EuGRZ 2016 |
20. Juni 2016
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43. Jg. Heft 10-12
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Informatorische Zusammenfassung
Markus Löffelmann, München, kommentiert die neuere Rechtsprechung des Afrikanischen Gerichtshofs für die Rechte der Menschen und Völker – Entwicklungen 2014-2016
«Wurde der Gerichtshof – nach der Jahrzehnte dauernden diplomatischen Vorbereitung seiner Errichtung verständlicher Weise – im Vorfeld seines Wirkens noch mit großen Vorschusslorbeeren bedacht, betrachteten viele seine Entwicklung nach einigen Jahren mit einem zunehmenden Maß an Enttäuschung: Zu schleppend verlief der organisatorische Aufbau des Gerichts; zu groß erschien die Zurückhaltung der Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union, dem Errichtungsprotokoll (im Folgenden: EProt) und vor allem dem wichtigen Individualbeschwerdeverfahren, welches die Abgabe einer Zusatzerklärung voraussetzt (vgl. Art. 34 Abs. 6 EProt), beizutreten; und zu zögerlich wurde der Gerichtshof überhaupt von der Zivilgesellschaft in Anspruch genommen. Bei der 2009 verkündeten ersten Entscheidung handelte es sich lediglich um eine – in merkwürdiger Weise aufwändig begründete – Nichtannahmeentscheidung, der über ein Dutzend weitere solche Beschlüsse folgen sollten, bevor am 14. Juni 2013 mit dem Urteil zum Tansanischen Wahlrecht erstmals eine substanzielle Entscheidung getroffen wurde, die zugleich als landmark decision bezeichnet werden kann. Rückblickend betrachtet kann diese Entscheidung als ein Wendepunkt angesehen werden.»
Der Autor beschäftigt sich ausführlich mit sechs Urteilen des AfrGMRV gegen Burkina Faso und Tansania.
Insgesamt bewertet Löffelmann die neuere Spruchpraxis positiv: «Die Dynamik der Entwicklung, die der AfrGMRV mit seiner jüngeren Rechtsprechung dokumentiert, erscheint gleichermaßen faszinierend wie vielversprechend. An den Entscheidungen – und mehr noch an den regelmäßigen Sondervoten – lässt sich deutlich ablesen, wie der Gerichtshof in vielerlei Zulässigkeits- und Begründetheitsfragen darum ringt, eigene Positionen, Prüfungsmaßstäbe und methodisch-systematische Anforderungen zu entwickeln. In ihrer Stringenz sind seine Ausführungen nicht in jeder Hinsicht überzeugend. Insgesamt zeugen sie jedoch von dem Willen und Mut, ein Schutzsystem für Menschenrechte zur Verfügung zu stellen, das für die Bürgerinnen und Bürger Afrikas tatsächlich zugänglich ist und effektive Hilfe verspricht. In diesem Lichte sind namentlich die insgesamt großzügige Handhabung der Zulässigkeitserfordernisse, die bislang makellose Erfolgsquote zulässiger Fälle in der Sache, die Entscheidungen zur Gewährung von Prozesshilfe, die große Bandbreite der mitunter auch kreativen Rechtsfolgenentscheidungen und die von Amts wegen erlassenen einstweiligen Anordnungen zur Aussetzung der Vollstreckung von Todesstrafen zu würdigen.
