EuGRZ 1998 |
31. März 1998
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25. Jg. Heft 1-4
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Tomuschat, Berlin, kommentiert den Entwurf der International Law Commission zu einem Internationalen Strafgesetzbuch der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit
Im wesentlichen geht es um fünf Tatbestände: Aggression, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Straftaten gegen Personal der Vereinten Nationen und Kriegsverbrechen.
Der Autor betont: «Vielleicht die wichtigste allgemeine – und dennoch nur implizite – Rechtsaussage des IntStGB lautet, daß keine staatliche Rechtsordnung in der Lage ist, die von ihm aufgelisteten Verbrechen zu legitimieren. (…) Auch ein Staatsoberhaupt oder Regierungschef muß sich persönlich für seine Handlungen verantworten. (…)
Zwar sprach die Generalversammlung der ILC ihre Anerkennung für den Abschluß der Arbeiten an dem IntStGB aus. Gleichwohl wird man nicht erwarten können, daß sie nun ihrerseits konkrete Schritte unternimmt, um das Verfahren zu einem förmlichen Abschluß zu bringen. Denn gegenwärtig ist alle Aufmerksamkeit innerhalb der Weltorganisation auf die Arbeit am Statut eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs konzentriert.
Dieses Statut, das von einer Staatenkonferenz in Rom im Juni/Juli 1998 verabschiedet werden soll, würde nach den jetzigen Planungen nicht nur die Zuständigkeit des Gerichts umreißen, sondern gleichzeitig auch das materielle Strafrecht festlegen, welches das Gericht anzuwenden hätte. Es leuchtet ein, daß es sich dabei, abgesehen von gewissen Variationen, um genau dieselben Straftaten handeln muß, die auch den Inhalt des IntStGB bilden.» (Seite 1)
Manfred Nowak, Wien/Sarajevo, erläutert die Menschenrechtsinstitutionen aufgrund des Dayton-Abkommens für Bosnien und Herzegowina
Dies sind der Verfassungsgerichtshof und die aus Ombudsperson sowie Menschenrechtskammer, deren Vizepräsident der Autor ist, bestehende Menschenrechtskommission.
«Obwohl [die MR-Kammer] aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages errichtet wurde, ist sie als eine Institution des Staates BH aufzufassen… Auf der anderen Seite ist die Kammer kein Organ der Verfassung von BH wie zum Beispiel der Verfassungsgerichtshof. Man wird daher annehmen müssen, daß es sich bei der Kammer um eine Institution sui generis handelt, in der das internationale Element während der ersten fünf Jahre überwiegt. Nach dieser Übergangsphase liegt es an den bosnischen Parteien zu entscheiden, ob sie die Kammer entweder auflösen (was nicht unwahrscheinlich ist) oder aber als überwiegend internationale Institution beibehalten oder schließlich in ein Organ der Verfassung mit oder ohne internationale Mitglieder transformieren wollen.» (Seite 7)
Dietrich Rauschning, Göttingen/Sarajevo, führt in Verfahren und Rechtsprechung der Menschenrechts-Kammer für Bosnien und Herzegowina ein
«Das General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegowina (Dayton-Abkommen) setzt in Art. VII die Verpflichtung zur Beachtung der im Annex 6 aufgeführten Menschenrechte fest. Auch in der Verfassung für Bosnien und Herzegowina, die den Annex 4 des Dayton-Abkommens bildet, ist die Beachtung der Menschenrechte als Verfassungspflicht für Bosnien und Herzegowina und die beiden sogen. „Entities“: die Föderation von Bosnien und Herzegowina sowie die Republika Srpska enthalten.»
