EuGRZ 1997 |
16. Mai 1997
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24. Jg. Heft 5-6
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Informatorische Zusammenfassung
Frank Hoffmeister, Berlin, untersucht die Besonderheiten im Verfahren des Beitritts Kroatiens zum Europarat und würdigt die Entwicklung der kroatischen Verfassungsgerichtsbarkeit
Der Autor geht auf die Empfehlung der Venedig-Kommission zur Errichtung einer gemischten Minderheitenkammer beim kroatischen Verfassungsgericht sowie auf die aufschiebende Bedingung in der Aufnahmeresolution des Ministerkomitees des Europarates ein. Ausführlich würdigt er die mutige Rolle des Verfassungsgerichts bei Fragen des institutionellen Gleichgewichts:
«Wie kaum in einem anderen Transformationsstaat hatte in Kroatien nach 1989/90 eine Verschiebung der Macht aus der Mitte des (verfassungsgebenden) Parlaments in die Hände des Präsidenten stattgefunden. (…) Bekanntlich hatte dieses System in der Praxis zu einer de-facto-Alleinherrschaft von Staatspräsident Tudjman geführt, welcher im Kriegszustand darüber hinaus gem. Art. 101 Verf. Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen konnte. In dieser Situation ging die einzige Beschränkung der präsidentiellen Regierungsmacht vom Verfassungsgericht aus. (…)
So sicherte das Verfassungsgericht 1992/1993 den Zugang von Wahlbeobachtern der Opposition zum Wahlverfahren und zum Überprüfungsverfahren von Wahlbeschwerden, welcher durch Verwaltungsvorschriften beschränkt worden war. In einem Annahmebeschluß zum Wohngesetz setzte es Ende 1994 der von der Regierung tolerierten Praxis, Mieter aus früheren Wohnungen der verhaßten Jugoslawischen Volksarmee ohne Rechtsmittel zu entfernen, ein Ende, indem es die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anerkannte. Im Jahre 1995 annulierte es den Versuch der Regierungspartei „Kroatische Demokratische Versammlung“ (HDZ), über ihre Mehrheit im Justizrat, dem Selbstverwaltungsorgan der Justiz, 25 ihrer Kandidaten ohne Aussprache in die höchsten Justizämter zu hieven und die restlichen 12 Stellen nicht zu besetzen, sondern abzuschaffen. Auch der Versuch der Regierung, ein regimekritisches Blatt (die „Feral Tribune“ aus Split) durch Belegung mit einer Umsatzsteuer mundtot zu machen, scheiterte am Verfassungsgericht, das die satirische Zeitung dem Schutz der Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit unterstellte.» (Seite 93)
Verfassungsgericht der Republik Kroatien, Zagreb, erklärt Auflösung der Stadtversammlung von Zagreb und Ernennung eines Regierungskommissars für verfassungswidrig
Die Entscheidung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil das Verfassungsgericht den Versuch des Staatspräsidenten Tudjman vereitelt, mit verfassungsrechtlichen Pseudo-Argumenten den Sieg der Opposition bei den Wahlen zur Zagreber Stadtversammlung institutionell zu unterlaufen.
Das Verfassungsgericht stellt fest, «daß die Auflösung [der Stadtversammlung von Zagreb] auf keiner gesetzlichen Grundlage beruhte und daß die Regierung ihre durch besondere gesetzliche Vorschriften eingeräumten Befugnisse überschritt».