Die in allen Judikaten anzutreffende Bereitschaft, Leitlinien anderer kontinentaler und globaler justizieller und quasi-justizieller Organe zum Schutz der Menschenrechte in die eigene Entscheidungsfindung einzubinden, zeugt von einer starken integrativen Kraft, die sich für die Zukunft des Menschenrechtsschutzes als Glücksfall erweisen könnte. Sie belegt, dass jenseits allfällig missbrauchter Floskeln von westernization, colonialism oder imperialism im Bereich des Menschenrechtsschutzes viel Raum für die Ausprägung systemeigener Besonderheiten besteht, die im detaillierten Vergleich mit jenen anderer Schutzsysteme wiederum auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden können.» (Seite 229)
Davide Paris und Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, analysieren zur Frage der Maßgeblichkeit der Rechtsprechung des EGMR zwei weitere «völkerrechts„unfreundliche“» Entscheidungen des italienischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 2015 (Nr. 49 und 50)
Zunächst gehen die Autoren auf eine vom Verfassungsgerichtshof in Entscheidung Nr. 49 eingeführte Unterscheidung zwischen „konsolidierter“ und „nicht konsolidierter“ EGMR-Rechtsprechung ein: «Denn darin entscheidet der Verfassungsgerichtshof, dass nationale Gerichte zur Beachtung der Rechtsprechung des EGMR, entweder durch eine EMRK-konforme Auslegung, oder, andernfalls, durch Einleitung eines Normenkontrollverfahrens [beim Verfassungserichtshof], nur insoweit verpflichtet sind, als es sich um „konsolidierte Rechtsprechung“ oder Piloturteile handelt, da nur diese allgemeine Verbindlichkeit entfalten. „Es wäre“, so führt der Verfassungsgerichtshof aus, „falsch und stände zudem in Widerspruch [zu den Entscheidungen von 2007], davon auszugehen, dass die EMRK die Rechtsorgane, und insbesondere die ordentlichen Gerichte, zu passiven Rezeptoren einer von anderer Stelle vorgenommenen Auslegung macht. (…) Nur in dem Fall, in dem konsolidierte Rechtsprechung oder ein Piloturteil vorliegt, ist der italienische Richter zur Befolgung der Bestimmung in der Auslegung des Straßburger Gerichtshofs verpflichtet (…) oder zur Einleitung eines Normenkontrollverfahrens (…)“. Liegt kein „konsolidiertes Recht“ vor, ist das Gericht nicht verpflichtet, der EGMR-Rechtsprechung zu folgen, wenn das zu einem Konflikt mit Verfassungsrecht führt; in diesem Fall soll es der verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes Vorrang vor der EMRK-konformen Auslegung geben und kein Normenkontrollverfahren einleiten. (…)
Zwar betonte der Verfassungsgerichtshof in diesem Zusammenhang, dass das Gericht in derselben Sache, zu der eine Entscheidung des EGMR ergangen ist, diese befolgen muss, um der festgestellten Verletzung abzuhelfen. In Fällen, in denen eine konkrete Verurteilung Italiens jedoch nicht vorliegt, ist es ermächtigt, von einer Entscheidung des EGMR mit der Behauptung abzuweichen, dass diese kein konsolidiertes Recht darstellt. Angesichts der Verschwommenheit der Kriterien zur Unterscheidung von konsolidiertem und nicht konsolidiertem Recht verfügen die Gerichte jetzt über einen weiten Spielraum zu entscheiden, ob ein Urteil des EGMR befolgt werden muss oder nicht. Die Möglichkeit, einer Entscheidung des EGMR zu widersprechen, die früher Monopol des Verfassungsgerichtshofs war, wird jetzt weitgehend allen Gerichten zuerkannt. Es ist offenkundig, dass die internationale Rechtssicherheit untergraben wird, wenn jede Vertragspartei jederzeit kurzfristig, selektiv und temporär die sich aus der Ratifikation eines Vertrages ergebenden Verpflichtungen aussetzen könnte mit der Begründung, dass sie verfassungswidrig sind. Art. 27 der Wiener Vertragsrechtskonvention spiegelt diesen Gedanken wider. Der Mechanismus, EGMR-Rechtsprechung für verfassungswidrig zu erklären, ist an sich schon aus völkerrechtlicher Sicht problematisch. Wenn er jedoch nur einem Gericht, dem Verfassungsgerichtshof, zur Verfügung stünde, wäre zu vermuten, dass er mit großer Zurückhaltung und nur in absolut exzeptionellen Fällen angewendet wird. Wenn er aber allen Gerichten zur Verfügung steht, erhöht sich das Risiko bedenklich.»
