EuGRZ 1998 |
9. April 1998
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25. Jg. Heft 5-6
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Informatorische Zusammenfassung
Angelika Nußberger, München, untersucht die Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts zu den Grundrechten anhand ausgewählter Entscheidungen der Jahre 1995 bis 1997
«Die jüngste Rechtsentwicklung in Rußland bietet ein mehr als widersprüchliches Bild. Begriffe wie Rechtlosigkeit (bespravie) und Rechtsnihilismus (pravovoj nigilizm) sind bezeichnend für einen juristischen Alltag, der von Kriminalität, Korruption und dem Nicht-Funktionieren der Gerichtsbarkeit geprägt ist. Nicht zuletzt haben daran aber auch Normenflut und Überregulierung ihren Anteil, gerade weil ein Großteil neuer Regelungen mangels finanziellen oder infrastrukturellen Unterbaus „law in the books“ bleibt.
Zugleich wurden aber in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne Gesetze zum Zivilrecht, zum Strafrecht, zum Familienrecht und zum Gerichtsaufbau erlassen, die wichtige Bereiche des Rechts auf neue Grundlagen stellen und damit nach sieben Jahrzehnten sowjetischer Rechtsentwicklung bahnbrechende Neuerungen darstellen. (…)
Allerdings gibt es viele Gründe, den Einfluß der Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichts auf die gegenwärtige faktische Situation des Rechts in der Russischen Föderation zu bezweifeln. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts betreffen nur die Spitze des Eisbergs, können aber gegen die allgemeine Rechtlosigkeit nichts ausrichten. (…)
Nichtsdestotrotz ist die bisherige Judikatur ein Spiegel wichtiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, zeigt neuralgische Punkte des im Umbau befindlichen Systems und auch mögliche, auf rechtlichen Überlegungen basierende Lösungsansätze auf.»
Die Rechtsprechungslinien der fünfzig Entscheidungen, die von 1995 bis Mitte 1997 ergangen sind, werden von der Autorin gesamthaft gewürdigt und in einem detaillierten Überblick nach Schwerpunkten wie Straf- und Strafprozeßrecht, Sozial- und Arbeitsrecht sowie Staatsangehörigkeit, Freizügigkeit, Eigentum und Erbrecht aufgearbeitet. (Seite 105)
Siehe auch die drei Urteile des RussVerfG in diesem Heft auf S. 144, 146 und 150.
Oliver Suhr, Saarbrücken, kommentiert die Grenzen der Gleichbehandlung und Fragen der Vereinbarkeit von Frauenquoten mit dem Gemeinschaftsrecht
«Der EuGH hat mit seiner Entscheidung Marschall (EuGRZ 1997, 563) die Lesart der Entscheidung Kalanke (EuGRZ 1995, 553) bestätigt, wonach nur eine uneingeschränkt formulierte Bevorzugungsregelung gemeinschaftsrechtswidrig ist. Die Differenzierung zwischen Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit, auf die sich die gegenteilige Auffassung ganz wesentlich gestützt hatte, greift der EuGH nicht mehr auf. Damit bestätigt der EuGH die Einschätzung u.a. der Kommission und des Europäischen Parlaments sowie einer größeren Gruppe von Mitgliedstaaten. Der EuGH entgeht der Gefahr, mit seiner Entscheidung in Widerspruch zu den Neuerungen des Vertrags von Amsterdam zu treten, die der Ermöglichung einer aktiven Gleichstellungspolitik noch stärkeres Gewicht geben. (…)
Nach der Entscheidung Marschall ist klar, daß das Urteil Kalanke fast durchweg in die eine oder andere Richtung fehlinterpretiert worden ist. Der Abgesang auf die Frauenquote hat sich genauso als voreilig erwiesen wie das Beklagen einer Tendenzwende in der Rechtsprechung. (…) Spekulationen über die Beweggründe des EuGH ändern nichts an der nüchternen Bilanz, daß das Marschall-Urteil einen wichtigen Beitrag zum Rechtsfrieden nachholt, den das Kalanke-Urteil hatte vermissen lassen.» (Seite 121)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht auch in dem nur geringfügigen Überschreiten der gesetzlichen 12-Stunden-Frist polizeilichen Festhaltens zur Feststellung der Identität einen Verstoß gegen Art. 5 EMRK
Im Fall K.-F. gegen Deutschland war der Beschwerdeführer (Bf.), ein ehemaliger Rechtsanwalt, von der Polizei festgenommen und insgesamt 12 Stunden und 45 Minuten festgehalten worden, nachdem die Vermieterin einer Ferienwohnung die Polizei um Hilfe gerufen hatte, um die von ihr befürchtete Flucht des Bf. zu verhindern, der mit 4.000,- DM für Miete und Telefonkosten im Rückstand war.
