EuGRZ 2016
12. Mai 2016
43. Jg. Heft 5-9

Informatorische Zusammenfassung

Eberhard Schmidt-Aßmann, Heidelberg, eröffnet vertiefte Einblicke in „Einheit und Kohärenz der europäischen Mehrebenenrechtsordnung“
«Rechtsordnungen sind keine monolithischen Blöcke. Schon nationale Rechtsordnungen sind es nicht. Noch weniger sind es Mehrebenenrechtsordnungen. Dieser Befund kann freilich nur den Ausgangspunkt für Folgeüberlegungen bilden; denn Divergenzen, Friktionen und Widersprüche stellen für die Wirksamkeit des Rechts eine Belastung dar, der vorgebeugt und die in der praktischen Rechtsanwendung gemildert und ausgeglichen werden muss. Die Rechtsordnungen selbst stellen dazu schon abstrakt bestimmte Mechanismen zur Verfügung. Gerichte und Rechtswissenschaft haben zudem zahlreiche weitere Instrumente, Verfahren und Formeln ausgebildet, die diesen Zielen dienen sollen.»
In den vier Hauptteilen des Aufsatzes behandelt der Autor zunächst die Ordnungsformeln „Einheit“ und „Kohärenz“ in ihrer unterschiedlichen Prägekraft: «Im allgemeinen Sprachgebrauch meintKohärenz Zusammenhang, Stimmigkeit und Zusammenhalt. In rechtlichen Kontexten ist sie eine Argumentationsfigur, die eine enge Verbindung zu den Forderungen nach Vorhersehbarkeit und Wirksamkeit des europäischen Rechts hat. Von ihrer Funktion her steht „Kohärenz“ damit in gewisser Weise in Parallele zur Argumentationsfigur der „Einheit der Rechtsordnung“. Beide wollen den Zusammenhalt zwischen einzelnen Vorschriften, Wertungen oder Schichten von Rechtsordnungen sichern. In der Intensität, die sie von diesem Zusammenhalt fordern, bestehen zwischen beiden aber erhebliche Unterschiede. „Einheit“ indiziert Verschmelzung der einzelnen Elemente. „Kohärenz“ hat dagegen mitdem Zusammenhalt selbständig bleibender Entitäten zu tun.
Damit eignet sich der Begriff der Kohärenz, die Zuordnung von Rechtsschichten und Rechtsinstituten in den europäischen Mehrebenenrechtsordnungen zu steuern, in denen der Überbau auf der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten ruht, wie das für die durch die EU-Verträge bzw. die durch die EMRK gegründeten beiden europäischen Mehrebenenrechtsordnungen gilt.»
Sodann geht es zweitens um die Kohärenzformeln in den EU-Verträgen und drittens um Bausteine einer Kohärenzdogmatik – als Maßstabproblem und als Verfahrensproblem betrachtet. Es folgen viertens Überlegungen zum Vorrang des EU-Rechts und zur Kohärenz vorrangklärender Verfahren.
Als Ergebnis hält Schmidt-Aßmann in seinem Ausblick fest: «Noch weniger als für die „Einheit der Rechtsordnung“ kann gegenwärtig für die „Kohärenz der Rechtsordnungen“ von einer fertigen Dogmatik ausgegangen werden. Es existieren jedoch zahlreiche Rangvorgaben, Kooperationsregeln und Verfahrenselemente, die die Bauformen einer solchen Dogmatik bilden können. Sie müssen systematisch so zueinander in Beziehung gesetzt werden, dass sie der Praxis einen hinreichend verlässlichen Kenntnisstand darüber vermitteln, in welchen Umfang und mit welchen Mitteln der Zusammenhalt der Schichten des europäischen Mehrebenenrechts zu gewährleisten ist. Die Entwicklung einer solchen Dogmatik ist – wie alle Dogmatik – eine Daueraufgabe, die Statik und Flexibilität verbinden muss. Verlangt wird dazu zunächst einmal die sorgfältige Analyse von Detailregelungen, der in ihnen ausgedrückten Wertungen und der mit ihnen gemachten Erfahrungen. Darüber hinaus aber ist als Grundlinie ein Abstandsgebot der Kohärenzstandards zu Einheitsstandards beachtlich: Ein Höchstmaß an Vereinheitlichung, Hierarchisierung und harten Steuerungsmechanismen ist mit Kohärenz gerade nicht gemeint.» (Seite 85)