In der Entscheidung Nr. 50 geht es um die Verbindlichkeit der von Italien ratifizierten Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, die der Verfassungsgerichtshof in einer dem klaren Wortlaut widersprechenden Auslegung in Bezug auf die im Rahmen einer Verfassungsänderung vorgesehene Abschaffung der Provinzen für unbeachtlich erklärt. (Seite 245)
Thomas Trentinaglia, Linz, untersucht die Rechtsprechung des EGMR zur staatlichen Haftung bei Zahlungsunfähigkeit einer Gebietskörperschaft
Die Überlegungen in diesem Aufsatz gründen sich auf das EGMR-Urteil im Fall De Luca gegen Italien vom 24.9.2013. Dem Bf. war es zunächst unmöglich, seinen gerichtlich rechtskräftig zugesprochenen Zahlungsanspruch in Höhe von 17.604,46 Euro zzgl. Zinsen und Inflationsausgleich (insgesamt: 42.028,58 Euro) gegen die Gemeinde Benevento in Kampanien durchzusetzen, weil diese sich bereits 1993 für insolvent erklärt hatte. Der EGMR entschied, dass fehlende Geldmittel eine Gemeinde nicht berechtigen, die von einem Gericht rechtskräftig festgestellten Zahlungsverpflichtungen nicht zu erfüllen. Der EGMR argumentiert weiter, eine Gemeinde sei ein Organ des Staates, den somit die Zahlungsverpflichtung trifft.
Der Autor stellt fest: «Das Urteil De Luca fügt sich nahtlos in die bisherige Judikatur des EGMR ein. Der EGMR hatte in den vergangenen 15 Jahren über zahlreiche Individualbeschwerden vorwiegend gegen ost- bzw. südosteuropäische Staaten zu entscheiden, in denen ein staatlicher Rechtsträger oder ein staatliches Unternehmen fällige Schulden aus einem rechtskräftigen Urteil gegen den Staat nicht (bzw. nicht rechtzeitig) bezahlte. Fast immer führten diese Verfahren zur Verurteilung des Staates wegen Verletzung von Art. 1 des 1. ZP-EMRK und von Art. 6 EMRK. (…)
Auffallend ist, dass der EGMR zwischen rechtskräftigen Urteilen und nicht titulierten Forderungen unterscheidet. Hoheitliche Eingriffe des Staates in nicht titulierte Forderungsrechte (z. B. Pensionskürzungen) sind einer Rechtfertigung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes prinzipiell zugänglich. Aus diesem Grund war es Griechenland und Portugal möglich, größere Pensions- und Gehaltskürzungen im Zuge der Wirtschaftskrise mit wirtschaftlichem Notstand zu rechtfertigen. Dagegen stellt sich der EGMR bei titulierten Forderungen gegen den Zentralstaat oder eine lokale Gebietskörperschaft bislang immer auf den Standpunkt, dass unzureichende Finanzmittel die Nichterfüllung des Urteils nicht rechtfertigen können.»
Zu bedenken ist allerdings: «Art. 41 EMRK ist keine Anspruchsgrundlage, sondern eine Kompetenznorm. Der Beschwerdeführer hat kein subjektives Recht auf tatsächlichen Zuspruch einer „gerechten Entschädigung“. Der EGMR spricht eine gerechte Entschädigung nur nach billigem Ermessen zu. In Fällen einer Konventionsverletzung infolge der Nichterfüllung von titulierten Forderungen macht er von dieser Kompetenz in der Praxis allerdings regelmäßig Gebrauch.»