Der EGMR faßt zusammen: «Im vorliegenden Fall war… die Höchstdauer von zwölf Stunden Freiheitsentziehung zum Zweck der Feststellung der Identität gesetzlich festgelegt und unbedingt. Da die Höchstdauer der Freiheitsentziehung vorab bekannt war, waren die für die Freiheitsentziehung verantwortlichen Behörden verpflichtet, alle nötigen Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, daß die zulässige Dauer nicht überschritten wurde. Dies gilt auch für die erkennungsdienstliche Behandlung von Herrn K.-F., die – als Teil der Maßnahmen zur Feststellung der Identität – in der Zeit hätte erfolgen sollen, als er zu diesem Zweck festgehalten wurde.» (Seite 129)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bekräftigt das Recht auf Freizügigkeit für Arbeitnehmer auch im Hinblick auf Ansprüche auf Leistungen aus der Pflegeversicherung
Im Molenaar-Urteil kommt der EuGH zu dem Ergebnis: «Es verstößt nicht gegen die Art. 6 und Art. 48 Abs. 2 EG-Vertrag, wenn ein Mitgliedstaat Personen, die in seinem Gebiet arbeiten, jedoch in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, zu Beiträgen zu einem System der sozialen Sicherheit zur Deckung des Risikos der Pflegebedürftigkeit heranzieht.
Es verstößt jedoch gegen die Art. 19 Abs. 1, 25 Abs. 1 und 28 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates,… den Anspruch auf eine Leistung wie das Pflegegeld, die eine Geldleistung bei Krankheit darstellt, davon abhängig zu machen, daß der Versicherte in dem Staat wohnt, in dem er der Versicherung angeschlossen ist.»
Die im Ausgangsverfahren gegen die AOK Baden-Württemberg klagenden Eheleute arbeiten in Deutschland, sind dort freiwillig krankenversichert und wohnen in Frankreich. (Seite 137)
EuGH sieht in der Verweigerung von eigentlich für Ehepartner bestimmten Firmen-Vergünstigungen (hier: Eisenbahn-Freifahrten) bei gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaft keinen Verstoß gegen Diskriminierungsverbot
Im Grant-Urteil stellt der EuGH fest: «Da die in der Regelung des Unternehmens aufgestellte Voraussetzung für die weiblichen wie für die männlichen Arbeitnehmer in gleicher Weise gilt, kann sie nicht als eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrachtet werden.»
Der EuGH zieht sodann Äußerungen des Europäischen Parlaments, die Rechtsprechung der Europäischen Kommission sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit in Betracht und kommt zu dem Schluß: «Demnach sind beim gegenwärtigen Stand des Rechts innerhalb der Gemeinschaft die festen Beziehungen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts den Beziehungen zwischen Verheirateten oder den festen nichtehelichen Beziehungen zwischen Personen verschiedenen Geschlechts nicht gleichgestellt. Folglich ist ein Arbeitgeber nach dem Gemeinschaftsrecht nicht verpflichtet, die Situation einer Person, die eine feste Beziehung mit einem Partner des gleichen Geschlechts unterhält, der Situation einer Person, die verheiratet ist oder die eine feste nichteheliche Beziehung mit einem Partner des anderen Geschlechts unterhält, gleichzustellen.