Kathleen M. Wolter, Berlin, untersucht: „Parteiverbote in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“
«Mit Parteiverboten war der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Vergangenheit immer wieder befasst; erst im Januar dieses Jahres erklärte er das Verbot einer pro-kurdischen Partei durch die Türkei für konventionswidrig. In Deutschland hat jüngst das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verbotsverfahren gegen die NPD das Interesse für die Rechtsprechung des EGMR zur Konventionsmäßigkeit von Parteiverboten geweckt, wobei die mediale Darstellung teilweise stark im Ungefähren blieb. Der vorliegende Beitrag soll durch eine ausführliche Analyse der Straßburger Rechtsprechung dazu beitragen, Klarheit über die – für eine in einem demokratischen Rechtsstaat so elementare Frage eines Parteiverbots – aufgestellten Maßstäbe herzustellen.»
Die Autorin analysiert detailliert die gesamte Straßburger Rechtsprechung zu Parteiverboten, die abgesehen von der Türkei folgende weitere Staaten betrafen: Deutschland (KPD-Verbot), Bulgarien, Spanien und Russland.
Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Straßburger Rechtsprechung fasst Wolter folgendermaßen zusammen: «Entgegen einer ganz frühen EKMR-Entscheidung [KPD-Verbot] werden Parteiverbote heute nicht mehr bloß summarisch am Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK gemessen, sondern unterliegen einer äußerst strikten Kontrolle durch den Gerichtshof in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Diese Kontrolle vollzieht sich im Wesentlichen am Maßstab der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK. Der neuralgische Punkt bei der Rechtfertigung des massiven Eingriffs in die Vereinigungsfreiheit durch ein Parteiverbot ist regelmäßig die Frage, ob das Verbot bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist.
Das dafür unter anderem erforderliche „drängende gesellschaftliche Bedürfnis“ kann nur in zwei Fällen gegeben sein: erstens, wenn die vonder Partei verfolgten politischen Ziele nicht mit den fundamentalen Grundsätzen der Demokratie und des Menschenrechtsschutzes vereinbar sind; und zweitens, wenn die Mittel, mit denen die Partei ihre Ziele verfolgt, nicht rechtmäßig und demokratisch sind.
Darüber hinaus muss von der verbotenen Partei eine – je nach den Umständen des Einzelfalls – hinreichend konkretisierte Gefahr für die Demokratie ausgehen. Dabei ist die Rechtsprechung des EGMR dahingehend zu interpretieren, dass ein Parteiverbot bei der Nutzung konventionswidriger Mittel, insbesondere der Befürwortung und Anwendung von Gewalt, leichter und früher gerechtfertigt werden kann, als wenn die Partei „lediglich“ konventionswidrige Ziele verfolgt. In letzterem Fall kommt ein Verbot wohl nur in Betracht, wenn eine gewisse Chance besteht, dass die Partei diese Ziele auch verwirklichen kann. (…)