Zu den Kompetenzen erklärt Rauschning, Mitglied der MR-Kammer seit ihrer Gründung, u.a.: «Die Kammer entscheidet über Anträge behaupteter oder offensichtlicher Verletzungen von Menschenrechten durch die Parteien von Annex 6 seit dem Inkrafttreten des Dayton-Abkommens am 14. Dezember 1995; bei fortdauernden Menschenrechtsverletzungen, die vor diesem Zeitpunkt begonnen haben, ist die Kammer nur zur Beurteilung der Verletzungen seit dem 14. Dezember 1995 zuständig.» (Seite 11)
Menschenrechtskammer (MR-Kammer), Sarajevo, wertet fortdauerndes Verschwindenlassen eines katholischen Geistlichen und seiner Eltern als Verletzung von Art. 5 EMRK und damit als Verstoß gegen Art. I Dayton-Annex 6
Matanović gegen Republika Srpska ist das erste Urteil der MR-Kammer. Zum strittigen Sachverhalt heißt es: «Im vorliegenden Fall ergibt sich nach Ansicht der Kammer die Annahme einer Verantwortlichkeit der belangten Partei für das Schicksal der Bf. seit Inkrafttreten des Dayton-Abkommens aus dem Beweismaterial. Diese Annahme beruht insbesondere auf der nachgewiesenen Tatsache, daß die Bf. verschwunden sind, während sie unter Hausarrest standen, verbunden mit dem offiziellen Eingeständnis nach Inkrafttreten des Dayton-Abkommens, daß Pater Matanović als Gefangener gehalten wurde, auf den tatsächlichen Hinweisen darauf, daß seine Eltern höchstwahrscheinlich in der gleichen Lage waren…, und auf dem anderen Beweismaterial, das darauf schließen läßt, daß den Behörden und Regierungsstellen bewußt war, daß die Bf. nach Inkrafttreten des Abkommens [14.12.1995] in Haft gehalten wurden.» (Seite 13)
Ägyptischer Verwaltungsgerichtshof, Kairo, bestätigt Verbot der Geschlechtsverstümmelung an Frauen (Excision) und erklärt die entsprechende VO des Gesundheitsministers für mit der islamischen Sharî'a und der Verfassung vereinbar
Zusammenfassend stellt der ägyptische VwGH fest: «Da es in bezug auf die Beschneidung an Frauen keine Bestimmung des islamischen Rechts gibt, die in ihrem Feststehen und ihrer Herleitung absolut ist, dergestalt, daß diese Bestandteil des edlen Korans ist oder auf der Sunna des Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Heil! – beruht, und da die vier Rechtsschulen und die heutigen islamischen Juristen in bezug auf diese Angelegenheit geteilter Ansicht sind, ob diese verpflichtend oder nur empfohlen oder noch weniger [bindend] ist, stellt der Erlaß der Verordnung, durch die ihre Ausübung verbindlich geregelt wird, keine Verletzung der Regelung in Art. 2 der Verfassung dar, da sie nicht einer zwingenden Bestimmung des islamischen Rechts widerspricht, die in ihrem Feststehen und ihrer Herleitung absolut ist.
Auch verstößt die Verordnung nicht gegen die Art. 45, 46 der Verfassung, denn das Verbot der Vornahme der Beschneidung an Frauen mit Ausnahme der [medizinischen] Indikation beinhaltet keine Verletzung der Privatsphäre der Bürger und auch keine [Verletzung] des Rechtes auf Ausübung der Religion.» (Seite 24)
Kilian Bälz, Berlin/Kairo, nennt in seiner Anmerkung zum Urteil des ägyptischen VwGH über das Verbot der Geschlechtsverstümmelung an Frauen folgende Fakten:
«Die rituelle Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane ist in Ägypten nach wie vor weit verbreitet. Einer Studie aus dem Jahr 1996 zufolge wird bei 97% aller ägyptischen Mädchen dieser Eingriff vorgenommen. Der Brauch, der bereits in pharaonischer Zeit praktiziert wurde und später Eingang in den corpus iuris des klassischen islamischen Rechts fand, steht aufgrund seiner gravierenden physischen und psychischen Folgen seit langem im Kreuzfeuer der Kritik ägyptischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen.»
Als Konsequenz aus dem Urteil hält Bälz fest: «Zur Frage, ob der Islam mit Menschenrechtsvorstellungen westlicher Provenienz vereinbar ist, besteht umfangreiche Literatur. Dabei hat sich inzwischen weitgehend eine differenzierte Betrachtungsweise durchgesetzt, dergemäß es eine Unvereinbarkeit zwischen „dem Islam“ und „den Menschenrechten“ als solche nicht gibt, sondern dies vielmehr eine Frage der Auslegung ist.» (Seite 26)
Verfassungsrat, Paris, stellt wegen des automatischen Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen und zum Mitentscheidungsverfahren (Rat/EP) die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung vor Ratifikation des Vertrages von Amsterdam fest
«In der Erwägung, daß… der automatische Übergang zur qualifizierten Mehrheit [im Rat] und zum „Mitentscheidungsverfahren“ [Rat/EP] nach Ablauf der Übergangszeit von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam für die Bestimmung der Verfahren und der Voraussetzungen für die Erteilung kurzfristiger Visa durch die Mitgliedstaaten und die Vorschriften über das einheitliche Visum gem. Art. 73 o Abs. 4, gemessen am Vertrag über die Europäische Union, ein neues Element der Kompetenzübertragung in einem Bereich darstellt, in dem die nationale Souveränität betroffen ist.»