Unter diesen Umständen kann nur der Gesetzgeber gegebenenfalls Maßnahmen treffen, die einen Einfluß auf diese Lage haben können.» (Seite 140)
Russisches Verfassungsgericht (RussVerfG), Moskau, beseitigt die aus kommunistischer Zeit stammende Strafbarkeit der Flucht ins Ausland bzw. der Weigerung zurückzukehren
Im Fall V.A.Smirnov hebt das RussVerfG Art. 64 lit. a des StGB/RSFSR, in dem Flucht als Vaterlandsverrat qualifiziert wird, auf: «Der in der beanstandeten Norm geregelte Sachverhalt kann kraft der Verfassung der russischen Föderation und völkerrechtlicher Verträge, bei denen die RF Vertragspartei ist, nicht als ein Verbrechen betrachtet werden, das die Verteidigung, die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit, die staatliche Sicherheit oder die Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigt, und er kann auch nicht als selbständiger Grund für die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Vaterlandsverrat dienen.»
Dagegen ist die Strafbarkeit der Weitergabe eines Staats- oder militärischen Geheimnisses an einen ausländischen Staat als Form des Vaterlandsverrats verfassungsgemäß, wenn das Verzeichnis der Informationen, die ein Staatsgeheimnis darstellen, in dem zur allgemeinen Kenntnisnahme amtlich veröffentlichten Bundesgesetz enthalten ist. (Seite 144)
RussVerfG sieht erbrechtliche Sonderregelungen für in Gemeinschaftseigentum stehende Vermögenswerte an Kolchoshöfen in Widerspruch zur Verfassung
Im Fall Naumov stellt das RussVerfG fest: «Die aufgezeigten Beschränkungen, die darauf gerichtet sind, die Eröffnung des Erbverfahrens über das Vermögen eines Kolchoshofes nicht zuzulassen, sind mit keinem der in Artikel 55 Abs. 3 der Verfassung der Russischen Föderation aufgezählten Ziele, die eine Begrenzung von Bürgerrechten durch ein föderales Gesetz rechtfertigen könnten, in Verbindung zu bringen.» (Seite 146)
RussVerfG bereinigt ungleiche Entschädigungsvoraussetzungen bei radioaktiver Umweltbelastung
Im Kornilov-Urteil heißt es: «Die gegebene Bestimmung engt den Kreis der Personen, die als Opfer des Unglücksfalls und der radioaktiven Abfälle im Fluß Teča geschützt werden, deutlich ein. Es nimmt denjenigen, die in dem radioaktiv verseuchten Gebiet gelebt haben und innerhalb des Siedlungsgebietes umgesiedelt worden sind, die Möglichkeit, Vergünstigungen und Entschädigungsleistungen zu bekommen, auf die nach dem Gesetz ein Anspruch besteht. Dadurch werden diese Bürger und die Bürger, die das Siedlungsgebiet verlassen haben, ungleich behandelt.» (Seite 150)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, hält Zweifel an der Unparteilichkeit eines für die Dauer seiner befristeten Zugehörigkeit zu einem UVS karenzierten Polizeijuristen in Polizei-relevanten Verfahren für berechtigt
Der VfGH zieht damit Konsequenzen aus dem Urteil des EGMR im Fall Belilos gegen die Schweiz (EuGRZ 1989, 21) und argumentiert: «Maßgeblich war für den EGMR vielmehr, daß das betreffende „Mitglied der Polizeikommission ein aus der Polizeidirektion hervorgegangener höherer Beamter ist, der berufen sein kann, dort erneut andere Aufgaben wahrzunehmen“. Daran anknüpfend stellte der EGMR fest, daß die der Gerichtsbarkeit der Polizeikommission unterworfenen Personen versucht sein könnten, „in ihm ein Mitglied des Polizeidienstes zu sehen, der dessen Hierarchie eingeordnet und mit seinen Kollegen solidarisch ist“. Dieser „äußere Anschein“ wird aber auch im vorliegenden Fall eines auf Dauer seiner bloß befristeten Zugehörigkeit zum UVS karenzierten Beamten des Bundes im Personalstand der Bundespolizeidirektion Wien, der als einzelnes Mitglied des UVS Wien u.a. über die Rechtmäßigkeit der Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt durch Organwalter eben dieser Behörde zu befinden hat, nicht auszuschließen sein.» (Seite 152)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Anspruch auf öffentliche Verhandlung auch im Verfahren über Berichtigung des (Abschluß-)Dienstzeugnisses eines Bundesangestellten vor der Personalrekurskommission
