EuGRZ 2016 |
7. September 2016
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43. Jg. Heft 13-17
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Informatorische Zusammenfassung
Tobias Reinbacher und Mattias Wendel, Berlin, stellen ihre Abhandlung unter den Titel: „Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl – Zum ebenenübergreifenden Schutz grundrechtlicher Elementargarantien im europäischen Auslieferungsverfahren“
«Die elementare, für Verfassungsrecht und Strafrecht gleichermaßen konstitutive Garantie der Menschenwürde stand jüngst im Zentrum zweier bemerkenswerter Entscheidungen. Sowohl das BVerfG als auch der EuGH haben sich in grundsätzlicher Weise zu Inhalt und Reichweite des Schutzes grundrechtlicher Elementargarantien in Auslieferungsverfahren aufgrund eines Europäischen Haftbefehls geäußert. Der Beschluss des BVerfG vom 15. Dezember 2015 [EuGRZ 2016, 33] und das zeitlich kurz darauf ergangene Urteil des EuGH vom 5. April 2016 in Sachen Aranyosi u.a. [EuGRZ 2016, 107] setzen eine Auseinandersetzung fort, die von Verfassungs- und Höchstgerichten aller Ebenen seit mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt intensiv geführt wird.
Der Zweite Senat des BVerfG unterbindet mit seinem Beschluss die Auslieferung eines US-Amerikaners nach Italien, der dort mehr als 20 Jahre zuvor in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden war. Das in der Menschenwürdegarantie wurzelnde Schuldprinzip verlange, dass deutsche Gerichte im Rahmen der ihnen obliegenden Aufklärungspflicht sicherstellen, dass auch im Staat, der die Auslieferung begehrt, ein Mindestmaß an Verfahrensrechten garantiert werde – im konkreten Fall: ein erneutes Strafverfahren in Italien mit Beweisaufnahme in Anwesenheit des Betroffenen. Ihre europarechtliche Brisanz erlangt die ohne Vorlage an den EuGH ergangene Entscheidung durch den Umstand, dass der aufgehobene Auslieferungsbeschluss des OLG Düsseldorf in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf Grundlage des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl erging. (…).
Auf europäischer Ebene tonangebend waren bis dato insbesondere die EuGH-Entscheidungen Advocaten voor de Wereld, Radu, Melloni, Jeremy F. und Lanigan. Dieser Rechtsprechungslinie fügt die Große Kammer des EuGH nunmehr eine weitere Grundsatzentscheidung hinzu.»
Im Fall Aranyosi (Ungar) und Căldăraru (Rumäne) war zu klären, «ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der per europäischem Haftbefehl ausgeschriebene Betroffene durch die Überstellung einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.d. Art. 4 GRCh ausgesetzt würde. Die grundlegende Bedeutung des Urteils [Aranyosi u.a.] erwächst zum einen aus der Konturierung der unionsrechtlichen Kerngarantien im Lichte der Menschenwürde, zum anderen aus der Begrenzung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens. (…) Sowohl für das Urteil des EuGH als auch für den Beschluss des BVerfG charakteristisch ist die explizite, wenn auch ordnungsspezifisch unterschiedlich ausfallende Verarbeitung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). (…)
Aus dem komplexen Geflecht rechtlicher Problemlagen werden im Folgenden drei Aspekte betrachtet: erstens der vom BVerfG gewählte – und für die gerichtliche Prüfungszuständigkeit im europäischen Verbund der Verfassungs- und Höchstgerichte folgenreiche – Prozessrahmen der Identitätskontrolle, insbesondere im Hinblick auf ihr Verhältnis zum grundrechtlichen Solange-Vorbehalt und die Folgen für die ebenenübergreifende Zuordnung der Grundrechtssphären (II.), zweitens die Reichweite grund- und menschenrechtlicher Schranken im europäischen Rechtshilfeverfahren vor dem Hintergrund des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens (III.) und drittens die Auslegungs- und Dialogverantwortung nationaler Verfassungsgerichte in Bezug auf die Unionsgrundrechte (IV). Auf dieser Grundlage lassen sich Schlussfolgerungen nicht zuletzt für die Frage nach der Kohärenz der Schutzregime ziehen (V.).» (Seite 333)