In einem zweiten Teil setzt sich Trentinaglia ausführlich mit den Konsequenzen dieser Rechtsprechung im Hinblick auf die österreichische Rechtslage auseinander. (Seite 253)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in den Vollzugsbedingungen einer präventiven Ingewahrsamnahme keine erniedrigende Behandlung / hier: Aktionskletterkünstlerin nach Protest gegen Bahntransport von radioaktiven Abfällen / Lecomte gegen Deutschland
Die Bf. war zusammen mit drei weiteren Mitgliedern der Umweltschutzorganisation Robin Wood am 6. November 2008 auf den Bogen einer Eisenbahnbrücke geklettert, um mit Transparenten gegen den Transport von radioaktiven Abfällen von La Hague (Frankreich) in das Zwischenlager Gorleben zu protestieren. Nach Auflösung der Versammlung durch die Polizei weigerten sie sich, sich von der Polizei abseilen zu lassen. Die vier Personen wurden schließlich von einem Bergrettungsteam der Bundespolizei abgeseilt. Während die anderen drei Beteiligten auf freiem Fuß blieben, wurde die Bf. gegen 14.40 Uhr in gerichtlich bestätigten Gewahrsam genommen und nach drei Tagen und vier Stunden entlassen.
Das Ungewöhnliche an diesem Fall liegt in den überraschenden Kletterkünsten der Bf., die z.B. in der Gewahrsamszelle auf den 1,90 m hohen Schrank kletterte, sich weigerte, für die Nacht herunter zu kommen, und in der Folge rügte, dass die Polizei die Nacht über das Licht angeschaltet ließ, um regelmäßig zu prüfen, ob die Bf. auch nicht herunter gefallen sei. Der Sachverhalt ist von einer Reihe ähnlicher Konstellationen geprägt – darunter Fesselung im Freien wegen Fluchtgefahr durch Erklettern eines Baumes.
Der EGMR gelangt zu folgendem Ergebnis: «Berücksichtigt man die Vollzugsbedingungen des insgesamt relativ kurzen Gewahrsams der Bf., ist der Gerichtshof der Ansicht, dass sie nicht das Mindestmaß an Schwere erreichen, um aus den Vollzugsbedingungen des Gewahrsams eine erniedrigende Behandlung zu machen, die eine Verletzung von Art. 3 darstellt.» (Seite 263)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, unterstreicht die Pflicht nationaler Gerichte, mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherkreditverträgen (RL 93/13/EWG) unangewendet zu lassen / Rs. Radlinger und Radlingerová
Mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherkreditverträgen sind für den Verbraucher unverbindlich. In dem Ausgangsverfahren vor ungarischen Gerichten geht es um einen Kredit in Höhe von umgerechnet 43.300,- Euro, der gegenüber den Kreditnehmern innerhalb von einem Jahr und drei Monaten zu einer Forderung der Bank von (umgerechnet) 140.500,- Euro führte, die mit sofortiger Wirkung fällig sein sollte. (Seite 274)
EuGH zur Bedingung fester, regelmäßiger und ausreichender Einkünfte für eine Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen (in Spanien) / RL 2003/86/EG / Rs. Khachab
«Insoweit ist festzustellen, dass der Zeitraum von einem Jahr, während dessen der Zusammenführende wahrscheinlich über ausreichende Einkünfte verfügen muss, angemessen erscheint und nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um im Einzelfall das potenzielle Risiko zu bewerten, dass der Zusammenführende nach der Familienzusammenführung die Sozialhilfe dieses Staates in Anspruch nehmen muss.» (Seite 283)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt die Aufhebung des Verbots des Tragens des islamischen Kopftuchs (Hijab) für ein minderjähriges Mädchen an einer öffentlichen Schule
Das Verbot war von einer Schulgemeinde auf der Grundlage der Schulordnung ausgesprochen und vom Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen bestätigt, dann jedoch vom Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen aufgehoben worden.
Das Bundesgericht gibt zunächst einen detaillierten Überblick über die Tragweite der Glaubens- und Gewissensfreiheit in historischer Sicht sowie unter nationalen und internationalen Gewährleistungen. Es sieht das Tragen des islamischen Kopftuchs als Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses unter dem Schutz der Religionsfreiheit, zumal der Schülerin keine Neutralitätspflicht obliegt.