«Das einschlägige Verfahrensrecht kann damit nur so verstanden werden, dass die Verhandlungvon Amtes wegen und nicht lediglich auf Begehren hin angesetzt wird. Die Partei darf daher berechtigterweise davon ausgehen, dass immer dann, wenn eine zivilrechtliche Streitigkeit vorliegt, eine Verhandlung angesetzt wird, in gleicher Weise, wie dies regelmässig in einem erstinstanzlichen Zivil- oder Strafprozess der Fall ist (…). Dann aber kann erst recht nicht die Verwirkung des Anspruchs angenommen werden, wenn nicht schon im Rechtsschriftenwechsel ein entsprechendes Begehren gestellt wird. Vielmehr ist, wenn die Kommission auf die Durchführung einer Verhandlung verzichten will, eine Anfrage bei den Parteien erforderlich.» (Seite 155)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Vorlage des BVerwG wegen des Verbots der Beförderung asylsuchender Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis wegen unzureichender Begründung für unzulässig
In den Ausgangsverfahren wehren sich die Fluggesellschaften Air India und Air France gegen das Verbot des Bundesinnenministers, auf den Strecken zwischen Indien bzw. Paris und dem Bundesgebiet Ausländer zu befördern, die entgegen den einschlägigen Bestimmungen nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind.
Das BVerfG kommt zu dem Ergebnis: «Den Vorlagebeschlüssen liegt – insoweit zutreffend – die Auffassung zugrunde, daß das den Klägerinnen mit der Betriebsgenehmigung eingeräumte Beförderungsrecht jedenfalls (nur) nach Maßgabe der zu beachtenden, jeweils in Kraft befindlichen nationalen Einreisevorschriften besteht. Die Begründetheit der erhobenen Klagen – und damit die Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage – ist damit aber nicht hinreichend dargelegt. Wenn nämlich schon kein unbeschränktes Recht der beiden klagenden Fluggesellschaften besteht, ausländische Passagiere ungeachtet nationaler Einreisebestimmungen in der Bundesrepublik Deutschland abzusetzen, so ist nicht ohne weiteres erkennbar, inwiefern durch die Beförderungsverbote als solche, die nach Erteilung der Betriebsgenehmigungen aufgrund des zum 1. Januar 1982 in Kraft getretenen § 18 Abs. 5 Satz 1 AuslG (1965) erlassen wurden, in ein Recht der Fluggesellschaften eingegriffen worden sein sollte. Vielmehr kommt in Betracht, daß die Verbote lediglich die bereits bestehenden, auf anderer Rechtsgrundlage beruhenden Grenzen des mit den Betriebsgenehmigungen eingeräumten Beförderungsrechts nachzeichnen und aktualisieren.» (Seite 159)
BVerfG verwirft Verfassungsbeschwerden gegen die für den 1. Januar 1999 geplante Einführung des Euro einstimmig als offensichtlich unbegründet
Die Kernaussage des Euro-Beschlusses lautet: «Die Mitwirkung Deutschlands an der Währungsunion ist im Maastricht-Vertrag vorgesehen sowie mit Art. 23 und Art. 88 Satz 2 GG grundsätzlich gestattet (vgl. BVerfGE 89, 155 [199 ff.] = EuGRZ 1993, 429 [442 f.]). Für den Vollzug dieser rechtlichen Vorgaben, insbesondere die Entscheidung über die Teilnehmerstaaten an der Währungsunion, zeichnet der Maastricht-Vertrag den Maßstab und das Verfahren zum Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion vor. Er eröffnet dabei wirtschaftliche und politische Einschätzungs- und Prognoseräume. Dies nimmt die Bundesregierung und das Parlament für die Sicherung des Geldeigentums in Verantwortung. Der Geldeigentümer gewinnt jedoch nicht das Recht, diese parlamentarisch mitzuverantwortende Entscheidung in dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde inhaltlich überprüfen zu lassen.»
