EuGRZ 2008 |
30. April 2008
|
35. Jg. Heft 6-9
|
Informatorische Zusammenfassung
Jochen Abr. Frowein, Heidelberg, betont den elementaren Grundsatz, dass Meinungsfreiheit und Demokratie sich gegenseitig bedingen
Der Autor hält sich nicht mit der hinreichend bekannten Tatsache auf, dass „nicht demokratisch legitimierte Herrschaftssysteme Kritik durch unterschiedliche Methoden zu unterdrücken versuchen“, sondern stellt „die funktionale Bedeutung der Meinungs- und besonders der Presse- und Medienfreiheit für die Demokratie“ in den Mittelpunkt seiner Darlegungen.
Zunächst geht der Beitrag auf drei krisenhafte Entwicklungen in den USA ein, in denen Meinungs- und Pressefreiheit eine zentrale Rolle spielten: Bürgerrechtsbewegung, Watergate-Skandal und Proteste gegen die Politik der Regierung im Vietnamkrieg:
«Wenn man sich klarmacht, dass die New York Times von den Gerichten des Staates Alabama wegen einer Beleidigung von Beamten der Stadt Montgomery zu Schadensersatz in Höhe von $ 500.000 verurteilt worden war, weil sie eine Anzeige veröffentlicht hatte, wonach diese Beamten eine Welle des Schreckens („Wave of Terror“) gegen Schwarze erzeugten, so wird deutlich, was die Aufhebung dieses Urteils durch den Supreme Court bedeutete. In der berühmten Entscheidung New York Times v. Sullivan (1974) wurde die Bedeutung der Pressefreiheit in der politischen Auseinandersetzung um die Rassenintegration besonders klar.»
Es folgt eine Würdigung der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court, des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts zur Einschüchterungswirkung („chilling effect“), in der die Gefahren für die Substanz der Meinungsfreiheit erkannt wurden: «Gefahren für die Demokratie tauchen vor allem dann auf, wenn Politiker in organisierter Form versuchen, Kritik durch Beleidigungsverfahren auszuschalten oder zu erschweren.»
Der Autor kommentiert ferner eine Reihe österreichischer Verfahren, u.a. Haider gegen Pelinka, Kreisky gegen Lingens sowie den Fall Kobenter.
Weiter geht es um den Schutz der Privatsphäre (Stichwort: Caroline von Hannover gegen Deutschland) und die vom EGMR als zulässig angesehene Veröffentlichung des Fotos eines unter dem Verdacht massiver Steuerhinterziehung stehenden Waffenproduzenten in einer österreichischen Publikation (Stichwort: Macht und Anonymität).
Frowein erinnert abschließend daran (der Aufsatz basiert auf einem Vortrag in Salzburg), wie wichtig es wäre, wenn in Österreich die Grundrechtsprüfung bei Medienentscheidungen stärker betont werden könnte: «Eine Verfassungsbeschwerde an den Verfassungsgerichtshof wäre nach meiner Auffassung die beste Lösung. Aber auch ein besonderes Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof wäre sicherlich ein Fortschritt gegenüber der bisherigen Lage.» (Seite 117)
Marten Breuer, Potsdam, kommentiert das „Recht auf Individualbeschwerde zum EGMR im Spannungsfeld zwischen Subsidiarität und Einzelfallgerechtigkeit“
Der Fortgang des ersten Pilotverfahrens (Broniowski gegen Polen) und die Parallelsachen Wolkenberg und Witkowska-Tobola werden untersucht, das Piloturteilsverfahren allgemein als ein Beispiel inzidenter Normenkontrolle eingeordnet, das neubestimmte Verhältnis des EGMR zum Ministerkomitee des Europarates bei der Überwachung der Urteilsumsetzung bewertet und die Effektivität innerstaatlicher Rechtsbehelfe geprüft.
