EuGRZ 2012 |
25. Juni 2012
|
39. Jg. Heft 10-12
|
Informatorische Zusammenfassung
Jürgen Bast, Heidelberg/Leipzig, und Florian Rödl, Frankfurt am Main, kommentieren die Grenzen der EU-Verträge für eine Europäische Wirtschaftsregierung
«Bei den Maßnahmen zur Bewältigung der europäischen Finanz- und Eurokrise wetteifern supranationale und intergouvernementale Methoden miteinander. Letztere haben – in Gestalt von zwischenstaatlichen „Rettungsschirmen“ für Staaten der Eurozone und einem „Fiskalpakt“ von 25 Mitglied“staaten – größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vergleichsweise wenig Beachtung erfahren bislang die parallelen Bemühungen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, Elemente einer Europäischen Wirtschaftsregierung im Wege der Gesetzgebung einzuführen, also auf der Grundlage der bestehenden EU-Verträge. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Neuinterpretation des Art. 136 AEUV. Wenn die Annahmen der Unionsorgane über die Reichweite dieser Bestimmung zutreffen, dann handelt es sich um einen schlafenden Kompetenzgiganten, der das Potenzial zu einer wirtschaftspolitischen Generalermächtigung hat.
Gewiss sind die exakten Konturen einer stärker zentralisierten makroökonomischen Steuerung im Binnenmarkt bzw. der Eurozone alles andere als klar. Zu den notwendigen Bestandteilen einer solchen „Wirtschaftsregierung“ dürfte aber in jedem Fall gehören, dass die Union auf wirksame Instrumente zurückgreifen kann, um die Beachtung ihrer wirtschaftspolitischen Zielvorgaben durch die Mitgliedstaaten sicherzustellen. Zudem darf der Entscheidungsmodus über den Einsatz dieser Instrumente nicht allzu sehr von politischen Opportunitätslagen im Rat abhängen. Beide Elemente finden sich in aktuellen Gesetzgebungsakten und -initiativen, mit denen die Union sich eine Sanktionskompetenz gegenüber den Mitgliedstaaten zuspricht, um sie zur Beseitigung sog. makroökonomischer Ungleichgewichte anzuhalten, und zugleich einen Entscheidungsmodus kreiert, nach dem entsprechende Sanktionen nur von einer qualifizierten Mehrheit im Rat blockiert werden können. Letzterer wird in der politischen Diskussion als „umgekehrte Mehrheit“ tituliert.
Die Autoren dieses Beitrags haben rechtliche Zweifel daran, dass dies auf der Grundlage der bestehenden Verträge zulässig ist. Die Gründe werden anhand der Verordnung Nr. 1174/2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet dargelegt (im Weiteren: DurchsetzungsVO). Nach einem Überblick über deren Regelungen wird gezeigt, dass die Union nicht die Kompetenz besitzt, zur Durchsetzung makroökonomischer Zielvorgaben den Mitgliedstaaten Sanktionen aufzu“erlegen, und dass es darüber hinaus auch nicht zulässig ist, die umgekehrte Mehrheit als Entscheidungsmodus des Rates sekundärrechtlich festzulegen. Der Beitrag schließt mit der Überlegung, dass der durch die EU-Verträge gezogene Kompetenzrahmen sowohl eine fundamentale Legitimationsquelle als auch eine spezifische Form des Grundrechtsschutzes in der Union darstellt, dessen Wahrung auch angesichts der krisenhaften Zuspitzung von Widersprüchen in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion essentiell ist.» (Seite 269)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht Wortberichterstattung mit begleitendem Foto über erkrankten Fürsten von Monaco und seine Kinder durch Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) gedeckt / von Hannover gegen Deutschland (Nr. 2)
Das Foto zeigt die beiden Bf., Prinzessin Caroline von Hannover und ihren Ehemann im Winterurlaub (Straßenszene). Der EGMR bestätigt die Urteile des BGH und des BVerfG:
«Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte in Einklang mit seiner Rechtsprechung eine eingehende Abwägung des Rechts der Verlagsgesellschaften auf freie Meinungsäußerung und des Rechts der Bf. auf Achtung ihres Privatlebens vorgenommen haben. Auf diese Weise haben sie der Frage besondere Bedeutung beigemessen, ob die Aufnahmen im Lichte der sie begleitenden Wortberichte zu einer Diskussion von allgemeinem Interesse beigetragen haben. Sie haben sich außerdem mit den Umständen befasst, unter denen die Fotos entstanden sind.