Weiter argumentiert das BVerfG: «Sollte sich herausstellen, daß die Währungsunion in der Realität ohne eine politische Union nicht zu verwirklichen ist, bedarf es einer erneuten politischen Entscheidung, welche Folgerungen daraus für die Währungsunion und die Vertragsgestaltung im übrigen zu ziehen sind. (…)
Der Außenwert des Geldes folgt aus der Beziehung des nationalen Geldes zu anderen Währungen und deren staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen. In diesen Abhängigkeiten kann der Staat den Geldwert nicht grundrechtlich garantieren. (…)
Langfristige ökonomische Entwicklungen und die daraus zu ziehenden Folgerungen für die Stabilität einer Währung können nicht in der Sicht eines individuellen und punktuellen Eingriffs beurteilt, sondern müssen stetig mitgestaltet und kontinuierlich überprüft werden. Dieses ist nicht Sache der Gerichte, sondern der Regierung und des Parlaments.» (Seite 164)
BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde gegen unzureichenden Nichtraucherschutz nicht zur Entscheidung an
Die 1. Kammer des Ersten Senats begründet die Ablehnung folgendermaßen: «Insbesondere ist der Gesetzgeber nicht gänzlich untätig geblieben. Er hat im Gegenteil in vielfältiger Weise von seiner Befugnis Gebrauch gemacht, das Rauchen nach einer Abwägung der allgemeinen Handlungsfreiheit der Raucher mit anderen schutzwürdigen Rechtsgütern in bestimmten Bereichen zu untersagen oder einzuschränken.» (Seite 172)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, kritisiert den Austritt Jamaikas aus dem Fakultativprotokoll zum CCPR
Jamaika ist der erste Staat, der das Recht auf Individualbeschwerde zum UN-Ausschuß für Menschenrechte wieder zurücknimmt. Das Motiv für diesen Schritt der Regierung ist offensichtlich. Der UN-AMR hatte mehrfach Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Todesstrafe festgestellt. (Seite 174)
BVerfG veröffentlicht die Liste der Verfahren, in denen es 1998 zu entscheiden anstrebt. (Seite 174)Heft 7-8 22. April 1998 Seiten 177-244
Theodor Schilling, Luxemburg/Berlin, untersucht Eigentum und Marktordnung nach Gemeinschafts- und nach deutschem Recht
Nach einer rechtsvergleichend begründeten Einleitung behandelt der Autor insbesondere das Neuanpflanzungsverbot im Weinbau, die Bananen- sowie die Milchmarktordnung. Zu den strukturellen Unterschieden zwischen Gemeinschafts- und deutschem Recht führt Schilling aus: «Betrachtet man, wie es das Gemeinschaftsrecht tut, Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, so bedarf es zwar keiner spezifischen „Einbringung“ der Grundrechte in die Marktordnungen; jedoch stellen sich Probleme auf anderer Ebene. (…) Insbesondere ist kein einheitlicher Anknüpfungspunkt für den Schutz vermögenswerter Positionen ersichtlich. (…)
Dieses Manko zeigt sich am deutlichsten dann, wenn der EuGH ohne offengelegten oder auch nur erkennbaren Grund seine Rechtsprechung ändert. (…)»
Zum Umfang des gewährten Schutzes kommt der Beitrag zu dem Ergebnis: «Der von den Gemeinschaftsgerichten gewährte Eigentumsschutz ist nicht generell schwächer als der nach deutschem Recht geforderte; gelegentlich geht er auch darüber hinaus. Stärker war er in der Rs. Wachauf, schwächer namentlich bei der Bananenmarktordnung und in der Rs. von Deetzen II. Damit stellt sich die Frage, ob der vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz, soweit er hier untersucht wurde, dem „Grundgesetz im wesentlichen vergleichbar“ ist, also dem unter dem Grundgesetz aktuell gewährleisteten Schutzstandard im wesentlichen entspricht, wie es Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG für die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union vorschreibt. Dabei ist es, wie ausgeführt, irrelevant, daß die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zum Eigentumsschutz auf allgemeinen Rechtsgrundsätzen, nicht auf Grundrechten als Abwehrrechten beruht.