Breuer bejaht (aus der Sicht des EGMR) die Frage, ob das Piloturteilsverfahren seine Bewährungsprobe bestanden hat: «Es ist dem Gerichtshof gelungen, durch ein einziges Musterverfahren im Fall Broniowski eine Vielzahl gleich gelagerter Beschwerden zu erledigen und einer ungleich größeren Zahl potentieller Beschwerdeführer den Gang nach Straßburg zu ersparen. (…)
Gleichwohl muss bei künftigen Pilotverfahren darauf geachtet werden, dass die Anforderungen an die Effektivität des innerstaatlichen Rechtsschutzes nicht zu sehr abgesenkt werden. Denn die pauschale Rückverweisung der Beschwerdeführer auf die nationale Ebene birgt stets die Gefahr eines Verlusts an Einzelfallgerechtigkeit in sich, die nur durch ein hinreichend effektives innerstaatliches Verfahren wieder ausgeglichen werden kann. (…) Diese Überlegungen machen zugleich deutlich, dass der Verfahrenstypus des Piloturteils wohl nur beschränkt zu einer echten Reduzierung der Verfahrenslast vor dem EGMR, die im vergangenen Jahr die Marke von 100.000 Beschwerden überstiegen hat, wird beitragen können.» (Seite 121)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, anerkennt keine staatliche Pflicht zur vollen Entschädigung für Folgen des Zweiten Weltkriegs und wendet das Piloturteilsverfahren in der Sache Broniowski auf Parallelfälle an / Wolkenberg u.a. gegen Polen
Die Bf. gehören zu den knapp 1,3 Millionen Polen oder deren Nachfahren, die als Folge des Zweiten Weltkriegs zwischen 1944 und 1953 zwangsumgesiedelt wurden und in den von Stalin beanspruchten ehemaligen polnischen Ostprovinzen Grundeigentum zurückgelassen haben. Polen hatte sich in den sog. Republikenverträgen mit den damaligen Sowjetrepubliken Weißrussland, Litauen und der Ukraine verpflichten müssen, die Betroffenen zu entschädigen. Die Einlösung der Entschädigungspflicht wurde jedoch von den polnischen Regierungen gegenüber den betroffenen Bürgern von Anfang an systematisch verschleppt und ausgehöhlt.
Nach dem „Piloturteil“ (angesichts 80.000 potentieller Beschwerden) im Fall Broniowski (EuGRZ 2004, 472) und der anschließenden unter Beteiligung der Kanzlei des EGMR mit der polnischen Regierung ausgehandelten gütlichen Einigung (EuGRZ 2005, 563) wurde unverzüglich ein Gesetz verabschiedet, das bereits am 8. Juli 2005 in Kraft trat und die Entschädigungsansprüche einerseits generell auf 20 % des heutigen Wertes des ursprünglichen Eigentums beschränkte, andererseits jedoch eine zeitnahe effektive Realisierung der Ansprüche vorsah.
Im vorliegenden Fall hatten der erste Bf. umgerechnet ca. 30.500,– Euro und die drei weiteren Bf. als Erben ihres verstorbenen Vaters zusammen ca. 30.400,– Euro für den Verlust von Grundeigentum im heutigen Brest-Litowsk (Weißrussland) erhalten. Vor dem EGMR rügen sie die gesetzliche Beschränkung ihrer Entschädigung auf 20 % des Wertes. Sie werden von einer Interessenvertretung der Anspruchsberechtigten unterstützt. Derzeit sind noch 273 ähnliche Fälle beim Gerichtshof anhängig.
Der EGMR kommt zu dem Schluss, dass das Entschädigungsgesetz vom Juli 2005 trotz der Beschränkung auf 20 % des gegenwärtigen Wertes des ursprünglichen Eigentums, wobei der Endverkaufspreisindex zugrunde gelegt wird, «einen fairen Ausgleich zwischen dem Eigentumsschutz und dem Allgemeininteresse herbeigeführt hat, und zwar auf eine Weise, die den Anforderungen des Art. 1 des 1. ZP-EMRK entspricht».