Da die Voraussetzungen für die Ernennung eines Regierungskommissars nicht vorliegen, «führt die Aufhebung der Auflösungsentscheidung zwingend auch zur Aufhebung der Ernennung des Regierungskommissars für die Stadt Zagreb». (Seite 103)
Mit Rußland und Kroatien hat der Europarat gegenwärtig 40 Mitgliedstaaten. Zu den Aufnahmebedingungen gehört u.a. die Verpflichtung, die Europäische Menschenrechtskonvention in angemessener Frist zu ratifizieren. Das gilt auch für das Reformprotokoll (Nr. 11) zur Errichtung eines ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Ratifikationstabelle gibt Aufschluß über den Stand der Entwicklung. (Seite 128)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erklärt Diskriminierung ausländischer EU-Bürger durch Sicherheitsleistung für Prozeßkosten für vertragswidrig
Im Ausgangsverfahren klagen britische Kaufleute gegen eine deutsche GmbH in Liquidation auf Bezahlung gelieferter Waren. Auf Vorlage des Saarländischen OLG stellt der EuGH im Hayes-Urteil fest: «Es liegt auf der Hand, daß eine Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende [§ 110 Abs. 1 ZPO] eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt: Von seinen eigenen Staatsangehörigen fordert der Mitgliedstaat nach einer solchen Vorschrift keine Sicherheitsleistung, selbst wenn sie kein Vermögen und keinen Wohnsitz in diesem Staat haben.» (Seite 99)
EuGH erklärt Diskriminierung gebietsfremder EU-Bürger durch kumulierendes Kautionsverlangen zur Vermeidung kostenpflichtiger Fahrzeugbeschlagnahme bei Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr für vertragswidrig
Die strittige belgische Regelung sieht vor, daß bei bestimmten Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr (Güterbeförderung) der Betroffene durch die sofortige Zahlung von 10.000 belgischen Franken je Zuwiderhandlung in der Regel eine weitere Strafverfolgung vermeiden kann. Zahlt er nicht, wird das gesetzlich vorgesehene Strafverfahren gegen ihn betrieben.
Das gilt nicht für Gebietsfremde. Diese müssen, wollen sie das normale Strafverfahren abwarten, einen Betrag von 15.000 belgischen Franken je Zuwiderhandlung zur Deckung der etwaigen Geldbuße und der Gerichtskosten hinterlegen. Andernfalls wird das Fahrzeug kostenpflichtig einbehalten.
Im Pastoors-Urteil führt der EuGH aus: «Dieser Betrag, der den bei der Entscheidung für die sofortige Bezahlung zur Erledigung des Strafverfahrens zu zahlenden Betrag um 50% übersteigt, wird für jede einzelne dem Betroffenen zur Last gelegte Zuwiderhandlung verlangt. In Fällen, in denen verschiedene Zuwiderhandlungen gleichzeitig festgestellt und in ein und derselben behördlichen Handlung vermerkt werden, ist jedoch nicht jede von ihnen Gegenstand eines gesonderten Strafverfahrens, denn sie führen alle zusammen zu einem einheitlichen Verfahren gegen den Betroffenen. Daher erscheint eine nationale Maßnahme wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, die die Zahlung solcher Beträge bei Meidung der Einbehaltung der Fahrzeuge gebietsfremder Betroffener verlangt, als übermäßig.» (Seite 101)
Court of Appeal, London, wertet Radio-Reklame für Amnesty International als unzulässige politische Werbung
Zur Begründung des Urteils führt der Präsident des Gerichts u.a. aus, Amnesty International habe eingewendet, daß ein Zweck dann nicht politischer Natur sei, wenn das, was die Organisation propagiere, die Beachtung der Menschenrechte sei; denn diese würden vom Völkerrecht als grundlegend angesehen und von Art. 55 der Charta der Vereinten Nationen anerkannt. Die Einhaltung der Menschenrechte zu fördern, hieße also lediglich, die Beachtung des Rechts zu fördern, auch wenn dies Änderungen der Gesetzgebung oder der Politik der Regierungen erfordere.