Abstrakte Aussagen über die Erfolgsaussichten einzelner Parteiverbote lassen sich aber nicht treffen, weil der Gerichtshof neben dem Einzelfall der verbotenen Partei auch bestimmte politische und historische Rahmenbedingungen im betreffenden Konventionsstaat in seine Gesamtwürdigung mit einfließen lässt. Hier kommt es entscheidend auf die Qualität der Darlegung durch den eine Partei verbietenden Vertragsstaat an, dass für das Verbot ein „drängendes gesellschaftliches Bedürfnis“ gegeben ist.» (Seite 92)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet die mehr als vier Jahre andauernde Inhaftierung in jeweils überbelegten Gefängniszellen als Menschenwürde verletzende Erniedrigung und stellt Verletzung von Art. 3 EMRK fest / Burlacu gegen Rumänien
«Der Gerichtshof erinnert daran, dass Art. 3 der Konvention dem Staat die Verpflichtung auferlegt, dafür zu sorgen, dass die Haftbedingungen für jeden Gefangenen die Menschenwürde beachten, dass die Vollzugsbedingungen den Betroffenen weder Verzweiflung noch Belastungen von einer Intensität aussetzen, die das unvermeidliche Leidensniveau überschreiten, das der Haft inhärent ist, und dass unter Berücksichtigung der praktischen Erfordernissen der Haft die Gesundheit und das Wohlergehen des Gefangenen auf adäquate Weise sichergestellt werden müssen (…).
Soweit es um die Haftbedingungen geht, ist es angebracht, ihre kumulativen Wirkungen zu berücksichtigen, ebenso wie die spezifischen Rügen des Bf. (…) Insbesondere stellt die Haftdauer des Einzelnen unter Fortdauer der gerügten Bedingungen einen wesentlichen Faktor dar (…).
Der Gerichtshof stellt fest, dass, selbst wenn er sich auf die von der Regierung gegebenen Informationen stützt, der Platz, der jedem Gefangenen – darunter dem Bf. – zur Verfügung stand, unterhalb der empfohlenen Norm von 4 m2 lag, wie er den rumänischen Behörden im Bericht des CPT [Komitee gegen die Folter des Europarates] empfohlen wurde (…). Darüber hinaus lässt sich aus den von der Regierung mitgeteilten Informationen nicht entnehmen, wie viel Zeit die Gefangenen außerhalb der Zellen verbrachten.» (Seite 104)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, billigt Ablehnung des Vollzugs eines Europäischen Haftbefehls wegen unmenschlicher oder erniedrigender Haftbedingungen im Ausstellungsstaat (hier: Ungarn bzw. Rumänien) / Rsn. Aranyosi und Căldăraru
Der EuGH (Große Kammer) führt aus: «Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf den sich das System des Europäischen Haftbefehls stützt, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten (…).
Das in Art. 4 der Charta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht (…).
Der absolute Charakter des durch Art. 4 der Charta gewährleisteten Rechts wird durch Art. 3 EMRK bestätigt, dem Art. 4 der Charta entspricht. Wie sich aus Art. 15 Abs. 2 EMRK ergibt, darf nämlich in keinem Fall von Art. 3 EMRK abgewichen werden. (…)
Um die Beachtung von Art. 4 der Charta im individuellen Fall der Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, sicherzustellen, ist infolgedessen die vollstreckende Justizbehörde, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen solcher Mängel verfügt, zu der Prüfung verpflichtet, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein wird. (…)
Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.»
Denn, so heißt es in der Begründung, die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls könne keine unbefristete Inhaftierung der betreffenden Person rechtfertigen. (Seite 107)