In Anbetracht der effektiven Funktionsweise des Gesetzes vom Juli 2005 stellt der Gerichtshof (Vierte Sektion) einstimmig fest, dass die Streitigkeit i.S.d. Art. 37 Abs. 1 lit. b der Konvention «einer Lösung zugeführt worden ist», und entscheidet deshalb, die Beschwerde im Register zu streichen. (Seite 126)
Cf. hierzu den Aufsatz von M. Breuer, in diesem Heft S. 121.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, hält sich bei der Auslegung der RL 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr zurück und sieht die Pflicht zur Sicherstellung angemessenen Gleichgewichts zwischen verschiedenen Grundrechten (hier: geistiges Eigentum, Recht auf wirksamen Rechtsbehelf und Datenschutz) bei den Mitgliedstaaten / Rs. Promusicae
Die zivilrechtliche Verfolgung rechtswidrigen Herunterladens von Musikdateien aus dem Internet ist Gegenstand des Ausgangsverfahrens vor dem Handelsgericht Nr. 5 in Madrid. Eine Vereinigung von Musikproduzenten (Promusicae) klagt zur Wahrung der Urheberrechte bzw. des Schutzes geistigen Eigentums gegen eine Telefongesellschaft (Telefónica) auf Offenlegung der Namen und Anschriften von Personen, denen Telefónica einen Internetzugang gewährt und von denen der Klägerin die sog. IP-Adresse sowie Datum und Uhrzeit der Verbindung bekannt sind.
Der EuGH stellt zunächst fest, «dass die Richtlinie 2002/58 [DatenschutzRL für elektronische Kommunikation] nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten ausschließt, eine Pflicht zur Weitergabe personenbezogener Daten im Rahmen eines zivilrechtlichen Verfahrens vorzusehen». Andererseits seien die Staaten jedoch auch nicht gezwungen, eine solche Weitergabepflicht vorzusehen.
Der Gerichtshof kommt dann zu folgendem Ergebnis: «Somit wirft das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Frage auf, wie die Erfordernisse des Schutzes verschiedener Grundrechte, nämlich zum einen des Rechts auf Achtung des Privatlebens und zum anderen des Eigentumsrechts und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, miteinander in Einklang gebracht werden können. (…)
Die Bestimmungen der genannten Richtlinien sind verhältnismäßig allgemein gehalten, da sie auf verschiedene Situationen in allen Mitgliedstaaten Anwendung finden sollen. Sie enthalten daher sinnvollerweise Regelungen, die den Mitgliedstaaten den erforderlichen Beurteilungsspielraum beim Erlass der Umsetzungsmaßnahmen lassen, die an die verschiedenen denkbaren Sachverhalte angepasst werden können. (…)
Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung der genannten Richtlinien darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung derselben stützen, die es ihnen erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Grundrechten sicherzustellen.» (Seite 131)
Zur Kontrolldichte des Grund- und Menschenrechtsschutzes in mehrpoligen Rechtsverhältnissen cf. Papier, Pellonpää, Grabenwarter und Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 481 f., 483 ff., 487 ff. und 492 ff.
EuGH zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen bei der gerichtlichen Nachprüfung von Vergabeentscheidungen öffentlicher Auftraggeber und Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens nach Art. 6 EMRK / Rs. Varec
Die Abwägungspflichten treffen die innerstaatlichen Gerichte. Gestritten wird um einen Auftrag des belgischen Staates zur Lieferung von Ersatzteilen für Leopard-Panzer. Der unterlegene Konkurrent klagt u.a. auf Einsicht in die vom erfolgreichen Bieter eingereichten Unterlagen. (Seite 136)
EuGH verneint begründungsfreies Veto-Recht der nationalen Regierungen gegen Zugang der Öffentlichkeit zu den an EG-/EU-Organe übermittelten Dokumenten / Schweden gegen Kommission
Es geht um die Erweiterung des Airbus-Produktionsgeländes im Hamburger Habitat-Schutzgebiet „Mühlenberger Loch“. Deutschland wehrt sich gegen die Veröffentlichung von Schreiben der Bundesregierung, der Stadt Hamburg und des Bundeskanzlers.