Aus dieser Schlüsselerwägung folgt für den Conseil constitutionnel (CC), daß der Vertrag von Amsterdam weiter geht als jener von Maastricht und als die im Hinblick auf Maastricht (durch Referendum) geänderte Verfassung gegenwärtig erlaubt. Das gilt insgesamt für die Bereiche Asyl, Einwanderung, Binnen- und Außengrenzen. (Seite 27)
Siehe auch die Stellungnahme des Europäischen Parlaments auf der Basis des de Vigo- und Tsatsos-Berichts S. 69 und 72 sowie die Fundstellen auf S. 31 f.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, präzisiert Kriterien für die Revision bundesgerichtlicher Entscheide wegen Verletzung der EMRK und betont die Wirkung des in Straßburg als gerechte Entschädigung i.S.v. Art. 50 EMRK zugesprochenen Pauschalbetrags
«Ob der nationalen Vorschrift (Art. 139a OG) bzw. der internationalen Norm (Art. 50 EMRK) subsidiärer Charakter zukommt, hängt von den konkreten Umständen des einzelnen Falles ab. Wenn – wie das hier zutrifft – nur materielle Interessen auf dem Spiel stehen und die Konventionsverletzung mit einer Entschädigung vollständig gutgemacht werden kann, wird mit Recht erklärt, die Revision nach Art. 139a OG sei in einem solchen Fall nicht zu bewilligen.» (Seite 32)
Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, bestätigt das Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses auch nach erfolgter Abschiebung des Fremden
«Durch die Abschiebung fällt auch nicht das objektive Interesse des Beschwerdeführers an der Beseitigung des angefochtenen Bescheides weg: Wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und in der Folge festgestellt, daß eine Abschiebung des Beschwerdeführers in diesen Staat unzulässig ist, wirkt diese Feststellung pro futuro, sodaß der Beschwerdeführer – gelingt ihm die Ausreise aus diesem Staat und wird er in Österreich aufgegriffen – nicht neuerlich in diesen Staat ab- bzw. zurückgeschoben oder an der Grenze zurückgewiesen werden darf.» (Seite 34)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, beanstandet fünfjährige Ungleichbehandlung von Grundeigentümern in Ost- und Westdeutschland nicht
Die 1. Kammer des Ersten Senats nimmt Verfassungsbeschwerden gegen die Regelung des Einigungsvertrages nicht zur Entscheidung an, nach der Kiese und Kiessande im Beitrittsgebiet vom Grundeigentum abgespaltene bergfreie Bodenschätze sind.
Die aufgeworfenen Fragen seien hinreichend geklärt. Dazu gehört die Feststellung, «daß es für die Beurteilung vermögensbezogener Vorgänge im Zuge der Wiederherstellung der deutschen Einheit darauf ankommen kann, ob den Betroffenen vor der Wiedervereinigung durchsetzbare vermögenswerte Rechtspositionen verblieben waren.» (Seite 36)
BVerfG bestätigt das Recht auf nachrichtenmäßige Kurzberichterstattungim Fernsehen über Sport- bzw. Kulturereignisse als verfassungsgemäß
Allerdings muß der Gesetzgeber innerhalb von fünf Jahren bei berufsmäßigen Veranstaltungen ein angemessenes Entgelt vorschreiben. Das Normenkontrollverfahren war von der Bundesregierung gegen eine landesrechtliche Vorschrift Nordrhein-Westfalens angestrengt worden.