EuGH erklärt den Ausschluss von EU-Ausländern von bestimmten Sozialleistungen (in Deutschland) während der ersten drei Monate für zulässig / Rs. García-Nieto
«Da die Mitgliedstaaten von Unionsbürgern nicht verlangen dürfen, dass diese für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaats über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und eine persönliche Absicherung für den Fall der Krankheit verfügen, ist es legitim, dass den betreffenden Mitgliedstaaten nicht auferlegt wird, während dieses Zeitraums die Kosten für sie zu übernehmen.» (Seite 115)

EuGH präzisiert die Zulässigkeitskriterien für die Zurückweisung oder Ausweisung in einen sicheren Drittstaat (hier: eines Pakistaners von Ungarn nach Serbien) bei Antrag auf internationalen Schutz / Rs. Mirza
«Würde einem Mitgliedstaat unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Ausübung des in Art. 3 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung aufgestellten Rechts untersagt, hätte dies nämlich zur Folge, dass sich ein Antragsteller, der, ohne eine endgültige Entscheidung über seinen Antrag abzuwarten, in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Antragstellung untertaucht, im Fall der Wiederaufnahme durch den zuständigen Mitgliedstaat in einer günstigeren Lage befände als derjenige, der den Abschluss der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat abgewartet hat.
Eine solche Auslegung könnte Drittstaatsangehörige und Staatenlose, die in einem Mitgliedstaat internationalen Schutz beantragt haben, dazu veranlassen, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben; dies würde zu Sekundärmigration führen, die mit der Dublin-III-Verordnung durch die Schaffung einheitlicher Verfahren und Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gerade verhindert werden soll.» (Seite 120)

EuGH (GK) erachtet die Inhaftierung eines mehrfach straffälligen Asylbewerbers (in den Niederlanden) trotz eines noch nicht erledigten vierten Asylantrags für zulässig / Rs. J.N.
«Dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, nachdem ihm unter Verhängung eines Einreiseverbots für die Dauer von zehn Jahren aufgegeben worden war, das niederländische Hoheitsgebiet zu verlassen, einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz stellte, steht seiner Inhaftierung auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 nicht entgegen. Eine solche Inhaftierung nimmt dem Antragsteller nämlich nicht die Berechtigung, nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 ausschließlich zum Zweck des Verfahrens des internationalen Schutzes im Mitgliedstaat zu verbleiben, bis die Asylbehörde erstinstanzlich über seinen Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat.» Mit anderen Worten, der Anspruch besteht nicht auf Verbleiben in Freiheit, sondern lediglich auf Verbleiben im Mitgliedstaat bzw. dessen Haftanstalt. (Seite 126)

EuGH (GK) billigt Wohnsitzauflage für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz bei Bezug bestimmter Sozialleistungen (in Deutschland) / Rsn. Alo und Osso
«Art. 33 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass er einer Wohnsitzauflage nicht entgegensteht, die wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden einer Person mit subsidiärem Schutzstatus im Fall des Bezugs bestimmter Sozialleistungen mit dem Ziel erteilt wird, die Integration von Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaat, der diesen Schutz gewährt hat, zu erleichtern (…), sofern sich die Personen mit subsidiärem Schutzstatus nicht in einer Situation befinden, die im Hinblick auf das genannte Ziel mit der Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich aus anderen als humanitären, politischen oder völkerrechtlichen Gründen rechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, objektiv vergleichbar ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.» (Seite 134)

EuGH stärkt Arbeitnehmerschutz für griechische Seeleute auch auf einem ausgeflaggten Schiff einer zahlungsunfähigen griechischen Reederei mit tatsächlichem Sitz in Griechenland / Rs. Stroumpoulis u.a.
Die in Griechenland wohnenden Seeleute waren von einer Reederei angeheuert worden, die zwar ihren satzungsmäßigen Sitz in einem Drittstaat, ihren tatsächlichen Sitz aber in Griechenland hatte und zudem von einem griechischen Gericht nach griechischem Recht für zahlungsunfähig erklärt worden war. Demzufolge ist die Richtlinie 80/987/EWG über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers im konkreten Fall anwendbar mit der Folge, dass die Seeleute Anspruch auf staatliche Ersatzzahlungen haben. (Seite 139)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, revidiert zugunsten von Hinterbliebenen in einem Fall von Schadenersatz für Spätfolgen von Asbest-Kontakt am Arbeitsplatz sein Verjährung feststellendes Urteil von 2010, nachdem der EGMR im Fall Howald Moor et autres c. Suisse das Verjährungsargument beanstandet hatte. Das BGer verweist die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und neuer Entscheidung (ohne Berücksichtigung der Verjährung) an das erstinstanzliche Gericht zurück. (Seite 146)