Der Gerichtshof hebt ferner hervor, dass die innerstaatlichen Gerichte die diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofs ausdrücklich berücksichtigt haben. Während der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung nach dem Urteil von Hannover abwandelte, hat das Bundesverfassungsgericht seinerseits diese Rechtsprechung nicht nur bestätigt, sondern auch eine detaillierte Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs als Reaktion auf die Rügen der Bf. vorgenommen; die Bf. hatten gerügt, das Urteil des Bundesgerichtshofs habe die Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs verkannt.
Unter diesen Umständen und angesichts des Beurteilungsspielraums, der den innerstaatlichen Gerichten bei der Abwägung konkurrierender Interessen zusteht, folgert der Gerichtshof, dass diese ihre positiven Verpflichtungen aus Art. 8 der Konvention nicht verletzt haben.» (Seite 278)
EGMR beanstandet Verbot der Wortberichterstattung über Festnahme eines Fernseh-Kommissars wegen Rauschgiftdelikts als Verletzung der Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) / Axel Springer AG gegen Deutschland
«Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass die Beurteilung des Bekanntheitsgrades einer Person grundsätzlich in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten obliegt, vor allem wenn es sich um eine hauptsächlich im Inland bekannte Persönlichkeit handelt. Er betont im vorliegenden Fall, dass X zur fraglichen Zeit Hauptdarsteller in einer sehr populären Fernsehkrimiserie gewesen ist, in der er die Hauptfigur, den Kommissar Y, verkörperte. Die Popularität des Schauspielers beruhte im Wesentlichen auf dieser Serie, von der im Zeitpunkt des Erscheinens des ersten Artikels 103 Episoden ausgestrahlt worden waren, davon die letzten 54 mit X in der Rolle des Kommissars Y. Aus diesem Grund handelte es sich nicht, wie das Landgericht offensichtlich annahm, um einen zweitrangigen Schauspieler, dessen Bekanntheit trotz einer hohen Anzahl an Filmauftritten (…) begrenzt geblieben sei. (…)
Hinzu kommt hier das frühere Verhalten des X gegenüber den Medien, da der Betroffene in einer Reihe von Interviews selbst Einzelheiten aus seinem Privatleben preisgegeben hatte. Dem Gerichtshof zufolge hat er sich in gewisser Weise selbst ins Rampenlicht begeben, so dass angesichts seiner Bekanntheit seine „berechtigte Erwartung“, dass sein Privatleben tatsächlich geschützt wird, nur sehr begrenzt war.» (Seite 294)
Abweichende Meinung des Richters López Guerra, der sich die Richter Jungwiert, Jaeger, Villiger und Poalelungi anschliessen. (Seite 308)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, bestätigt Recht der Mitgliedstaaten zur Bestrafung des Einschleusens von Ausländern / hier: durch arglistige Täuschung erlangte Visa / Rs. Vo
«Nach den vorstehenden Randnummern ergibt sich aus dem Unionsrecht nicht nur, dass es einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, eine Person strafrechtlich zu verfolgen, die einem Drittstaatsangehörigen vorsätzlich dabei hilft, unter Verstoß gegen die geltenden Bestimmungen in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu gelangen, sondern auch, dass es den betreffenden Mitgliedstaat ausdrücklich zu einer solchen strafrechtlichen Verfolgung verpflichtet.
Den Mitgliedstaaten werden somit zwei Verpflichtungen auferlegt. Die erste besteht darin, nicht in einer die Freizügigkeit von Visainhabern beschränkenden Weise zu handeln, sofern die Visa nicht ordnungsgemäß annulliert worden sind. Die zweite besteht darin, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen in Bezug auf Personen vorzusehen und zu verhängen, die die im Rahmenbeschluss 2002/946/JI und in der Richtlinie 2002/90 genannten Verstöße begehen; dies gilt insbesondere für Schleuser.» (Seite 310)
EuGH verneint grundsätzlich einen Auskunftsanspruch eines abgelehnten Stellenbewerbers über die Einstellung eines Mitbewerbers / Rs. Meister
«Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Verweigerung jedes Zugangs zu Informationen durch einen Beklagten ein Gesichtspunkt sein kann, der im Rahmen des Nachweises von Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, heranzuziehen ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.» (Seite 314)
EuGH wertet im Hinblick auf eine Ausweisungsverfügung die Straftat des sexuellen Missbrauchs eines Kindes als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses i.S.v. Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV / Rs. P. I.
Einschränkend führt der EuGH aus: «Sollte das vorlegende Gericht anhand der spezifischen Werte der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, dem es angehört, feststellen, dass Straftaten wie die von Herrn I. verübten die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar bedrohen, muss dies nicht zwangsläufig zur Ausweisung des Betroffenen führen.
Nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 setzt nämlich jede Ausweisungsverfügung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten. (…)
Wie schließlich dem Wortlaut von Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 zu entnehmen ist, hat der Aufnahmemitgliedstaat, bevor er eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staates, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.» (Seite 318)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zum verfassungs- und völkerrechtlichen Auftrag der Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau
Die Nichtfortführung der auf Zeit eingesetzten Gleichstellungskommission im Kanton Zug wird nicht beanstandet. Bund und Kantonen steht bei der Frage, wie der Auftrag zur Verwirklichung der Gleichstellung zu erfüllen ist, Ermessen zu; es ist indes verfassungs- und völkerrechtlich vorgegeben, dass der Auftrag zu erfüllen ist, solange das Ziel noch nicht erreicht ist.
Der Kanton Zug ist nicht gehalten, die Gleichstellungskommission weiterzuführen oder eine entsprechende Fachstelle zu schaffen; er ist indes verpflichtet, einen Ersatz für die bisherige Gleichstellungskommission vorzusehen und hat anzuordnen, von wem, in welcher Art und mit welchen Mitteln der Gleichstellungsauftrag künftig umgesetzt werden soll.
Keine weitergehenden Verpflichtungen ergeben sich aus dem UNO-Übereinkommen zur Beseitigung von jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) in Verbindung mit den Allgemeinen und Abschliessenden Empfehlungen des CEDAW-Ausschusses. (Seite 322)
BGer bekräftigt allgemeine Steuerpflicht, die nicht mit Argumenten bestritten werden kann, welche die Mittelverwendung durch den Staat betreffen
Das BGer weist die Beschwerde einer Atheistin ab, die ihre steuerliche Veranlagung in dem Verhältnis reduziert sehen möchte, das dem Anteil am Gesamthaushalt des Kantons Bern entspricht, den der Kanton für die Löhne der Pfarrer der Landeskirchen sowie Bistumskosten aufwendet.
In der Begründung wird ausgeführt: «Aufgrund der Allgemeinheit der Steuer spielt bei deren Erhebung die Religionszugehörigkeit keine Rolle. Die Pflicht zu ihrer Bezahlung gründet auf dem allgemeinen Mittelbedarf des Staates und nicht auf der Verfolgung besonderer religiöser Zwecke; ein religiöser Zwang geht deshalb davon grundsätzlich nicht aus. Die Steuerpflicht kann daher von vornherein nicht mit Argumenten bestritten werden, die die Mittelverwendung durch den Staat betreffen; denn bei Letzterer ist die Verbindung zur Mittelbeschaffung beim Steuerpflichtigen derart lose, dass nicht gesagt werden kann, der Einzelne unterstütze mittels seiner Steuern eine bestimmte Religionsgemeinschaft.» (Seite 329)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, konstitutionalisiert Rechte der Grundrechte-Charta der Europäischen Union
Allerdings sieht der VfGH im Unterbleiben einer münd“lichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof wegen des Parteiengehörs im Verwaltungsverfahren keine Verletzung von Art. 47 Grundrechte-Charta.
In dem Erkenntnis heißt es: «Die Grundrechte-Charta verbürgt nun für den Bereich der Anwendung europäischen Rechts (…) Rechte, wie sie die österreichische Verfassungsordnung in gleicher Weise als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte garantiert. Wie die Präambel der Grundrechte-Charta betont, bekräftigt sie „unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben“.
Die EMRK ist in Österreich unmittelbar anwendbar und steht im Verfassungsrang (vgl. BGBl. 59/1964). Die von ihr gewährleisteten Rechte sind verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte im Sinne des Art. 144 bzw. Art. 144a B-VG, deren Schutz dem Verfassungsgerichtshof obliegt. Wie sich aus den Erläuterungen zur Grundrechte-Charta ergibt, sind zahlreiche ihrer Rechte sowohl im Wortlaut als auch in der Intention den entsprechenden Rechten der EMRK nachgebildet. (…)
Der Verfassungsgerichtshof kommt daher zum Ergebnis, dass auf Grund der innerstaatlichen Rechtslage der Äquivalenzgrundsatz zur Folge hat, dass auch die von der Grundrechte-Charta garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art. 144 bzw. Art. 144a B-VG geltend gemacht werden können und sie im Anwendungsbereich der Grundrechte-Charta einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle, insbesondere nach Art. 139 und Art. 140 B-VG bilden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die betreffende Garantie der Grundrechte-Charta in ihrer Formulierung und Bestimmtheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der österreichischen Bundesverfassung gleicht.» (Seite 331)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt ausnahmslosen Ausschluss der Anrechnung der Dauer des Vollzugs einer Maßregel der Besserung und Sicherung auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen (§ 67 Abs. 4 StGB) ohne Berücksichtigung von Härtefällen für verfassungswidrig
«Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung verfolgen unterschiedliche Zwecke, weswegen sie grundsätzlich auch nebeneinander angeordnet werden können. Geschieht dies, ist es jedoch geboten, sie ein“ander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird.»
