EuGRZ 2002 |
30. April 2002
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29. Jg. Heft 5-8
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Informatorische Zusammenfassung
Bardo Fassbender, Berlin, untersucht „Gleichheitssatz und Restitutionsgesetzgebung“ in der Rechtsprechung des UN-Ausschusses für Menschenrechte
«Die im Fall Des Fours Walderode bekräftigte Ansicht des Ausschusses, es sei mit dem Gleichheitssatz des Art. 26 des Paktes unvereinbar, Restitutionsgesetze zu erlassen, die eine Opfergruppe wegen eines in dem Artikel ausdrücklich genannten Grundes gegenüber anderen Opfern benachteiligen, verdient unbedingte Zustimmung. (…)
Der Ausschuss hat es bisher vermieden, die Ausbürgerungen und Enteignungen der Sudetendeutschen und der Ungarn an Art. 26 des Paktes zu messen. (…)
Angesichts der verfestigten Haltung der Tschechischen Republik in der Frage der Beneš-Dekrete des Jahres 1945 und der Gültigkeit ihrer Wirkungen in der heutigen tschechischen Rechtsordnung entspräche es nicht der Schutzintention des Paktes, den Vertragsstaat für seine Restitutionsgesetzgebung zu einer Alles-oder-Nichts-Politik zu verpflichten, also auf der Linie der Zwaan-de Vries-Rechtsprechung zu sagen, er sei zwar frei zu entscheiden, ob er überhaupt ein Restitutionsgesetz erlassen wolle; wenn er dies aber tue, müsse er alle in einer vergleichbaren Lage befindlichen Enteignungsopfer gleich behandeln. Denn eine solche Vorgehensweise würde womöglich dazu führen, dass der Staat ganz auf seine Restitutionsgesetzgebung verzichtet. Demgegenüber erscheint es richtiger, sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu fragen, welcher Zustand vergleichsweise „näher beim Pakt steht“. (…) Man folgte einem menschenrechtlichen Rigorismus, wollte man eine in einem Vertragsstaat politisch konsensfähige Wiedergutmachung bestimmter Menschenrechtsverletzungen deshalb ablehnen, weil das eigentlich Gebotene (nämlich die gleiche Entschädigung aller Opfer gleicher Verletzungen) nicht erreichbar ist.» (Seite 101)
Entscheidung des UN-AMR im Fall Des Fours Walderode gegen Tschechische Republik, EuGRZ 2002, 127 ff.
Anne Lenze, Bensheim, argumentiert zum Problem „Europäische Niederlassungsfreiheit und Prostitution“ gegen das Urteil des EuGH in der Rs. Jany u. a. (EuGRZ 2001, 621)
«Da der EuGH die Prostitution jeder inhaltlichen Konnotation entkleidet, indem die Prostituierte als „der Leistungserbringer“ und der Kauf von Sexualität als „gegen Entgelt erbrachte Dienstleistung“ definiert wird, bleibt kein Raum mehr für die Mitgliedstaaten, ihrer weiteren Verbreitung Einhalt zu gebieten. Ganz im Gegenteil. (…)
Der Versuch, die Prostitution zu legalisieren, war nicht von der Absicht getragen, diese Tätigkeit als normalen oder erstrebenswerten Beruf für Frauen zu etablieren, sondern um die negativen Begleiterscheinungen einzudämmen, die mit der in der Illegalität ausgeübten Prostitution verbunden sind, wie z. B. Drogenmissbrauch, Beschaffungskriminalität, die Verbreitung von Aids und die Abhängigkeit der Frauen von gewalttätigen Zuhältern.» (Seite 106)
Franz C. Mayer, Berlin, setzt „Nationale Regierungsstrukturen und europäische Integration“ zueinander in Beziehung
Der Autor konkretisiert und bewertet verfassungsrechtliche Vorgaben für den institutionellen Rahmen der Europapolitik auf nationaler und auf europäischer Ebene. In einer detaillierten Beschreibung Brüsseler Entscheidungsabläufe stellt Mayer u. a. fest, es sei offenkundig, «dass die Ratsarbeit überaus stark von den nationalen Verwaltungen bestimmt wird, weniger von den politischen Akteuren. (…) Die Vielzahl an handelnden Personen auf politischer und vor allem auf administrativer Ebene macht es nahezu unmöglich, einen konkreten europapolitischen Vorgang eindeutig im Sinne politischer Verantwortlichkeit persönlich zuzurechnen.»