Beat Dold, Lausanne, kritisiert in seiner Anmerkung zum vorstehenden Fall, dass der EGMR einer vertiefteren Auseinandersetzung mit den Dilemmata, die jedem Verjährungssystem innewohnen, im Endeffekt aus dem Weg gegangen ist. (Seite 148)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die Ermittlungsbefugnisse des Bundeskriminalamtes zur Terrorismusbekämpfung teilweise für verfassungswidrig und nichtig; für weitere als mit der Verfassung unvereinbar beanstandete Vorschriften verfügt das BVerfG unter Auflagen die vorläufige Fortgeltung bis zu einer Neuregelung, längstens bis 30. Juni 2018
Die Leitsätze des Ersten Senats lauten:
«1. a) Die Ermächtigung des Bundeskriminalamts zum Einsatz von heimlichen Überwachungsmaßnahmen (Wohnraumüberwachungen, Online-Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachungen, Telekommunikationsverkehrsdatenerhebungen und Überwachungen außerhalb von Wohnungen mit besonderen Mitteln der Datenerhebung) ist zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus im Grundsatz mit den Grundrechten des Grundgesetzes vereinbar.
b) Die Ausgestaltung solcher Befugnisse muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Befugnisse, die tief in das Privatleben hineinreichen, müssen auf den Schutz oder die Bewehrung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter begrenzt sein, setzen voraus, dass eine Gefährdung dieser Rechtsgüter hinreichend konkret absehbar ist, dürfen sich nur unter eingeschränkten Bedingungen auf nichtverantwortliche Dritte aus dem Umfeld der Zielperson erstrecken, verlangen überwiegend besondere Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sowie einen Schutz von Berufsgeheimnisträgern, unterliegen Anforderungen an Transparenz, individuellen Rechtsschutz und aufsichtliche Kontrolle und müssen mit Löschungspflichten bezüglich der erhobenen Daten flankiert sein.
2. Anforderungen an die Nutzung und Übermittlung staatlich erhobener Daten richten sich nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung.
a) Die Reichweite der Zweckbindung richtet sich nach der jeweiligen Ermächtigung für die Datenerhebung; die Datenerhebung bezieht ihren Zweck zunächst aus dem jeweiligen Ermittlungsverfahren.
b) Der Gesetzgeber kann eine Datennutzung über das für die Datenerhebung maßgebende Verfahren hinaus im Rahmen der ursprünglichen Zwecke dieser Daten erlauben (weitere Nutzung). Dies setzt voraus, dass es sich um eine Verwendung der Daten durch dieselbe Behörde zur Wahrnehmung derselben Aufgabe und zum Schutz derselben Rechtsgüter handelt. Für Daten aus Wohnraumüberwachungen oder einem Zugriff auf informationstechnische Systeme müssen zusätzlich für jede weitere Nutzung auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sein.
c) Der Gesetzgeber kann darüber hinaus eine Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (Zweckänderung).
Die Verhältnismäßigkeitsanforderungen für eine solche Zweckänderung orientieren sich am Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung. Danach muss die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. Eine konkretisierte Gefahrenlage wie bei der Datenerhebung ist demgegenüber grundsätzlich nicht erneut zu verlangen; erforderlich aber auch ausreichend ist in der Regel das Vorliegen eines konkreten Ermittlungsansatzes.
Für Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen darf die Verwendung zu einem geänderten Zweck allerdings nur erlaubt werden, wenn auch die für die Datenerhebung maßgeblichen Anforderungen an die Gefahrenlage erfüllt sind.
3. Die Übermittlung von Daten an staatliche Stellen im Ausland unterliegt den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen von Zweckänderung und Zweckbindung. Bei der Beurteilung der neuen Verwendung ist die Eigenständigkeit der anderen Rechtsordnung zu achten. Eine Übermittlung von Daten ins Ausland verlangt eine Vergewisserung darüber, dass ein hinreichend rechtsstaatlicher Umgang mit den Daten im Empfängerstaat zu erwarten ist.» (Seite 149)