Allerdings «ist ein Ausschluss der Anrechnung verfassungsrechtlich etwa dann gerechtfertigt, wenn die Behandlung im Maßregelvollzug scheitert und dies eindeutig und nachweislich auf eine Therapieunwilligkeit des Betroffenen ohne achtbare Gründe zurückzuführen ist (…). Der Gesetzgeber darf auch berücksichtigen, ob die mit einer Nichtanrechnung von Zeiten des Maßregelvollzugs auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen verbundene Gefährdung oder Verzögerung des Resozialisierungserfolgs der Maßregel dem Verurteilten zurechenbar ist, etwa weil er sich einer Vollstreckung dieser Freiheitsstrafen zu einem früheren Zeitpunkt entzogen hat. Zu den Gründen, die einen Ausschluss der Anrechnung zu rechtfertigen geeignet sind, gehört außerdem die Wahrung der präventiven Wirkung von Strafdrohungen, die entfiele oder jedenfalls deutlich abgeschwächt würde, soweit im Maßregelvollzug aufgrund von Anrechnungsregeln gewissermaßen Gutschriften angesammelt und für während des Vollzugs erst noch zu begehende Straftaten genutzt werden könnten.»
Das BVerfG ordnet bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber gem. § 35 BVerfGG eine entsprechende Übergangsregelung für Härtefälle an. (Seite 338)
BVerfG bestätigt das vom Präsidenten des LG Potsdam für das Gerichtsgebäude erlassene Verbot des massenhaften Tragens szenetypischer Kleidung (Lederjacken der Hells Angels) / Nicht hinnehmbare einschüchternde Machtdemonstration
Der Landgerichtspräsident hatte für den ersten Hauptverhandlungstag in einem Verfahren gegen ein Mitglied der örtlichen Führungsebene der Hells Angels und andere Mitbeschuldigte eine Sicherheitsverfügung erlassen, wonach im Justizzentrum Waffen und andere gefährliche Werkzeuge zur Mitnahme nicht zugelassen sowie „das Tragen von Kutten, die die Zugehörigkeit zu einem Motorradclub demonstrieren, untersagt“ sind. „Die Kutten sind in eigener Verantwortung außerhalb des Gebäudes zu deponieren.“ Eine entsprechende Verfügung erging für die folgenden Hauptverhandlungstage. Durch weitere Sicherheitsverfügungen wurde das Verbot auf „das Tragen von Bekleidungsgegenständen, die die Zugehörigkeit zu einem Motorradclub oder zur Brigade 81 demonstrieren“, erstreckt.
Der Verteidiger des Beschwerdeführers beanstandete die Sicherheitsverfügungen als nicht erforderliche sowie unverhältnismäßige Beschränkung der Öffentlichkeit und beantragte deren Aufhebung. Dies lehnte der Landgerichtspräsident ab. Das Verbot sei auf Anraten von Staatsanwaltschaft und Polizei erfolgt, die über genaue Kenntnisse der Szene verfügten. Ein massenhaftes Tragen szenetypischer Kleidung stelle eine nicht hinnehmbare Machtdemonstration dar, die bei der Öffentlichkeit ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung hervorrufen sowie Verfahrensbeteiligte einschüchtern und beeinflussen könne. Es sei seine Aufgabe, auf dem Gerichtsgelände für eine angstfreie Atmosphäre zu sorgen. Untersagt werde lediglich das Tragen bestimmter Kleidung. Der daraufhin vom Verteidiger des Beschwerdeführers gestellte Antrag auf Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde abgelehnt.
Ein anderer Rechtsanwalt beantragte im Namen eines zurückgewiesenen Zuschauers, diesem Zugang zum Gerichtsgebäude zu gewähren. Ihm sei der Zugang zum Justizzentrum versagt worden, „weil er eine Motorradkutte mit einem Hells Angels-MC-Abzeichen trug beziehungsweise in Freizeitkleidung mit entsprechenden Abzeichen erschien“. Es bestehe kein verständlicher Anlass für die Maßnahme. Hilfsweise bestehe Bereitschaft, die Motorradkutte im Gerichtsgebäude auszuziehen und über dem Arm zu tragen. Diesen Antrag lehnte der Landgerichtspräsident ab und ordnete die sofortige Vollziehung der Sicherheitsverfügung an. Der Antrag des zurückgewiesenen Zuschauers auf vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz blieb ohne Erfolg.