Die gestellte Frage ist für das untersuchte Gebiet zu bejahen. Quantitativ geht der EU-Grundrechtsschutz dort in einem Fall weiter als der deutsche, in zwei Fällen bleibt er hinter diesem zurück. Das genügt der Vergleichbarkeit.» (Seite 177)
Volker Neßler, Wismar, kommentiert unter dem Stichwort „Deutsche und europäische Parteien“ die Beziehungen und Wechselwirkungen im Prozeß der Demokratisierung der Europäischen Union
Auf europäischer Ebene existieren heute die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), die Europäische Volkspartei (EVP), die European Liberal, Democrat and Reform Party (ELDR) und die Europäische Föderation der Grünen Parteien.
Zu den Schwächen der gegenwärtigen Lage gibt der Autor zu bedenken: «Bisher konnten die Euro-Parteien allerdings ihrem Anspruch, als parteiorganisatorische Basis den jeweiligen Fraktionen politische Leitlinien und Impulse zu geben, nicht gerecht werden. Im Verhältnis der europäischen Fraktionen zu den europäischen Parteien liegt das politische Schwergewicht eindeutig bei den Fraktionen. (…)
Die Schwäche der Parteien ist also gleichzeitig eine Ursache der Schwäche der Fraktionen und damit sogar des Europäischen Parlaments. Denn ohne politische Parteien fehlt den Fraktionen damit ein Rückhalt in der und eine Rückkopplung mit der nationalen Ebene. Parlamente – das gilt auch für das EP – entwickeln Stärke aber nur dann, wenn sie starken Rückhalt im Wahlvolk haben. Starke europäische Parteien würden deshalb legitimitätssteigernd wirken und so die Stellung des EP im Institutionengefüge der EU verbessern.» (Seite 191)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erklärt Ratsbeschluß zum Rahmenabkommen über Bananen mit Costa Rica, Kolumbien, Nicaragua und Venezuela teilweise für nichtig
In dem Verfahren Deutschland gegen Rat (Rs. C-122/95) kommt der EuGH deshalb zum Ergebnis der Teilnichtigkeit, weil bestimmte Gruppen von Bananen-Importeuren durch das in dem Rahmenabkommen geschaffene Ausfuhrlizenzsystem gegenüber anderen Gruppen von Marktbeteiligten benachteiligt werden. (Seite 197, 204)
Generalanwalt Michael B. Elmer war in seinen Schlußanträgen anders als der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, die Klage wäre uneingeschränkt abzuweisen. Zum Kern seiner Argumentation gehört die, im wesentlichen auch vom EuGH geteilte, Einschätzung politischer und unternehmerischer Risiken: «Das Gemeinschaftsrecht schützt also den Marktbeteiligten nicht vor möglichen negativen Auswirkungen der politischen Beziehungen der Gemeinschaft mit Drittländern, die im übrigen schwer von anderen allgemeinen betrieblichen Risiken abzugrenzen sind. Der entgegengesetzte Standpunkt würde es der Gemeinschaft auch außerordentlich erschweren, handelspolitische Maßnahmen zu treffen.» (Seite 197)
EuGH erklärt Bananen-Ergänzungs-VO Nr. 478/95 der Kommission teilweise für nichtig
Auf Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Hamburg in den Verfahren T. Port GmbH &38; Co. gegen Hauptzollamt Hamburg-Jonas (verb. Rs. C-364/95 und C-365/95) gelangt der EuGH auch hier zu dem Ergebnis, daß bestimmte Gruppen von Importeuren bei der Einfuhr von Bananen aus Kolumbien, Costa Rica und Nicaragua durch das System der Ausfuhrlizenzen diskriminiert werden. (Seite 210, 213)
Generalanwalt Michael B. Elmer gewinnt in seinen Schlußanträgen anders als der Gerichtshof die Überzeugung, es sei im Lichte des Vorlagebeschlusses nichts zutage getreten, was die Gültigkeit der Verordnung in Frage stellen könnte. (Seite 210)
Siehe auch die kritische Kommentierung von Theodor Schilling, Eigentum und Marktordnung nach Gemeinschafts- und nach deutschem Recht, S. 177 ff. (182-184).