Lukas Staffler, Bozen, behandelt „Geheimdienstliches Verschwindenlassen von Terrorverdächtigen (extraordinary renditions) im Lichte der EGMR-Judikatur: Der Fall Nasr (alias Abu Omar) und Ghali gegen Italien“
«Seit den verheerenden Terroranschlägen am 11.9.2001 in den USA rückt die Terrorgefahrenabwehr in den Fokus westlicher Staaten. Eine der zahlreichen und gleichzeitig fragwürdigen Strategien aus dem Repertoire des U.S.-amerikanischen Auslandsnachrichtendienstes Central Intelligence Agency (CIA) stellt die Praxis sog. extraordinary renditions dar. Im Rahmen dieser außerordentlichen Überstellungen werden bestimmte Terrorverdächtige, die wegen ihrer Kenntnisse von Geheimdiensten als besonders wertvoll angesehen werden (sog. „High-Value-Detainees“, kurz HVD), von der CIA außerhalb des U.S.-Hoheitsgebietes ohne rechtliche Grundlage, allerdings wohl mit Billigung und/oder Mitwirkung des jeweiligen Staates, gekidnappt und in Länder verbracht, die für systematisches und brutales Foltern bekannt sind. Bis zum offiziellen Verbot dieser Praxis durch U.S.-Präsident Barack Obama im Jahr 2009 wurden die Betroffenen häufig längere Zeit in Geheimgefängnissen inhaftiert und unter Anwendung von Folter verhört.
Die juristische Aufarbeitung im Fall Abu Omar durch den EGMR stellt dabei eine Besonderheit dar, denn es handelt sich hierbei um den am besten dokumentierten Fall einer extraordinary rendition, was in erster Linie den umfassenden Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft und der italienischen Staatspolizei, Spezialabteilung für Terrorismus- und Extremismus-Bekämpfung (Digos – Divisione Investigazioni Generali e Operazioni Speciali) zu verdanken ist. Pionierarbeit bei der Aufklärung von rechtswidrigen Geheimdienstaktionen hat der Schweizer Abgeordnete und frühere Staatsanwalt Dick Marty als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats geleistet: seine Ermittlungen und die dann von ihm vorgelegten Berichte haben die illegalen Geheimgefängnisse der CIA in Europa aufgedeckt.»
Der Beitrag behandelt zunächst eine Begriffserklärung und die Chronologie der Verschleppung und geheimen Inhaftierung des Bf., sodann die justizielle Aufarbeitung in Italien, zugleich ein Kräftemessen zwischen den Staatsgewalten, sowie die Strafprozesse gegen CIA-Agenten. Es folgt eine Übersicht über die bisherige Rechtsprechung des EGMR zu dem inkriminierten CIA-Programm mit den Fällen El Masri gegen Mazedonien (2012), Al Nashiri gegen Polen (2014) und Husayn (Abu Zubaydah) gegen Polen (2014) sowie eine detaillierte Analyse der Urteilsbegründung des EGMR im Fall Nasr (alias Abu Omar) und Ghali (2016) in Bezug auf die Art. 3, 5, 8 und 13 EMRK. (S. 344)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, anerkennt im Hinblick auf das neue Regime der Sicherungsverwahrung ein für die Unterbringung psychisch Kranker angemessenes therapeutisches Umfeld i.S.v. Art. 5 Abs. 1 lit.e EMRK und verneint außerdem einen Verstoß gegen das Verbot rückwirkender Bestrafung nach Art. 7 Abs. 1 EMRK / Bergmann gegen Deutschland
Der 1943 geborene Bf. wurde mehrfach wegen sexueller Gewaltdelikte verurteilt, zuletzt 1986 zu 15 Jahren Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen. Daneben wurde die Unterbringung in Sicherungsverwahrung angeordnet und immer wieder verlängert. Er leidet nach den Feststellungen verschiedener medizinischer Gutachten an einer sexuellen Devianz mit sadistischen Fantasien. Er ist nunmehr seit 2013 in der neu geschaffenen Einrichtung für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt in Rosdorf (Niedersachsen) untergebracht. Im vorliegenden Fall geht es darum, ob die nach den Grundsatzurteilen des EGMR und daran anschließend des BVerfG gesetzlich und praktisch gefundene neue Form der Sicherungsverwahrung den vom EGMR definierten Anforderungen aus Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK genügt. Hierzu heißt es in dem Urteil:
«Der Gerichtshof ist zudem davon überzeugt, dass die psychische Störung des Bf. ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigte, wie dies nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich ist.» Der EGMR bejaht mit ausführlicher Begründung, dass der Bf. als „psychisch Kranker“ i.S.v. Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK anzusehen ist.Eine Verletzung des Verbots rückwirkender Bestrafung (Art. 7 Abs. 1 EMRK) hält der EGMR nicht für gegeben, auch wenn er zunächst betont, «dass die nach dem neuen gesetzlichen Rahmen umgesetzte Sicherungsverwahrung in der Regel noch immer eine „Strafe“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 darstellt.»Entscheidend ist für den Gerichtshof Folgendes: «In Fällen wie dem des Bf., in dem die Sicherungsverwahrung aufgrund seiner psychischen Störung und im Hinblick auf die Notwendigkeit der Behandlung dieser Störung verlängert wird, lässt der Gerichtshof jedoch gelten, dass sich sowohl das Wesen als auch der Zweck seiner Sicherungsverwahrung grundlegend geändert haben, und dass der strafende Charakter und der Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verurteilung soweit in den Hintergrund treten, dass die Maßnahme nicht länger als „Strafe“ i.S.v. Art. 7 Abs. 1 einzustufen ist.» (Seite 352)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, beurteilt eine staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung (in Polen) ohne eingehende Ermittlungen als keine das Verbot der Doppelbestrafung (in Deutschland) aktivierende rechtskräftige Verfahrenseinstellung i.S.d. Art. 54 SDÜ / Rs. Kossowski
Gegen den Betroffenen des Ausgangsverfahrens wird von der Staatsanwaltschaft Hamburg wegen schwerer räuberischer Erpressung ermittelt. Der EuGH verneint die Vorlagefrage des OLG Hamburg, ob es daran gehindert ist, das Verfahren fortzusetzen, weil die polnische Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hatte. Der EuGH führt dazu aus:
«Nach alledem stellt ein Einstellungsbeschluss wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, der erlassen wurde, obwohl die Staatsanwaltschaft die öffentliche Klage – ohne dass eingehendere Ermittlungen durchgeführt worden wären, um Beweismittel zu sammeln und zu untersuchen – allein deshalb nicht verfolgte, weil der Angeschuldigte die Aussage verweigert habe und der Geschädigte sowie ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hätten vernommen werden und die Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können, keine Entscheidung dar, der eine Prüfung in der Sache vorausgegangen ist.» (Seite 369)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, gibt der Anfechtung der Bundespräsidenten-Stichwahl vom 22. Mai 2016 statt und ordnet eine Wahlwiederholung in vollem Umfang in ganz Österreich an
Der Kandidat Alexander Van der Bellen erhielt 2.251.517 Stimmen, auf den Kandidaten Norbert Hofer entfielen 2.220.654 Stimmen. Nach ausführlicher Sachverhaltserhebung mit eingehender Zeugenvernehmungen stellt der VfGH fest, dass in zahlreichen Wahlbezirken Wahlvorschriften nicht eingehalten worden sind. Der Stimmenunterschied zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer beträgt 30.863. Da die von der Rechtswidrigkeit betroffenen Briefwahl-Stimmen (77.926) die Hälfte des Vorsprungs (15.432 Stimmen) bei weitem übersteigen, konnte das von Einfluss auf das Wahlergebnis sein.
Einen weiteren Grund für die Wahlwiederholung sieht der VfGH darin, dass das Innenministerium Informationen über eingelangte Auszählungsergebnisse vor Wahlschluss an den Österreichischen Rundfunk, an die Presseagentur APA (Austrian Press-Agency) und an andere Medien sowie Forschungsstellen, wenn auch mit Sperrfristen, weitergegeben hat.
Zum ersten Punkt – Rechtswidrigkeiten bei der Briefwahl heißt es in der Begründung des Erkenntnisses:
«Nach der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist einer Wahlanfechtung nicht schon dann stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens erwiesen wurde; sie muss darüber hinaus auch auf das Wahlergebnis von Einfluss gewesen sein (Art. 141 Abs. 1 dritter Satz B-VG iVm § 70 Abs. 1 erster Satz VfGG). Dazu hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen, dass diese (zweite) Voraussetzung bereits erfüllt ist, wenn die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte.»