Das Gericht Erster Instanz hatte die Klage des Internationalen Tierschutzfonds (IFAW) auf Einsicht in die strittigen Unterlagen abgewiesen. Das Rechtsmittel zum EuGH hatte die schwedische Regierung eingelegt, die im ersten Rechtszug den Tierschutzfonds unterstützt hatte. Dänemark, die Niederlande, Finnland und der IFAW beantragen, dem Rechtsmittel stattzugeben. Dagegen beantragen Spanien, Großbritannien sowie die Kommission Abweisung der Klage.
In dem stattgebenden Urteil heißt es zur Auslegung von Art. 4 Abs. 5 der VO Nr. 1049/2001: «dass die Ausübung der Befugnis, die diese Bestimmung dem betreffenden Mitgliedstaat einräumt, durch die in Art. 4 Abs. 1 bis 3 aufgezählten materiellen Ausnahmen eingegrenzt wird, so dass der Mitgliedstaat insoweit nur einen Anspruch auf Beteiligung an der Entscheidung der Gemeinschaft hat. So gesehen ist die vorherige Zustimmung des Mitgliedstaats, auf die Abs. 5 Bezug nimmt, nicht mit einem Vetorecht, das nach freiem Ermessen ausgeübt werden kann, sondern mit einer Art von Zustimmung zum Fehlen von Ausnahmegründen gemäß den Abs. 1 bis 3 vergleichbar». (Seite 139)
EuGH bestätigt nationale Letztentscheidungskompetenz zum Jugendschutz (Altersfreigabe) im Versandhandel mit Bildträgern (Video und DVD) / hier: Einfuhr japanischer Comics aus dem Vereinigten Königreich nach Deutschland / Rs. Dynamic Medien
Die erneute Prüfung durch eine nationale Stelle (hier: in Deutschland) trotz Altersfreigabe in einem anderen Mitgliedstaat (hier: GB) ist keine Behinderung des innergemeinschaftlichen Freien Warenverkehrs (Art. 28 EG, RL 2000/31/EG), da die fragliche nationale Regelung dem Schutz des Kindes vor Informationen und Material dient, die sein Wohlergehen beeinträchtigen:
«In dieser Hinsicht ist es nicht unerlässlich, dass die (…) genannten beschränkenden Maßnahmen, die von den Stellen eines Mitgliedstaats zum Schutz der Rechte des Kindes erlassen werden, einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung in Bezug auf das Niveau und die Modalitäten dieses Schutzes entsprechen (…). Da diese Auffassung je nach Erwägungen insbesondere moralischer oder kultureller Art von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sein kann, ist den Mitgliedstaaten ein bestimmtes Ermessen zuzuerkennen.»
(Seite 148)
EuGH sieht in Steuer-Diskriminierung für nebenberufliche Lehrtätigkeit an EU-ausländischer öffentlicher Universität eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit / Rs. Jundt
Ein Rechtsanwalt aus Baden-Württemberg hatte 1991 an der Universität Straßburg einen 16 Stunden umfassenden Lehrauftrag wahrgenommen und dafür umgerechnet 1.612, – DM (824,20 Euro) erhalten. Das Finanzamt Offenburg verweigerte ihm die Steuerbefreiung, die er gem. § 3 Nr. 26 EStG ohne weiteres erhalten hätte, wenn seine nebenamtliche Lehrtätigkeit einer deutschen öffentlich-rechtlichen Universität zugute gekommen wäre.