EuGH wertet Nichtanrechnung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Beschäftigungszeiten im öffentlichen Dienst als diskriminierend
Der griechischen Fachärztin Kalliope Schöning-Kougebetopoulou war im öffentlichen Dienst der Freien und Hansestadt Hamburg ihre vorherige knapp sechsjährige Beschäftigung im öffentlichen Dienst Griechenlands nicht angerechnet worden.
In dem Urteil heißt es: «Eine Bestimmung eines Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst eines Mitgliedstaats, die einen Zeitaufstieg nach achtjähriger Tätigkeit in einer bestimmten Vergütungsgruppe dieses Tarifvertrags vorsieht, wobei Beschäftigungszeiten außer Betracht bleiben, die zuvor in einem vergleichbaren Betätigungsfeld im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind, ist gemäß Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612/68 von Rechts wegen nichtig, soweit sie für Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen vorsieht oder zuläßt.»
Die Konsequenz daraus lautet: «Das nationale Gericht hat in einem solchen Fall auf die Mitglieder der durch diese Diskriminierung benachteiligten Gruppe die gleiche Regelung anzuwenden wie auf die übrigen Arbeitnehmer, ohne die Beseitigung dieser Bestimmung durch Tarifverhandlungen oder ein anderes Verfahren verlangen oder abwarten zu müssen.» (Seite 218)
EuGH qualifiziert gesetzliche Nichtanrechnung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Beschäftigungszeiten im öffentlichen Dienst Griechenlands als Vertragsverletzung
«Da die Griechische Republik keinen weiteren Gesichtspunkt angeführt hat, der geeignet wäre, die von der Kommission beanstandete Diskriminierung der Wanderarbeitnehmer objektiv zu rechtfertigen, ist festzustellen, daß sie gegen ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere aus Artikel 48 EG-Vertrag und aus Artikel 7 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68, verstoßen hat, indem sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis bei der Gewährung von Dienstalterszulagen und der tariflichen Einstufung eines Arbeitnehmers im griechischen öffentlichen Dienst die Berücksichtigung von Dienstzeiten in der öffentlichen Verwaltung eines anderen Mitgliedstaats allein deshalb ausschließt, weil diese Dienstzeiten nicht in der nationalen öffentlichen Verwaltung zurückgelegt worden sind.» (Seite 221)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, stuft Notariatskommission in Graubünden als Aufsichts- und Disziplinarbehörde nicht als unabhängiges Gericht i.S.v. Art. 6 EMRK ein
«[Demgegenüber] hat die Bündner Notariatskommission generelle und umfassende Aufsichtsbefugnisse; sie entscheidet über die Berufszulassung der Notare, prüft von Amtes wegen deren allgemeine Berufsausübung, führt Inspektionen durch und beschliesst allenfalls die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, das sie selber durchführt und mit einem Disziplinarentscheid abschliesst. Eine Behörde mit solchen Aufgaben und Befugnissen ähnelt funktionell eher einer Verwaltungsbehörde als einer gerichtlichen Instanz.»
