Werk einer identifizierbaren singulären Instanz, sondern vielmehr als synergetisches Ergebnis einer Vielzahl von kooperativ vernetzten Eingriffsmaßnahmen verschiedener Akteure erweist. Für den Schutz des Grundrechts auf Datenschutz käme es mithin darauf an, konkrete Akteure als Verantwortliche für bestimmte Maßnahmen auszuweisen und darüber hinaus sicherzustellen, dass exakt jener Verantwortliche sowohl in materieller als auch in prozeduraler Hinsicht einen Grundrechtsschutz garantiert, der die auf anderen Ebenen vorhandenen Grundrechtsgewährleistungen gerade nicht als Potemkinsche Fassade eines in Wahrheit rechtlosen Zustandes erscheinen lässt.» (Seite 219)
Matthias Bäcker, Mannheim – Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot
«(…) Hingegen wird die richterliche Unabhängigkeit verletzt, wenn ein Gericht auf einen Rechtsbehelf hin angewiesen wird, wie es ein laufendes Verfahren zu behandeln hat. Zudem stünde eine Weisungsbefugnis im laufenden Verfahren mit dem Gebot der Chancengleichheit der Beteiligten nicht in Einklang. Die richterliche Unabhängigkeit setzt daher insbesondere dem Rechtsschutz gegen überlange Gerichtsverfahren Grenzen. Verfassungswidrig wäre etwa eine Beschleunigungsbeschwerde, in deren Folge das höherinstanzliche Gericht das Ausgangsgericht bindend zu bestimmten Verfahrenshandlungen anweisen dürfte. Es ist deshalb aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts zu begrüßen, dass nach der Rechtsprechung des EGMR nicht bestimmte Formen des Primärrechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren zwingend konventionsrechtlich geboten sind. Die Zurückhaltung des Gerichtshofs erleichtert es, die konventionsrechtlichen Vorgaben in die nationale Verfassungsordnung zu integrieren. (…)
Hinsichtlich des Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren stimmen die Anforderungen von Grundgesetz und EMRK überein. Die derzeitige Rechtslage ist daher aus verfassungsrechtlicher ebenso wie aus konventionsrechtlicher Sicht defizitär. Der aktuelle Entwurf eines gesetzlichen Entschädigungsrechtsbehelfs genügt hingegen den Anforderungen beider Ordnungen.» (Seite 222)
Hans-Joachim Cremer, Mannheim – Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem / Lösungsstrategien
«Grundsätzlich darf sich ein Staat nicht auf innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtung zu rechtfertigen. Das Völkerrecht kann sich freilich für Abweichungen öffnen, die auf die interne Rechtslage zurückgehen. Warum sind diese Überlegungen wichtig? Sie führen hin zu einer wichtigen Vorfrage für jede Konstruktion von Kollisionsnormen: Wie weit besteht kraft Völkerrechts eine Verpflichtung des Staates, in unserem Fall der Bundesrepublik Deutschland? Gibt es eine völkerrechtliche Bindung, sollte dies auch gesagt werden. Gesagt werden sollte auch, welchen genauen Inhalt die Bindung hat. Sodann sollte die Frage, ob eine bestehende völkerrechtliche Bindung innerstaatlich eingehalten wird, in dem Bewusstsein diskutiert werden, dass eine Nichtbefolgung von Verpflichtungen zu einem Bruch des Völkerrechts und zu völkerrechtlicher Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland führt. Die im Netzwerk diskutierte kollisionsrechtliche Lösung ist gut und spannend, gerade weil damit im unlösbaren Konfliktsfall klar ausgesagt werden muss: Das ist die Verpflichtung Deutschlands unter der EMRK. Deutschland bricht sie aber aus Gründen seines innerstaatlichen Rechts. Dann müssen aber – zumal in einer nationalen Rechtsordnung, welche die Einhaltung des Völkerrechts als ein bewahrenswertes Gut anerkennt – auch Gründe von hinreichendem Gewicht genannt werden. Solche Gründe vermögen freilich den Bruch des Völkerrechts nicht zu rechtfertigen oder gar zu beseitigen.» (Seite 225)
Christoph Grabenwarter, Wien – Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem / Wirkungen von EGMR-Urteilen und der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten
«Unternimmt man den Versuch einer Bilanz der Rechtsprechung des EGMR in 50 Jahren so lassen sich als Eigenleistungen weniger bestimmte Grundrechtskonzeptionen herausarbeiten, als vielmehr maßgebliche Ergänzungen des Grundrechtsschutzes fast aller Mitgliedstaaten, die freilich in der bereits etwas andersartigen Normstruktur der EMRK-Rechte angelegt sind. (…) Gegenwärtig befinden wir uns jedoch an einem Punkt, an dem eine kritische Reflexion von Uniformisierungstendenzen stattfindet. Es lassen sich sehr wesentliche Entscheidungen gerade aus der jüngsten Zeit nennen, in denen der EGMR den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten wieder deutlich hervorhebt und Rahmenbedingungen für diesen Beurteilungsspielraum benennt.