In dem Urteil heißt es u.a.: «Dass der Vater der Beschwerdegegnerin nach den Vorbringen der Beschwerdeführerin [Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen] schliesslich in erheblichem Umfang von der öffentlichen Hand unterstützt wird und er selbst – ebenfalls behaupteterweise – infolge Strenggläubigkeit keiner Arbeitstätigkeit nachgehen soll, mag gegebenenfalls Gegenstand eines anderen Verfahrens sein. Allerdings kann dies nicht als Rechtfertigung der Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Tochter herangezogen werden, und noch weniger als Begründung eines Ausschlusses derselben von der Schule. (…)
Ein von der Schülerin ausgehender Druck, dass andere Schülerinnen ebenfalls ein Kopftuch bzw. andere religiöse Insignien tragen, ist vorliegend nicht glaubhaft dargelegt. Vom Tragen der Kopfbedeckung allein – und dies gilt entsprechend auch für andere religiöse Symbole, wie die jüdische Kippa, das Habit christlicher Ordensschwestern und -brüder oder das Kreuz, das sichtbar getragen wird – geht noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus. (…) Schliesslich ergeben sich keine Hinweise, dass die Schülerin das religiöse Symbol aus Zwang der Eltern oder einer religiösen Gemeinde tragen würde, der dem Kindeswohl in einer Weise entgegenstünde, die einen Eingriff in die Erziehungsberechtigung der Eltern überhaupt in Betracht kommen liesse. (…) In einer öffentlichen Schule, die für atheistische, aber auch verschiedene religiöse Bekenntnisse offen ist, erweist sich das Kopftuchverbot – wie die Vorinstanz zu Recht festhält – als unverhältnismässig.» (Seite 287)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, billigt aus „kunstspezifischer“ Perspektive das sog. Sampling, d.h. die Übernahme von Ausschnitten (Musikfetzen) aus urheberrechtlich geschützten Tonträgern zur Verarbeitung in einem neuen Musikstück
Die Leitsätze des Sampling-Urteils des Ersten Senats lauten:
«1. Die von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderte kunstspezifische Betrachtung verlangt, die Übernahme von Ausschnitten urheberrechtlich geschützter Gegenstände als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung anzuerkennen. Steht dieser Entfaltungsfreiheit ein Eingriff in Urheber- oder Leistungsschutzrechte gegenüber, der die Verwertungsmöglichkeiten nur geringfügig beschränkt, so können die Verwertungsinteressen der Rechteinhaber zugunsten der Kunstfreiheit zurückzutreten haben.
2. Der Schutz des Eigentums kann nicht dazu führen, die Verwendung von gleichwertig nachspielbaren Samples eines Tonträgers generell von der Erlaubnis des Tonträgerherstellers abhängig zu machen, da dies dem künstlerischen Schaffensprozess nicht hinreichend Rechnung trägt.
3. Bei der Kontrolle der fachgerichtlichen Anwendung des Rechts der Europäischen Union prüft das Bundesverfassungsgericht insbesondere, ob das Fachgericht drohende Grundrechtsverletzungen durch Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union abgewehrt hat und ob der unabdingbare grundrechtliche Mindeststandard des Grundgesetzes gewahrt ist.»
Die Bf. hatten aus der Tonspur des Musikstücks „Metall auf Metall“ der Band „Kraftwerk“ eine Rhythmussequenz von zwei Sekunden entnommen, diese um 5 % verlangsamt und fortlaufend als Endlosschleife (Loop) ihrem eigenen Titel „Nur mir“ unterlegt.