Der strittige Entscheid, mit dem die Notariatskommission dem Bf. das Notariatspatent für die Dauer von zwei Jahren entzog, wird vom BGer bis zur Einrichtung einer Rechtsmittelinstanz einstweilen suspendiert. (Seite 223)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt Gegendarstellungspflicht auf der Titelseite bei erfundenen Presse-Geschichten als verfassungskonform
In den zivilrechtlichen Ausgangsfällen hatten sich Prinzession Caroline von Monaco bzw. die Schwimmerin Franziska van Almsick gegen angedichtete Heiratsabsichten erfolgreich gewehrt. Die Verfassungsbeschwerden der Verlage von „Das Neue Blatt“ und „Das Neue Schnell und Aktuell“ werden als unbegründet zurückgewiesen. Das BVerfG stellt fest:
«Das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) verlangt nicht, daß die Titelseite von Presseerzeugnissen von Gegendarstellungen oder Richtigstellungen freigehalten wird. (…)
Der Presse ist es nicht verwehrt, nach sorgfältiger Recherche auch über Vorgänge oder Umstände zu berichten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mit Sicherheit feststeht. Die Pflicht, Tatsachenbehauptungen zu berichtigen, die sich als unwahr erwiesen haben und das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Betroffenen fortwirkend beeinträchtigen, schränkt die Pressefreiheit nicht unangemessen ein.» (Seite 227)
BVerfG verwirft Verfassungsbeschwerden gegen Saarländische Pressegesetz-Novelle wegen Nichterschöpfung des Rechtsweges als unzulässig
«Der Verweis auf die fachgerichtliche Klärung ist den Beschwerdeführern auch zumutbar. Die verhaltenssteuernde Wirkung, die von den novellierten Teilen des Pressegesetzes ausgeht, erscheint jedenfalls nicht derart gewichtig, daß sie eine Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts rechtfertigen würde. Daß die Beschwerdeführer Meldungen, die ihnen aus publizistischen Gründen mitteilenswert erscheinen, allein aus Furcht vor dem verschärften Gegendarstellungsrecht unterlassen, ist nicht anzunehmen. Daß sie die neue Rechtslage möglicherweise bei Aufmachung und Plazierung von Meldungen berücksichtigen, bei denen sie mit einem Gegendarstellungsverlangen rechnen, schränkt die Redaktionsarbeit jedenfalls nicht in einem solchen Maß ein, daß ein Verweis auf den Zivilrechtsweg unzumutbar wäre. Das Risiko einer zivilgerichtlichen Verurteilung haben die Beschwerdeführer zu tragen.» (Seite 236)
BVerfG unterstreicht Satire-Risiko in einschlägiger Fernseh-Talk-Show
Der Moderator hatte die obsiegende Klägerin des Ausgangsverfahrens, Prinzessin Erna von Sachsen unter Anspielung auf ihre frühere Beschäftigung als Numismatikerin als „Münzen-Erna“ apostrophiert. Er war deshalb vom Landgericht Aurich zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von DM 3.000,- verurteilt worden. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte vor der 1. Kammer des Ersten Senats Erfolg. (Seite 240)
BVerfG wertet strafrechtliche Verurteilung als besonders schweren Nachteil i.S.d. § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG
«Für die Frage, ob eine strafgerichtliche Verurteilung für einen Beschwerdeführer existentielle Bedeutung im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG hat, kommt es… in erster Linie auf das im Schuldspruch konkretisierte sozial-ethische Unwerturteil über Tat und Täter an. Demgegenüber können die an den Schuldspruch geknüpften Rechtsfolgen im Einzelfall mehr oder minder großes Gewicht haben.» (Seite 242)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, verurteilt die Ermordung des Präsidenten des Ständigen Komitees zum Schutz der Menschenrechte in Kolumbien Jesús María Valle Jaramillo
Angesichts der hohen Zahl von Mordopfern unter den Menschenrechtsvertretern in Kolumbien fordert das EP Maßnahmen gegen die offenbar systematische Straflosigkeit von Militärangehörigen, die des Mordes verdächtig sind. (Seite 243)