Richter Eichberger kritisiert in seiner abweichenden Meinung, dass der Senat in einer Reihe von Punkten «überzogene Anforderungen an die Datenerhebung und -weiterverwendung und insbesondere an die daraus von ihm abgeleiteten Ausgestaltungspflichten für den Gesetzgeber [stellt].» (Seite 189)

Richter Schluckebier beanstandet in seiner abweichenden Meinung u.a.: «Der Senat setzt mit zahlreichen gesetzgebungstechnischen Detailanforderungen letztlich seine konkretisierenden eigenen Vorstellungen von dem Regelwerk in meines Erachtens zu weit gehender Weise an die Stelle derjenigen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, der sich für seine Konzeption politisch zu verantworten hat und diese gegebenenfalls auch leicht korrigieren kann.» (Seite 191)

BVerfG verneint absoluten Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung
«Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, neben dem Vaterschaftsfeststellungsverfahren nach § 1600d BGB auch ein Verfahren zur isolierten, sogenannten rechtsfolgenlosen, Klärung der Abstammung von einem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater bereitzustellen.» (Seite 196)

BVerfG anerkennt keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen
Konkret geht es auf Vorlage des Bundesfinanzhofs um ein Doppelbesteuerungsabkommen mit der Türkei von 1985, das von Deutschland gekündigt und inzwischen durch ein Doppelbesteuerungsabkommen von 2011 abgelöst worden ist.
In den Leitsätzen des Zweiten Senats heißt es: «Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG schränkt die Geltung des lex-posterior-Grundsatzes für völkerrechtliche Verträge nicht ein. Spätere Gesetzgeber müssen – entsprechend dem durch die Wahl zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes – innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren können.
Die Verfassungswidrigkeit völkerrechtswidriger Gesetze lässt sich nicht unter Rückgriff auf den ungeschriebenen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes begründen. Dieser Grundsatz hat zwar Verfassungsrang, beinhaltet jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen.» (Seite 206)

Richterin König betont in ihrer abweichenden Meinung den Grundsatz der Rechtstreue als Kernbestandteil des Rechtsstaatsprinzips und kritisiert, dass die Senatsmehrheit dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen freie Hand lässt, «sich bewusst und gewollt über Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen (bei denen es sich nicht um Menschenrechtsverträge handelt) hinwegzusetzen». (Seite 219)

BVerfG sieht in der Neuregelung der Arbeitsvergütung für Strafgefangene in Rheinland-Pfalz keinen Grund zur Beanstandung. (Seite 223)

Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg – Erste Etappe der beschlossenen Verdoppelung der Richterzahl auf insgesamt 56
Die ersten sieben zusätzlichen Richter des EuG, darunter auch Dean Spielmann, der vormalige Präsident des EGMR, wurden am 13. April 2016 von EuGH-Präsident Koen Lenaerts vereidigt. Bei dieser Gelegenheit ist Lenaerts in seiner Rede, die auszugsweise in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird, auf Hintergründe und Schwierigkeiten der Reform, die zur Verdoppelung der Richterzahlen beim EuG führt, eingegangen. (Seite 225)

BVerfG lehnt einstweilige Anordnung gegen die Neuregelung des § 217 StGB durch das Gesetz von 2015 zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ab
«Die Beschwerdeführer sind (…) von der Strafandrohung des § 217 StGB nicht als Normadressaten, sondern nur insoweit betroffen, als das Verbot einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung die von ihnen grundsätzlich gewünschte konkrete Art eines begleiteten Suizids mit Unterstützung des Vereins Sterbehilfe Deutschland e.V. verhindert.» (Seite 226)