In der Urteilsbegründung heißt es u.a.: «Somit gebietet der verfassungsrechtliche Schutz des geistigen Eigentums zum einen nicht, dem Tonträgerhersteller jede nur denkbare wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit zuzuordnen, sondern soll lediglich sicherstellen, dass ihm insgesamt ein angemessenes Entgelt für seine Leistung verbleibt. (…) Hierin drückt sich die Sozialbindung des geistigen Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 2 GG aus.» (Seite 297)
BVerfG beurteilt die Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung als Abschiebungshindernis und erklärt die Rückführung eines in Bulgarien anerkannten Schutzberechtigten (Syrer) aus Deutschland für unzulässig
Der Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats betont die Aufklärungspflicht der Verwaltungsgerichte: «Die Frage, ob einem in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt Schutzberechtigten eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung droht, die ein Abschiebungsverbot auslöst, erfordert, wie die Feststellung systemischer Mängel im Asylsystem, eine aktuelle Gesamtwürdigung der zu der jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen. Dabei kommt regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zu.» (Seite 309)
BVerfG sieht in präventiver Ingewahrsamnahme nach Störung eines Castor-Bahntransports radioaktiver Abfälle 2011 durch Entfernung von Schottersteinen aus dem Gleisbett keine Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person
Die 2. Kammer des Zweiten Senats begründet nicht nur, warum Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, sondern auch ausführlich anhand der Rechtsprechung des EGMR, warum Art. 5 EMRK nicht verletzt ist. (Seite 311)
BVerfG hält die persönliche Anhörung durch das entscheidende Gericht vor einer Betreuungsanordnung wegen der tiefen Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht für unverzichtbar. (Seite 315)
BVerfG nimmt Vb. wegen Verletzung von grundrechtlichen Schutzpflichten gegenüber Pflegeheimbewohnern durch gesetzgeberisches Unterlassen nicht zur Entscheidung an
Die Rügen sind nicht substantiiert vorgetragen. Außerdem sind die Bf. nicht selbst, gegenwärtig und unmittelbar in ihren Grundrechten betroffen. (Seite 317)
EGMR – Marko Bošnjak von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg zum neuen slowenischen Richter am EGMR gewählt. (Seite 319)
EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott präzisiert Kriterien für ein gerechtfertigtes Verbot des Tragens eines muslimischen Kopftuchs am Arbeitsplatz eines privaten Arbeitgebers / Schlussanträge in der Rs. Achbita
In der Einleitung zu den Schlussanträgen heißt es: «Welche gesellschaftliche Brisanz jener Problematik innewohnt, braucht an dieser Stelle nicht eigens betont zu werden, schon gar nicht im gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem sich Europa einem wohl noch nie dagewesenen Zustrom an Migranten aus Drittstaaten gegenübersieht und allenthalben heftig über Mittel und Wege zu einer möglichst erfolgreichen Integration von Personen mit Migrationshintergrund debattiert wird.
Letztlich stehen die Rechtsprobleme rund um das islamische Kopftuch stellvertretend für die grundlegendere Frage, wie viel Anderssein und Vielfalt eine offene und pluralistische europäische Gesellschaft in ihrer Mitte dulden muss und wie viel Anpassung sie umgekehrt von bestimmten Minderheiten verlangen darf.»
Kokott schlägt dem EuGH im Wesentlichen vor, auf das Vorabentscheidungsersuchen des belgischen Kassationshofs folgendermaßen zu antworten:
«Wird einer Arbeitnehmerin muslimischen Glaubens verboten, am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch zu tragen, so liegt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG vor, wenn dieses Verbot sich auf eine allgemeine Betriebsregelung zur Untersagung sichtbarer politischer, philosophischer und religiöser Zeichen am Arbeitsplatz stützt und nicht auf Stereotypen oder Vorurteilen gegenüber einer oder mehreren bestimmten Religionen oder gegenüber religiösen Überzeugungen im Allgemeinen beruht. Das besagte Verbot kann jedoch eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie darstellen.
Eine solche Diskriminierung kann gerechtfertigt sein, um eine vom Arbeitgeber im jeweiligen Betrieb verfolgte Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität durchzusetzen, sofern dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. (…)» (Seite 320)