Mayer vergleicht die politische Praxis in Deutschland und Frankreich, prüft den „Europaminister als Lösung?“, fordert für den Rat eine Rechtskontrolle durch den EuGH und empfiehlt, die derzeit 22 unterschiedlichen Ratsformationen auf einen einzigen Rat zurückzuführen (Art. 202 EGV). Dieser solle öffentlich tagen und koordinieren, während die Fachministerräte in Ausschüsse des Rates mit flexibler Öffentlichkeitsregelung umzuwandeln wären. (Seite 111)
Hans-Georg Franzke, Münster, bespricht das Chirac-Urteil des Kassationshofs (EuGRZ 2002, 184) zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des französischen Staatspräsidenten
«Der Kassationshof hat eine weise Entscheidung getroffen. Einerseits bleibt wegen der Verjährungshemmung der Präsident, wenn er denn Delikte des gemeinen Rechts begangen hat, letztlich nicht straffrei; andererseits wird seine Amtsausübung durch strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen nicht behindert.» (Seite 124)
UN-Ausschuss für Menschenrechte (UN-AMR), Genf/New York, erklärt die erneute Enteignung eines auf Grund des zwölften Beneš-Dekrets 1945 enteigneten und nach der Wende rückerstatteten Grundbesitzes für diskriminierend / Des Fours Walderode gegen Tschechien
Der Ausschuss erinnert an frühere Entscheidungen, «wonach ein gesetzliches Erfordernis einer Staatsangehörigkeit als notwendige Bedingung für die Rückerstattung früher behördlich enteigneten Vermögens eine willkürliche und damit diskriminierende Unterscheidung zwischen Individuen darstellt, die gleichermaßen Opfer früherer staatlicher Enteignungsmaßnahmen sind, und eine Verletzung von Art. 26 des Paktes. Diese Verletzung wird durch die rückwirkende Anwendung des Gesetzes weiter verschlimmert.»
Der UN-AMR hält fest, dass die tschechische Regierung nach Übermittlung der Zulässigkeitsentscheidung den Ausschuss – entgegen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung – boykottiert hat, und dass sie zu unverzüglicher Rückerstattung sowie außerdem zu einer angemessenen Entschädigung für entgangene Nutzung seit 1995 verpflichtet ist. (Seite 127)
Cf. Bardo Fassbender, Gleichheitssatz und Restitutionsgesetzgebung, EuGRZ 2002, 101 ff. (in diesem Heft).
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt Beschwerde des früheren jugoslawischen Präsidenten Milošević gegen die Niederlande wegen Inhaftierung beim Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien für unzulässig
Nachdem Milošević in einem summarischen Zivilverfahren vor dem Präsidenten des Landgerichts Den Haag mit seinem Antrag unterlegen war, den niederländischen Staat u. a. zu verpflichten, ihn freizulassen oder nach Jugoslawien zurück zu überstellen, hatte er zunächst Rechtsmittel beim Berufungsgericht eingelegt, dieses dann zurückgenommen und sich so der Möglichkeit begeben, ein auf Rechtsfragen beschränktes weiteres Rechtsmittel zum Obersten Gerichtshof (Hoge Raad) einzulegen. Der EGMR erklärte die Menschenrechtsbeschwerde wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges für unzulässig. (Seite 131)
EGMR erklärt Menschenrechtsbeschwerde wegen Zerstörung der Schaltzentrale des serbischen Fernsehens mit 16 Toten und 16 Schwerverletzten bei den Nato-Luftangriffen 1999 zur Rettung der Kosovo-Albaner für unzulässig / Banković u. a. gegen 17 Nato-Staaten
Die Regierungen der Nato-Staaten, die zugleich Vertragsstaaten der EMRK sind, bestreiten, für den Tod der Angehörigen der Bf. bzw. für die Verletzungen des weiteren Bf. i.S.v. Art. 1 der Konvention verantwortlich zu sein.
Andernfalls ergäben sich gravierende Folgen für gemeinsame internationale Militäraktionen, da der Gerichtshof für zuständig erklärt würde, die Teilnahme von Vertragsparteien der EMRK weltweit in Situationen zu kontrollieren, in denen es diesen Staaten unmöglich wäre, gegenüber den Bewohnern der jeweiligen Gebiete irgendein in der Konvention anerkanntes Recht zuzusichern, selbst in Situationen, in denen eine Vertragspartei sich nicht aktiv an der betreffenden Aktion beteiligen würde. Nach Ansicht der Regierungen würde die sich daraus ergebende Gefahr einer Verletzung der Konvention die Teilnahme von Staaten an solchen Missionen in erheblichem Maße untergraben und jedenfalls in Außerkraftsetzungserklärungen nach Art. 15 der Konvention münden, die für die Staaten einen weitaus größeren Schutzcharakter hätten.