Der EuGH stellt fest, dass die strittige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit «nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist». (Seite 152)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt Gebot der Trennung Jugendlicher von Erwachsenen in der Untersuchungshaft
In strikter Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Jugendstrafgesetz (JStG), dem eine absolute Bedeutung zukommt, hebt das BGer § 23 Abs. 4 der Jugendstrafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt auf, der in bestimmten, auf praktische Erwägungen gestützten, Ausnahmefällen die gemeinsame Unterbringung Jugendlicher mit Erwachsenen zuließ. (Seite 158)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, beanstandet Nichterteilung der Staatsbürgerschaft an einen Moslem wegen dessen (angeblicher) Weigerung, Frauen die Hand zum Gruß zu reichen, als objektive Willkür
«Die [Kärtner Landesregierung als belangte] Behörde hat sich jedoch, soweit sie auf die behauptete „Missachtung gesellschaftspolitischer Grundprinzipien“ abstellt, mit dem Vorbringen des Erstbeschwerdeführers, wonach er Frauen keineswegs als untergeordnet oder minderwertig ansieht, überhaupt nicht auseinandergesetzt. Zudem übersieht sie, dass die Entscheidung darüber, ob man zum Gruß die Hand reicht, bei einer „Orientierung am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich sowie an den Grundwerten eines europäischen demokratischen Staates und seiner Gesellschaft“ stets dem Einzelnen überlassen bleibt.» (Seite 162)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, stellt dem staatlichen Zugriff der Online-Durchsuchung den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gegenüber und definiert ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
In den Leitsätzen des Ersten Senats heißt es: «Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.
Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen.
Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems ist grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff ermächtigt, muss Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen.»
Andererseits: «Verschafft der Staat sich Kenntnis von Inhalten der Internetkommunikation auf dem dafür technisch vorgesehenen Weg, so liegt darin nur dann ein Eingriff in Art. 10 Abs. 1 GG, wenn die staatliche Stelle nicht durch Kommunikationsbeteiligte zur Kenntnisnahme autorisiert ist. Nimmt der Staat im Internet öffentlich zugängliche Kommunikationsinhalte wahr oder beteiligt er sich an öffentlich zugänglichen Kommunikationsvorgängen, greift er grundsätzlich nicht in Grundrechte ein.»
§ 5 Abs. 2 Nr. 11 Verfassungsschutzgesetz von Nordrhein-Westfalen ist wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nichtig.
(Seite 164)
BVerfG erklärt landesgesetzliche Regelungen zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen ohne konkrete Gefahrenlagen oder allgemein gesteigerte Risiken wegen Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung für nichtig
Die Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats lauten: «Eine automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen zwecks Abgleichs mit dem Fahndungsbestand greift dann, wenn der Abgleich nicht unverzüglich erfolgt und das Kennzeichen nicht ohne weitere Auswertung sofort und spurenlos gelöscht wird, in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) ein.
Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage richten sich nach dem Gewicht der Beeinträchtigung, das insbesondere von der Art der erfassten Informationen, dem Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der Verwertung der Daten beeinflusst wird.
Die bloße Benennung des Zwecks, das Kraftfahrzeugkennzeichen mit einem gesetzlich nicht näher definierten Fahndungsbestand abzugleichen, genügt den Anforderungen an die Normenbestimmtheit nicht.
Die automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen darf nicht anlasslos erfolgen oder flächendeckend durchgeführt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist im Übrigen nicht gewahrt, wenn die gesetzliche Ermächtigung die automatisierte Erfassung und Auswertung von Kraftfahrzeugkennzeichen ermöglicht, ohne dass konkrete Gefahrenlagen oder allgemein gesteigerte Risiken von Rechtsgutgefährdungen oder -verletzungen einen Anlass zur Einrichtung der Kennzeichenerfassung geben. Die stichprobenhafte Durchführung einer solchen Maßnahme kann gegebenenfalls zu Eingriffen von lediglich geringerer Intensität zulässig sein.»