Das BVerfG argumentiert: «Die Informationsfunktion des Fernsehens beschränkt sich nicht auf politische Informationen im engeren Sinn. Die Meinungsbildung erhält ebenso von anderen Gegenständen des öffentlichen Interesses Nahrung, ohne daß objektive Kriterien für Relevanz oder Irrelevanz vorgegeben werden könnten. (…)
Dazu zählen gerade auch Berichte über herausragende Sportveranstaltungen, die im Zentrum der Auseinandersetzung um das Kurzberichterstattungsrecht stehen. Die Bedeutung solcher Sportereignisse erschöpft sich nicht in ihrem Unterhaltungswert. Sie erfüllen darüber hinaus eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Der Sport bietet Identifikationsmöglichkeiten im lokalen und nationalen Rahmen und ist Anknüpfungspunkt für eine breite Kommunikation in der Bevölkerung. Eine umfassende Berichterstattung, wie sie von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gefordert wird, läßt sich daher unter Verzicht auf Sportereignisse nicht verwirklichen.
Eine Monopolisierung der Berichterstattung über Gegenstände von allgemeiner Bedeutung oder allgemeinem Interesse bei einem einzelnen Rundfunkveranstalter würde dieses Ziel gefährden. Das hat seinen Grund nicht allein darin, daß auf diese Weise Mißbrauchsmöglichkeiten eröffnet werden, die sich gesetzlich nur schwer eindämmen lassen. Vielmehr sind Monopole im Informationssektor auch deswegen der freien Meinungsbildung abträglich, weil sie uniforme Information begünstigen.» (Seite 41)
BVerfG bejaht Vorlage-Frage des sächsischen Verfassungsgerichtshofes zur Überprüfung der Anwendung von Bundesrecht (hier: ZPO) durch Gerichte des Landes am Maßstab der Landesverfassung
«Der vorlegende Verfassungsgerichtshof [EuGRZ 1996, 441] geht zutreffend davon aus, daß der Landesgesetzgeber ihm nach dem Grundgesetz die Befugnis habe einräumen können, im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde zu prüfen, ob die Anwendung des bundesrechtlich geregelten Verfahrensrechts durch Gerichte des Landes mit Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen vereinbar sei, die im Grundgesetz und in der Landesverfassung parallel verbürgt sind.» (Seite 53)
BVerfG billigt die Vermeidung von Doppelentschädigung für den Verlust mittelbarer Vermögenswerte in Ostberlin durch Gesetzgeber und Gerichte
Für das streitbefangene Grundstück in Ost-Berlin, das zum Komplex „Komische Oper“ gehört, wurde nach Ansicht der Behörden und Fachgerichte bereits von der DDR eine Globalentschädigungssumme an Schweden geleistet. (Seite 62)
BVerfG sieht den üblichen Rückerwerbsanspruch bei Wegfall des Enteignungszwecks dann nicht als gegeben an, wenn die Enteignung nach DDR-Recht vollzogen wurde
«Für Enteignungen, die in der Deutschen Demokratischen Republik – hier nach dem Baulandgesetz – durchgeführt wurden, galten die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG nicht, weil sich der Geltungsbereich des Grundgesetzes auf das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik nicht erstreckte (…) und das Grundgesetz für dieses Gebiet auch nicht rückwirkend in Kraft getreten ist.» (Seite 65)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, empfiehlt den Mitgliedstaaten, den Vertrag von Amsterdam zu ratifizieren
Das EP begrüßt, «daß der Vertrag von Amsterdam einen weiteren Schritt auf dem unvollendeten Weg des Aufbaus einer Europäischen Politischen Union vollzieht und für gewisse Organe nicht zu unterschätzende Fortschritte enthält, andere Fragen aber ungelöst läßt.»
Allerdings vermißt das EP «die für ein effizientes und demokratisches Arbeiten einer erweiterten Union notwendigen institutionellen Reformen und betont, daß diese Reformen so schnell wie möglich vor der Erweiterung verwirklicht werden müssen, um die Beitritte nicht zu verzögern.» (Seite 69)
Die Entschließung basiert auf einem Bericht der Abgeordneten Iñigo Mendez de Vigo und Dimitris Tsatsos, in dem der Vertrag ausführlich analysiert und bewertet wird.
Die Ko-Berichterstatter unterstreichen die in die Zukunft gerichtete Perspektive ihrer Analyse «einer weiteren Phase eines in ständigem historischem Wandel befindlichen Prozesses.» (Seite 72)
BVerfG veröffentlicht Übersicht über die Verfahren, in denen es 1998 zu entscheiden anstrebt. (Seite 103)