Die Schwierigkeit mit dieser Argumentation bestehe darin, daß sie die Tatsache unberücksichtigt lasse, daß – bedauerlicherweise – die Gesetze und Praktiken vieler Länder nicht den Anforderungen genügten, die die UN-Charta an sie stelle. Eine Kampagne für die Änderung dieser Gesetze und Praktiken mit dem Ziel, sie in Übereinstimmung mit der Charta zu bringen, sei deshalb politischer Natur, auch wenn sie durchaus lobenswert sei. (Seite 106)
VfGH, Wien, erklärt Ausweisung trotz dem Bf. gewährter aufschiebender Wirkung der Beschwerde gegen ablehnenden Asylbescheid für verfassungswidrig
«Mit der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung durch den Verfassungsgerichtshof im Asylverfahren wurde der Eintritt der Rechtswirkung des [negativen] Asylbescheides hinausgeschoben und vermag dieser Bescheid vorläufig keine Rechtswirkungen zu entfalten. Aufgrund der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung hatten bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichthofes über die Beschwerde im Asylverfahren alle Maßnahmen, die sonst aufgrund des Bescheides über den Asylantrag zulässig wären, zu unterbleiben. Die Gewährung der aufschiebenden Wirkung verlängert sohin den Bestand der vorläufigen Aufenthaltsberechtigung über die Rechtskraft des negativen Berufungsbescheides des Bundesministers für Inneres im Asylverfahren hinaus bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes über die Beschwerde im Asylverfahren. (…)
In Verkennung der Rechtslage hat die belangte Behörde einen gravierenden, in die Verfassungssphäre reichenden Fehler begangen. Der Beschwerdeführer wurde daher durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.» (Seite 107)
VfGH wertet absolute Höchstzahlfestlegung für die Erteilung von Beschäftigungsbewilligungen für Ausländer als Verletzung der Privatautonomie
«Zwar ist die Festlegung von Kontingenten und Höchstzahlen im Ausländerbeschäftigungsrecht an sich unbedenklich, doch wird eine derartige Regelung dann unverhältnismäßig und unsachlich, wenn eine Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung zugunsten von aufenthaltsberechtigten Ausländern bei Erreichen einer bestimmten absoluten und nicht weiter differenzierenden Höchstzahl ausnahmslos unmöglich ist und im Gesetz auch keine Vorkehrungen getroffen sind, die es der Behörde ermöglichen, innerhalb der Höchstzahl oder bei deren Überschreitung etwa nach der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Bedeutung der beantragten Bewilligungen zu differenzieren, sodaß die Erteilung beispielsweise auch dann nicht zulässig ist, wenn die Beschäftigung im öffentlichen oder gesamtwirtschaftlichen Interesse geradezu erforderlich erscheint. Die als absolute Sperre wirkende Bestimmung des § 4 Abs. 7 AuslBG idF BGBl. 450/1990, die in dieser Fassung bis zum Inkrafttreten der Novelle BGBl. 257/1995 galt, war angesichts dessen aus den im Prüfungsbeschluß dargelegten Gründen verfassungswidrig.» (Seite 111)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, präzisiert durch Plenarbeschluß Anforderungen an abstrakt-generelle Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG innerhalb eines mit Berufsrichtern überbesetzten Spruchkörpers
«Nach Auffassung des Plenums des Bundesverfassungsgerichts ist es im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundsätzlich geboten, für mit Berufsrichtern überbesetzte Spruchkörper eines Gerichts im voraus nach abstrakten Merkmalen zu bestimmen, welche Richter an den jeweiligen Verfahren mitzuwirken haben. Aus dieser Vorausbestimmung muß für den Regelfall die Besetzung des zuständigen Spruchkörpers bei den einzelnen Verfahren ableitbar sein. (…)
Es gehört zum Begriff des gesetzlichen Richters, daß nicht für bestimmte Einzelfälle bestimmte Richter ausgesucht werden, sondern daß die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt. Der rechtsstaatliche Grundsatz vom gesetzlichen Richter untersagt mithin die Auswahl des zur Mitwirkung berufenen Richters von Fall zu Fall im Gegensatz zu einer normativen, abstrakt-generellen Vorherbestimmung. (…)
Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt dagegen nicht schon dann vor, wenn zur Bestimmung des gesetzlichen Richters auslegungsbedürftige Begriffe verwendet werden. Auslegungszweifel in bezug auf die zur Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters verwendeten Kriterien sind deshalb unschädlich. Sie eröffnen nicht den Weg zu einer Besetzung der Richterbank von Fall zu Fall, sondern zu einem rechtlich geregelten Verfahren, das der Klärung der Zweifel dient: Jeder Spruchkörper hat bei auftretenden Bedenken die Ordnungsmäßigkeit seiner Besetzung zu prüfen und darüber zu entscheiden. Die in diesem Verfahren getroffene Entscheidung muß als Auslegung und Anwendung verfahrensrechtlicher Normen vom Bundesverfassungsgericht im allgemeinen hingenommen werden, sofern sie nicht willkürlich ist. (…)
Der Geschäftsverteilungsplan, der die Verfahren und die zu ihrer Erledigung erforderlichen Richter den einzelnen Spruchkörpern zuweist, und der Mitwirkungsplan, der im überbesetzten Spruchkörper die Heranziehung der einzelnen Richter zu den Verfahren regelt, bestimmen erst in ihrem Zusammenspiel den gesetzlichen Richter. Es ist folgerichtig, auch den Mitwirkungsplan als eine dieser Teilregelungen den Bindungen des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu unterwerfen. (…)
Mit dieser Entscheidung wird die Auslegung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verdeutlicht und fortgebildet. Es besteht deshalb Anlaß, die bisherigen Mitwirkungsregeln in überbesetzten Spruchkörpern noch für eine Übergangszeit hinzunehmen, um den Fachgerichten Gelegenheit zu geben, sich auf die nunmehr geklärte verfassungsrechtliche Lage einzustellen. (…) Die Fachgerichte haben die Pflicht, die Einhaltung der nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gebotenen Anforderungen spätestens ab dem 1. Juli 1997 für die ab diesem Zeitpunkt anhängig werdenden Verfahren sicherzustellen.» (Seite 114)
BVerfG bekräftigt Subsidiarität der Bundes-Verfassungsbeschwerde gegenüber fachgerichtlichem vorläufigem Rechtsschutz auch bei negativen landesverfassungsgerichtlichen Eilentscheidungen
Im Ausgangsverfahren klagt die Medienanstalt Berlin-Brandenburg gegen die Bayerische Landeszentrale für neue Medien wegen der Zulassung des privaten „Deutschen Sportfernsehens“, die sie für rechtswidrig erachtet.
Das BVerfG hält den Rechtsweg für nicht erschöpft: «Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinn hinaus auch alle sonstigen prozessualen Möglichkeiten ergreift, die eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzungen versprechen… Zwar ist gegen die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs kein Rechtsweg eröffnet. Auch kann die Beschwerdeführerin nicht auf den – noch nicht abgeschlossenen – Rechtsweg der verwaltungsgerichtlichen Hauptsache verwiesen werden, weil sich dort die Grundrechtsverletzungen, die die Beschwerdeführerin gerade in der Verhinderung von Eilrechtsschutz durch den Bayerischen Verfassungsgerichtshof erblickt, nicht beheben lassen. Die Beschwerdeführerin hat aber die Möglichkeit, Eilrechtsschutz beim Bundesverwaltungsgericht zu erlangen, bei dem sich die Hauptsache derzeit befindet. Die angegriffene Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, die sich ausschließlich auf die Bayerische Verfassung stützen kann, steht dem nicht entgegen. Sie würde sich durch eine antragsgemäße Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts erledigen.» (Seite 118)
Vor dem Bundesverwaltungsgericht hat die Bf. in der Hauptsache obsiegt. Sobald die schriftliche Begründung des Urteils vom 19. März 1997 vorliegt, wird die EuGRZ darüber berichten [s.u. EuGRZ 1997, 596].
BVerfG bestätigt Pflicht zur Aufzeichnung und Vorlage von Sendemitschnitten an Landesmedienanstalt zu Zwecken der Rundfunkaufsicht über Privatsender
«Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt die Rundfunkfreiheit als dienende Freiheit eine positive Ordnung, welche sicherstellt, daß der Rundfunk die ihm zukommende Aufgabe für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung erfüllt. Das gilt auch für den lokalen Rundfunk. Zu den danach gebotenen gesetzlichen Regelungen privaten Rundfunks zählt die Normierung einer begrenzten Aufsicht, die die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen gewährleistet. Wegen der großen Breitenwirkung des Rundfunks sowie der Flüchtigkeit des Mediums, die ihn von der Presse unterscheidet und eine nachträgliche Kontrolle erheblich erschwert, kann die Normierung sich auch auf die Sicherung des Sendematerials erstrecken.»
Konkret geht es um die Frage, ob und ggf. wann das Freiburger „Radio Dreyeckland“ zur Teilnahme an einer, von einem bestimmten Zeitpunkt an verbotenen, Kurden-Demonstration aufgerufen hat. (Seite 121)
BVerfG veröffentlicht Übersicht über die Verfahren, in denen es 1997 zu entscheiden anstrebt. (Seite 130)