§ 14 Abs. 5 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie § 184 Abs. 5 des Allgemeinen Verwaltungsgesetzes für Schleswig-Holstein verstoßen gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und werden als nichtig aufgehoben. (Seite 186)
BVerfG fällt Leitentscheidung zur verfassungsgerichtlichen Rezeption der relevanten EGMR-Rechtsprechung (u.a. im Fall Caroline von Hannover) für die Abgrenzung des Grundrechts auf Schutz der Persönlichkeit und der Pressefreiheit
Konkret geht es um Abbildungen von Prominenten im Kontext unterhaltender Medienberichte über deren Privat- und Alltagsleben. Die drei gegenläufigen Verfassungsbeschwerden (Caroline von Hannover einerseits und zwei Presseverlage andererseits) richten sich gegen Grundsatzurteile des Bundesgerichtshofs (EuGRZ 2007, 499).
Das BVerfG integriert die relevante Rechtsprechung des EGMR zu Pressefreiheit und Schutz der Privatsphäre mit unbefangener Souveränität in seine verfassungsrechtlichen Erwägungen. Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs findet grundsätzliche Zustimmung.
Lediglich in einer Sachverhaltsvariante weicht die Bewertung des BVerfG von der des BGH ab: In der Vermietung der Ferienvilla in Kenia des Ehepaars von Hannover, die vom BGH als Privatangelegenheit eingestuft wurde (EuGRZ 2007, 503), sieht das BVerfG durchaus ein Thema von öffentlichem Interesse mit Vorrang der Pressefreiheit und verweist den Fall zu erneuter Entscheidung an den BGH zurück.
Der Erste Senat des BVerfG stellt grundsätzlich fest: «Die Grundrechte der Pressefreiheit und des Schutzes der Persönlichkeit sind nicht vorbehaltlos gewährleistet. Die Pressefreiheit findet ihre Schranken nach Art. 5 Abs. 2 GG in den allgemeinen Gesetzen. Zu ihnen zählen unter anderem die §§ 22 ff. KUG, aber auch Art. 8 EMRK.
Die in dem Kunsturhebergesetz [KUG] enthaltenen Regelungen sowie die von Art. 10 EMRK verbürgte Äußerungsfreiheit beschränken zugleich als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG den Persönlichkeitsschutz.
Die Auslegung und Anwendung solcher Schrankenregelungen und ihre abwägende Zuordnung zueinander durch die Fachgerichte hat der interpretationsleitenden Bedeutung der von der Schrankenregelung berührten Grundrechtsposition Rechnung zu tragen sowie die betroffenen Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen.
Das Bundesverfassungsgericht ist auf eine Nachprüfung begrenzt, ob der Einfluss der deutschen Grundrechte, auch unter Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, auf die Auslegung der zivilrechtlichen Normen und auf die Abwägung der kollidierenden Schutzgüter hinreichend beachtet ist. Das ist nicht schon allein deshalb zu verneinen, weil das Ergebnis auch anders hätte ausfallen können.» (Seite 202)
BVerfG zu Rechtsschutzgleichheit und Kriterien für Beweisantizipation bei Entscheidungen über Prozesskostenhilfe
Stattgebende Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats zur Erlangung von Prozesskostenhilfe für Amtshaftungsklage wegen Androhung der Zufügung von Schmerzen durch die Polizei zur Rettung eines vom Bf. entführten Kindes – Fall Gäfgen. (Seite 215)
BVerfG gegen zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht eines, den Umgang mit seinem Kind verweigernden, Elternteils, da dies grundsätzlich nicht dem Kindeswohl dient. Der Erste Senat hebt die Zwangsgeldandrohung (&E; 25.000,–) gegen nichtehelichen Vater auf. (Seite 219)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, stimmt dem EU-Reformvertrag von Lissabon zu und nimmt einen ausführlich bewertenden Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen an – Berichterstatter: die Abgeordneten Corbett und Méndez de Vigo. (Seiten 230, 234)
BVerfG erlässt Einstweilige Anordnung mit vorläufiger Regelung für die Speicherung von Vorratsdaten zur Telekommunikationsüberwachung. (Seite 257)
BVerfG: Übersicht über die im Jahr 2008 zur Entscheidung anstehenden Verfahren. (Seite 265)