Der VfGH fasst nach einem Überblick über seine bisherige #Rechtsprechung zusammen: «Letzten Endes liegt der wiedergegebenen Rechtsprechung die Überlegung zugrunde, dass demokratische Wahlen die politische Macht der obersten Funktionsträger des Staates begrenzen und diese – wie die historische Erfahrung und Vorgänge in anderen Ländern ohne funktionierende Demokratie zeigen – versucht sein könnten, mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel Wahlergebnisse zu manipulieren. Auch in einer stabilen Demokratie sichert die genaue Einhaltung der Wahlvorschriften das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Wahlen und damit – wie bereits das Erkenntnis VfSlg. 888/1927 besagt – in eines der Fundamente des Staates. (…)
Der Verfassungsgerichtshof hält dabei ausdrücklich fest, dass keiner der von ihm im Zuge der öffentlichen mündlichen Verhandlung einvernommenen Zeugen Anhaltspunkte für tatsächliche Manipulationen wahrgenommen hat.»
Zum zweiten Punkt – vorzeitige Herausgabe von Zwischenergebnissen an die Medien führt der VfGH aus:
«Im Hinblick auf die Art der erwiesenen Rechtswidrigkeit ist davon auszugehen, dass diese – angesichts des knappen Wahlausganges und der nachweislich österreichweiten Verbreitung der vorab veröffentlichten Wahlergebnisse – auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte.» (Seite 374)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, gibt Anträgen auf Nachzählen der Stimmen bei knappem Wahlausgang nur bei konkreten Anhaltspunkten für fehlerhafte Auszählung oder für gesetzwidriges Verhalten der zuständigen Organe statt
«Unter Berücksichtigung des mit der Teilrevision des BPR [Bundesgesetz über die politischen Rechte] vom 26. September 2014 bestätigten gesetzgeberischen Willens ist Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR deshalb nunmehr so auszulegen, dass ein allgemeiner und unbedingter Anspruch auf Nachzählung eines sehr knappen bzw. äusserst knappen Resultats einer eidgenössischen Abstimmung nur dann besteht, wenn zusätzlich äussere Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass nicht korrekt ausgezählt worden ist. An den Nachweis der Unregelmässigkeiten im Sinne von Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR sind zwar umso geringere Anforderungen zu stellen, je knapper das Wahl- oder Abstimmungsresultat ausgefallen ist.» (Seiten 429)
BGer zur Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung und Wegweisung sowie zum Verhältnis zwischen dem Freizügigkeitsabkommen Schweiz/EU (FZA) und dem neuen Verfassungsartikel 121a BV betreffend die Steuerung der Zuwanderung
Die Beschwerdeführerin ist eine dominikanischen Mutter, die bereits schwanger in die Schweiz eingereist war und deren Kind von einem aufenthaltsberechtigten deutschen Arbeitnehmer anerkannt wurde, der allerdings für den Unterhalt nur unvollständig aufgekommen ist und inzwischen eine neue Familie hat. Das hatte zur Folge, dass die Bf. entgegen Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA nicht über genügend eigene Mittel verfügte und knapp 395.000 SFr an Sozialhilfe erhalten hat. Das BGer gelangt nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH zu dem Ergebnis, die Beschwerde gegen die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK abzuweisen.
Das von der Bf. vorgetragene zwischenzeitlich erlangte eigene Einkommen als angestellte Büroassistentin und die damit möglicherweise verbundene Lösung aus der Sozialhilfeabhängigkeit kann als unzulässiger neuer Vortrag im vorliegenden Verfahren nicht geprüft werden, sondern wäre vom Migrationsamt im Rahmen einer neuen Sachverhaltsprüfung zu beurteilen. (Seite 433)
Gerold Steinmann, Bern, geht in seiner Anmerkung auf den Gesamtzusammenhang des Freizügigkeitsabkommens der Schweiz mit der EU sowie auf die neue Verfassungsbestimmung zur Steuerung der Zuwanderung (Art. 121a BV) und auf ihre Entstehung ein. Es folgen der Verfassungstext sowie eine Zusammenstellung von ersten Stimmen aus der Literatur. (Seite 438)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, wertet das OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) der Europäischen Zentralbank unter der Bedingung für hinnehmbar, dass die vom EuGH in seiner Vorabentscheidung entwickelten Kontroll-Kriterien eingehalten werden
Die für unbegründet erklärten Verfassungsbeschwerden sowie das Organstreitverfahren richten sich gegen zwei Programme zum Ankauf von börsengängigen Schuldtiteln, insbesondere Staatsanleihen von Mitgliedstaaten der Eurozone, durch das Eurosystem. Die vier Leitsätze des Endurteils des Zweiten Senats lauten:
«1. Zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration hat der Bürger grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt.
2. Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die ultra vires ergehen, verletzen das im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm und damit zugleich den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Der Abwendung derartiger Rechtsverletzungen dient das Institut der Ultra-vires-Kontrolle.
3. Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung die Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identitätsverletzung bewirken oder einen Ultra-vires-Akt darstellen, entgegenzutreten.
4. Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn
– Ankäufe nicht angekündigt werden,
– das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,
– zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissionsbedingungen verfälscht werden,
– nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,
– die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und
– die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.» (Seite 440)
BVerfG erklärt die Versagung der Genehmigung einer für Gemeindepriester bestimmten Begräbnisstätte im Untergeschoss ihrer Kirche (Krypta) für verfassungswidrig
Die Bf. ist eine 500 Mitglieder umfassende vereinsrechtlich organisierte Glaubensgemeinschaft. Sie gehört der Erzdiözese der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland an, die aus 51 Gemeinden mit insgesamt 80.000 Gläubigen besteht. Die Bf. hat nach Genehmigung 1994 ihre Kirche im Industriegebiet errichtet. Auf den umliegenden Grundstücken befinden sich holz- und metallverarbeitende Betriebe mit fast 500 Beschäftigten.
Für die geplante Krypta mit zehn Begräbnisplätzen für verstorbene Priester dieser Gemeinde in Sarkophag-Nischen hat die Gemeinde die Genehmigung verweigert. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg wird vom BVerfG aufgehoben: «Der postmortale Persönlichkeitsschutz, die Totenruhe sowie das Pietätsgefühl der Hinterbliebenen und der Allgemeinheit stehen der Grundrechtsausübung nicht entgegen. Möglichkeiten zur Herstellung praktischer Konkordanz zwischen dem Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) sowie der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) benachbarter Grundstückseigentümer und Gewerbetreibender einerseits und der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Beschwerdeführerin andererseits zieht der Verwaltungsgerichtshof nicht hinreichend in Betracht.» (Seite 474)
BVerfG sieht in der Verweigerung der Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Unterbringung in der Strafhaft gegen den Freistaat Bayern trotz ungeklärter Rechtsfragen eine Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit. (Seite 484)
BVerfG zur Reichweite der Meinungsfreiheit auch für emotionalisierte Interview-Äußerungen
Die 3. Kammer des Ersten Senats gibt der Verfassungsbeschwerde der Hauptbelastungszeugin im Kachelmann-Prozess gegen ein vom Freigesprochenen gegen sie für bestimmte Interview-Äußerungen erwirktes Unterlassungsurteil statt: «Indem die Gerichte aber davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf die Wiedergabe der wesentlichen Fakten und eine sachliche Darstellung des behaupteten Geschehens zu beschränken habe, verkennen sie die durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Diese Auffassung übersieht auch das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und auch Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. (…)
Zu Gunsten der Beschwerdeführerin war in die Abwägung zudem einzustellen, dass sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und in Bezug auf die dem Kläger im Strafverfahren vorgeworfene Straftat keine neuen Tatsachen vorbrachte, sondern lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berichterstattung zu dem Verfahren bereits bekannt war.» (Seite 486)
BVerfG wertet strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung von Polizeibeamten durch Hochhalten eines Banners mit der Aufschrift „A C A B!“ (für „all cops are bastards“) in einem Fußballstadion als Verletzung der Meinungsfreiheit
Die angegriffenen Entscheidungen «tragen die Annahme einer hinreichenden Individualisierung des negativen Werturteils nicht». (Seite 489)
BVerfG sieht in der ausfallend scharfen Kritik eines Rechtsanwalts an der Staatsanwältin in einem konkreten Verfahren keine die Meinungsfreiheit verdrängende Schmähkritik
Die Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. (Seite 491)
BVerfG erachtet unbestritten wahre Äußerungen auf Internet-Portalen zur Firmenbewertung (schleppende Zahlung einer titulierten Forderung), auch wenn der Vorfall knapp fünf Jahre zurückliegt, für von der Meinungsfreiheit gedeckt. (Seite 493)