Zusammenfassend tragen die Regierungen vor, dass die Bf. und ihre verstorbenen Angehörigen der Herrschaftsgewalt der beklagten Staaten nicht unterstanden hätten und dass demnach ihre Beschwerde ratione personae mit den Konventionsbestimmungen unvereinbar sei.
Der EGMR stellt fest: «Die Konvention ist nicht dafür gedacht, weltweit Anwendung zu finden, auch nicht in Bezug auf das Verhalten von Vertragsstaaten. (…) Der Gerichtshof ist nicht davon überzeugt, dass es ein rechtliches Band zwischen den Personen, die Opfer der beanstandeten Handlung sind, und den beklagten Staaten gibt. Demnach ist nicht nachgewiesen, dass die Bf. und ihre nahen Verwandten der Herrschaftsgewalt der beklagten Staaten in Anbetracht der in Rede stehenden extraterritorialen Handlung haben unterliegen können. (…) Zusammenfassend folgert der Gerichtshof, dass die gerügte Handlung der beklagten Staaten ihre Verantwortung nach der Konvention nicht begründet.» (Seite 133)
EGMR sieht Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen im ehem. Jugoslawien als EMRK-konform / Naletilić gegen Kroatien
Der Bf. wendet sich gegen die, vom Obersten Gerichtshof sowie vom Verfassungsgerichtshof bestätigte, Entscheidung der kroatischen Regierung, ihn nach Den Haag zu überstellen. Der EGMR verwirft die Beschwerde als offensichtlich unbegründet und deshalb unzulässig: «Hier geht es um die Überstellung an einen internationalen Gerichtshof, der in Anbetracht seines Statuts und seiner Verfahrensordnung alle notwendigen Garantien einschließlich jener der Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bietet.» (Seite 143)
EGMR bestätigt Bundesverfassungsgericht als unbedingten Teil des zu erschöpfenden innerstaatlichen Rechtswegs / Allaoui ./. Deutschland
Die Bf., ein libanesisches Ehepaar und ihre sieben Kinder, wehren sich gegen ihre Abschiebung in den Libanon. Das BVerfG hatten sie wegen – nach eigener Einschätzung – mangelnder Erfolgsaussichten nicht angerufen. Der EGMR stellt fest, «dass das Recht auf politisches Asyl weder in der Konvention noch in ihren Zusatzprotokollen enthalten ist», und bemerkt, «dass das Vorhandensein von Zweifeln an den Erfolgsaussichten eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs den Bf. nicht von der Verpflichtung befreit, diesen auszuschöpfen.» (Seite 144)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, wertet überhöhte Bußgeldbemessung für ausländische EU-Bürger in Italien bei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr als diskriminierend / Kommission ./. Italien
Hierdurch hat Italien gegen Art. 6 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Art. 12 EG) verstoßen. (Seite 146)
EuGH verurteilt Italien wegen Behinderung ausländischer EU-Bürger bei der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs
Gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen (1.) das Verbot für einen Anwalt, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, in Italien eine Kanzlei bzw. einen Haupt- oder Nebensitz zu gründen, (2.) die gesetzliche Wohnsitzverpflichtung, auch wenn diese in der Verwaltungspraxis nicht angewandt wird, und (3.) das Fehlen einer Durchführungsregelung für die Modalitäten der vorgeschriebenen besonderen Eignungsprüfung. (Seite 149)
EuGH qualifiziert entgangene Urlaubsfreude als immateriellen Schaden / Rs. Leitner
Die Klägerin des Ausgangsverfahrens war in einem Ferienclub an einer Salmonellenvergiftung erkrankt. (Seite 154)
EuGH sieht im Erfordernis der „vorherigen Genehmigung“ des Erwerbs von Baugrundstücken im österreichischen Bundesland Salzburg eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit / Rs. Reisch
Dagegen ist die Pflicht zur vorherigen Anzeige des Erwerbs, wie sie das GrundverkehrsG 1997 vorsieht, vertragskonform. (Seite 156)
Gericht erster Instanz der EG (EuG), Luxemburg, weist Klage von 71 EP-Abgeordneten gegen den Parlamentsbeschluss über Untersuchungsbefugnisse des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) als unzulässig ab / Rs. Rothley u. a.