Das BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats) nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Es liegt kein Verstoß gegen das Willkürverbot und auch nicht gegen das Recht auf ein faires Verfahren vor. (Seite 347)
Oberlandesgericht Nürnberg sieht in Anrufung des EGMR keinen Grund für die Aussetzung eines Zivilprozesses nach § 148 ZPO
Die Leitsätze des OLG lauten: «Erhebt eine in einem vor“angegangenen Zivilprozess unterlegene Partei Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, so ist das Beschwerdeverfahren vorgreiflich im Sinne des § 148 ZPO, wenn der rechtskräftigen Entscheidung im Vorprozess Bindungswirkung nach § 322 Abs. 1 ZPO für den Zivilrechtsstreit zukommt, dessen Aussetzung in Frage steht.
Bei der Ermessensentscheidung nach § 148 ZPO stellt es einen gewichtigen, gegen die Aussetzung sprechenden Umstand dar, dass der Beschwerdeführer bereits erfolglos Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben hat, in der er die Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gerügt hat (hier: Art. 103 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG), deren Schutzbereich im Wesentlichen demjenigen des geltend gemachten Konventionsverstoßes (hier: Art. 6 Abs. 1 EMRK) entspricht.»
In der Begründung wird u.a. ausgeführt: «Ein wesentliches, gegen eine Aussetzung sprechendes Abwägungskriterium ist auch der Umstand, dass eine Entscheidung über die Individualbeschwerde der Beklagten zu 2 angesichts der allgemein bekannten Überlastung des Gerichtshofs nicht absehbar ist (…).
Schließlich kann der Umstand, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig abbildet, bei der Interessenabwägung nicht völlig unberücksichtigt bleiben. Verfahrensbeteiligte vor dem Gerichtshof ist neben dem Beschwerdeführer nur die betroffene Vertragspartei, also die Bundesrepublik Deutschland. Die Möglichkeit einer Beteiligung Dritter an dem Beschwerdeverfahren (vgl. Art. 36 Abs. 2 EMRK) ist kein institutionelles Äquivalent für die Rechte und Pflichten als Prozesspartei im nationalen Ausgangsverfahren (…).
Die Möglichkeiten der hiesigen Klägerin, auf den Verfahrensgang vor dem Gerichtshof einzuwirken, sind somit beschränkt.
In der Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen ist somit dem Interesse der Klägerin an einer Beendigung des vorliegenden Rechtsstreits Vorrang zu geben, so dass eine Aussetzung nicht in Betracht kommt.» (Seite 351
Ministerkomitee des Europarates, Straßburg, beschließt Zeitplan für Stabilisierung des EGMR zur Bewältigung des Rückstaus von ca. 150.000 Verfahren
Die Entscheidung des Ministerkomitees vom 23. Mai 2012, sich die Brighton-Erklärung über die Zukunft des EGMR (EuGRZ 2012, 264) als Priorität zu eigen zu machen, enthält noch keine wirkliche Lösung, sie manifestiert jedoch eine gewisse neue Entschlossenheit der Regierungen zu zielführenden Veränderungen. Inhalt und Zeitplan werden im Einzelnen dargelegt. (Seite 357)
BVerfG erlässt einstweilige Anordnung gegen ein vom Bundespräsidenten ausgefertigtes Gesetz bereits vor dessen Verkündung / hier: Einführung einer gesetzlichen Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Gesprächen
Der Erste Senat stellt fest: «Das Gebot effektiven Grundrechtsschutzes kann es rechtfertigen, eine einstweilige Anordnung gegen ein vom Bundespräsidenten ausgefertigtes Gesetz schon vor dessen Verkündung zu erlassen.
Jedenfalls vor dem Zustandekommen des Gesetzes nach Art. 78 GG dürfen von einem Unternehmen im Regelfall keine schwer rückgängig zu machenden Umstrukturierungen oder umfangreichen Investitionen im Hinblick auf beabsichtigte neue gesetzliche Anforderungen an die Berufsausübung erwartet werden; ob eine gesetzliche Übergangsfrist erforderlich ist, muss deshalb grundsätzlich ohne Rücksicht auf einen solchen Vorlauf entschieden werden.» (Seite 359)