Ein dogmatischer Ansatzpunkt für die theoretische Fundierung eines weitergehenden Beurteilungsspielraumes liegt – und hier schließt sich der Kreis – wiederum im Kriterium „erforderlich in einerdemokratischen Gesellschaft“. Wenn man dieses Kriterium nämlich nicht als einen einheitlichen uniformisierten Standard einer europäischen Einheitsgesellschaft sieht, sondern einräumt, dass dieses Kriterium auf den jeweiligen Mitgliedstaat bezogen ist, so fällt es leicht, in die Abwägung jene Rahmenbedingungen der konkreten demokratischen Gesellschaft eines Mitgliedstaates einzustellen, die auch die kulturellen, religiösen und politischen Besonderheiten dieses Staates mit umfassen.» (Seite 229)
Johannes Masing, Karlsruhe/Freiburg – Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem am Beispiel der Meinungsfreiheit, des Datenschutzes, des Rechtsschutzes gegen den Richter und bei Auslegungskonkurrenzen
«Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entfalten eine Bindungswirkung im engeren Sinne nach Art. 46 EMRK nur für die res iudicata des konkreten Verfahrens. Im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht anerkannten verfassungsrechtlichen Pflicht, die Rechtsprechung des Gerichtshofs auch in Parallelfällen zu berücksichtigen, wird sich so stets auch dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Universalitätsanspruch der Konvention und den jeweiligen nationalen Besonderheiten der Grundrechtsdeutung zur Geltung bringen, das im Hintergrund fortbesteht. Diesem Spannungsverhältnis kann dabei durchaus auch eine produktive Funktion zukommen. Der Gerichtshof sollte dem dadurch Rechnung tragen, dass er einen Korridor mehrerer konventionsrechtlich gleichermaßen zulässiger Möglichkeiten der nationalen Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes anerkennt. Diese Korridorlösung kann an den Gedanken einer marge d’appréciation / margin of appreciation, anknüpfen, sollte diesen jedoch über das bisherige Verständnis hinausgehend fortentwickeln. (…) Der Gerichtshof sollte insbesondere in multipolaren Verhältnissen eine Verletzung des konventionsrechtlichen Rahmens stets verneinen, solange die nationalen Gerichte einen differenzierten Katalog von Abwägungskriterien entwickelt und diesen im konkreten Fall in willkürfreier Weise zur Anwendung gebracht haben.» (Seite 232)
Franz C. Mayer, Bielefeld – Grundrechtsvielfalt und Grundrechtskonflikte im europäischen Mehrebenensystem am Beispiel der Meinungsfreiheit, des Datenschutzes, des Rechtsschutzes gegen den Richter und bei Auslegungskonkurrenzen
«Zur Minimierung von Konfliktlagen trägt es auch bei, wenn auf einer bestimmten Grundrechtsschutzebene Spielräume verbleiben, die von der übergreifenden Grundrechtsschutzebene nicht in Frage gestellt und respektiert werden. Im EMRK-Kontext ist an die margin of appreciation-Doktrin zu erinnern, die den Konventionsstaaten Einschätzungsspielräume einräumt. Die Einsicht in das Erfordernis einer Selbstbeschränkung des Menschenrechtsrichters, der sich nicht als Tatrichter verstehen soll, weil er oder sie keine Tatsachenfeststellungen vor Ort treffen kann, ist dieser materiellen Frage noch vorgelagert.
Im Kontext der EU kommt der Achtung der nationalen Verfassungsidentität durch die EU möglicherweise eine vergleichbare Funktion zu: Die Aufrechterhaltung von Spielräumen, in denen sich gewachsene historische Besonderheiten des Grundrechtsschutzes aufrecht erhalten lassen. Verfassungsidentität erscheint zunehmend als Element einer differenzierten Diskussion zwischen Gerichten, nachdem die Verfassungsgerichte in Frankreich, Spanien (Entscheidungen zum Verfassungsvertrag) und auch Deutschland (Lissabon-Urteil) und der EuGH (Urteil vom Dezember 2010 zum Adelsaufhebungsgesetz in Österreich) das Konzept einsetzen.» (Seite 234)