Die Kläger sind nicht individuell betroffen. Ob sie unmittelbar betroffen sind, wird deshalb nicht mehr untersucht. (Seite 159)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, stellt erwiesene Haltlosigkeit der Vorwürfe des Landeshauptmanns von Kärnten Jörg Haider gegen VfGH-Präsident Ludwig Adamovich fest
Generalprokurator und VfGH sehen nach Prüfung der Fakten keinen Anlass für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens. Adamovich hatte Haider nachhaltig widersprochen und das Verfahren zur Klärung selbst beantragt. In dem Adamovich-Beschluss heißt es: «Die Vorwürfe des Landeshauptmanns sind sohin zu einem Teil durch Urkunden widerlegt, zum anderen Teil hat der Landeshauptmann aber Schlüsse aus den von ihm vorgelegten Urkunden gezogen, die durch deren Inhalt nicht gedeckt sind.» (Seite 168)
Zu Haiders hemmungsloser Taktik des Ehrabschneidens cf. EuGRZ 2000, 390 m.w.N. [398] und den Pelinka-Freispruch, EuGRZ 2001, 246.
VfGH hebt Bindung zweisprachiger Hinweiszeichen (Ortstafeln) an das Vorliegen eines Volksgruppenanteils von 25 % auf
Ein Angehöriger der slowenischen Minderheit hatte in einem Verwaltungsstrafverfahren wegen überhöhter Geschwindigkeit im Dorf St. Kanzian gerügt, die Ortsschilder seien nicht zweisprachig (Deutsch und Slowenisch) abgefasst. (Seite168)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt Anspruch des volljährigen Adoptivkindes, die leiblichen Eltern zu kennen
Staatsrechtliche Beschwerde der auf Anonymität bestehenden leiblichen Mutter wird als unbegründet abgewiesen. (Seite 179)
Kassationshof, Paris, bestätigt die strafrechtliche Immunität des Staatspräsidenten / Chirac-Urteil
Zugleich wird die Immunität auf die Dauer der Amtszeit begrenzt. Die Verjährung wird so lange gehemmt. (Seite 184)
Cf. die Anm. von Franzke, EuGRZ 2002, 124 ff. (in diesem Heft).
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, stärkt Minderheitenrechte im Parlament / Organklage der CDU/CSU wegen Parteispenden-Untersuchungsausschuss teilweise erfolgreich
«Die Minderheit darf nicht in die Lage versetzt werden, dass die von ihr für wesentlich gehaltenen Beweise so lange dilatorisch behandelt werden, bis unter Zeitdruck die Beweisaufnahme beendet wird.» (Seite 185)
BVerfG gibt Verfassungsbeschwerden wegen Unterbringung von zwei Gefangenen in einer Einzelzelle von ca. 8 qm statt
Im ersten Fall dauerte die menschenunwürdige Unterbringung vier Tage, im zweiten drei Monate. In beiden Fällen war kein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz gegeben. (Seiten 196, 198)
BVerfG weist Vorlage des LG Potsdam gegen die allgemeine Wehrpflicht als unzulässig ab
Im Beschluss des Zweiten Senats verweist das BVerfG auf frühere Entscheidungen, in denen die Verfassungsmäßigkeit bestätigt wurde, und stellt fest, dass es vor allem um eine «komplexe politische Entscheidung» geht:
«Die Fragen beispielsweise nach Art und Umfang der militärischen Risikovorsorge, der demokratischen Kontrolle, der Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses sowie nach den Kosten einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee sind solche der politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die sich nicht auf eine verfassungsrechtliche Frage reduzieren lassen.» (Seite 200)
Eine ähnliche Vorlage des AG Düsseldorf wird durch Kammer-Beschluss für unzulässig erklärt. (Seite 204)
EuGH-Präsident Rodríguez Iglesias befürwortet Beitritt der EG zur EMRK, bewertet die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von EuGH sowie EGMR mit den nationalen Gerichten als existenziell und sieht in der Grundrechte-Charta der EU keine Konkurrenz zur EMRK, sondern eine gegenseitige Bereicherung. (Seite 206)
BVerfG – Übersicht 2002, Fortsetzung und Schluss. (Seite 207)